Warum die Republik Europa keine Lösung ist

Dass die EU nicht so bleiben kann wie sie ist, ist zumindest in der Linken inzwischen Gemeingut. Gerade Linksliberale und unser Reformerlager propagieren die Republik Europa. Grund genug für Jakob Migenda, das Konzept einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Schon seit den 2010er Jahren geistert die Idee der Republik Europa als einen neuen Weg jenseits von scheinbar eingefahrener EU-Kritik und dem Glauben an eine Reformierbarkeit der EU immer wieder durch den politischen Diskurs. Wirklich Form nahm die Idee aber erst mit Ulrike Guérots Buch Warum Europa eine Republik werden muss an. Seither vertreten sie und ihre Anhängerinnen und Anhänger das Konzept nicht zuletzt im Thinktank European Democracy Lab, das vor allem durch hippes Design und gute Vernetzung im liberalen Politikberatungs- und Wissenschaftsbetrieb auffällt. Das Quasi-Manifest bleibt dabei das Buch der Professorin an der Donau-Universität Krems, die auch schon für den damaligen außenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion Karl Lammers und den German Marshal Found arbeitete.

Grundsätzlich leuchtet ihre Problembeschreibung der heutigen EU erst einmal ein. Guérot konstatiert, dass die EU an einem grundsätzlichen Demokratiedefizit, fehlender sozialer Gleichheit und überbordendem Nationalismus leidet. Stattdessen brauche es eine Gesellschaft, die am Gemeinwohl orientiert ist und in der die Souveränität bei den Bürgern liegt. Die Lösung kann für sie nicht in einer reformierten EU, die sich weiter auf den Zusammenschluss souveräner Nationalstaaten stützt oder in einem völligen Zurück zum Nationalstaat liegen. Der Ausweg könne nur in der – wie sie selbst betont – utopischen neugegründeten Republik Europa liegen, die ihre Legitimation direkt aus der Volkssouveränität zieht.

Hier fängt schon das grundsätzliche Problem von Guérots Argumentation an, ihr Konzept ist utopisch. Es hat praktisch keine Ansatzpunkte für reale Veränderungsperspektiven – kann also als wirklich politisches Projekt und nicht bloßes utopisches Gedankenexperiment wenig bieten. Deshalb betont sie selbst, dass nichts weniger als eine Revolution notwendig wäre. Doch ein revolutionäres Subjekt muss man leider vergeblich suchen, Freiheit und Gleichheit der europäischen Republik würden laut ihr stattdessen in neuartigen Arenen wie sozialen Netzwerken erkämpft.

Wie sieht die Republik Europa aus?

Doch nehmen wir einmal an, die digital vorangetriebene Revolution ohne revolutionäres Subjekt würde gelingen. Wie sieht die Republik Europa aus? Sie beruht auf dem formalen rechtlichen Gleichheitsgrundsatz, one (wo)man one vote. Alle Bürgerinnen und Bürger sollen mit gleichem Stimmrecht ein Abgeordnetenhaus als erste Kammer und einen Präsidenten wählen. Als zweite Kammer kommt ein Senat hinzu, der aus je zwei direkt gewählten Senatorinnen und Senatoren pro Region – die als kleinere Einheit die bestehenden Staaten ersetzen sollen – gebildet wird. Die Regierung ist von der politischen Mehrheit im Parlament abhängig. Sie sollen mehr oder weniger jene Politikfelder bestimmen, die heute bei den Nationalstaaten liegen, alles weitere soll an die Regionen delegiert werden. Seinen sozioökonomischen Unterbau soll das System in einheitlicher Besteuerung und sozialem Sicherungssystem bekommen.

Aus diesem Entwurf der Republik Europa leiten sich einige Fragen ab, die ich im Folgenden näher betrachten will: 1. Was heißt Gleichheit als wichtige Voraussetzung für die Republik Europa? 2. Wie soll die wirtschaftliche Grundlage der Republik aussehen um die Gleichheit zu garantieren? 3. Durch Größe, Vielsprachigkeit und fehlende gemeinsame europäische Öffentlichkeit ist die europäische Politik heute kaum demokratisch kontrollierbar, wie begegnet Guérot diesem Problem? und 4. Welche Rolle spielen die Regionen?

Republikluft macht gleich?

Guérot konstatiert, dass in der jetzigen EU Gleichheit weder politisch-rechtlich, noch sozial gegeben ist. Für eine gemeinwohlorientierte Republik sei eine relativ starke Gleichheit allerdings notwendig. In einer ungleichen und gespaltenen Gesellschaft kann es nur viele im Widerspruch zueinander stehende Willen geben. Hier ist ihr von einem sozialistischen Standpunkt aus durchaus beizupflichten: zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten, zwischen Eingeschlossenen und Ausgeschlossenen, kann es kein gemeinsames Interesse geben.

An genau diesem Punkt tappt Guérot jedoch sofort in die liberale Falle. Gleichheit ist für sie mit Chancengleichheit weitestgehend erfüllt. Soziale Gleichheit gibt es für sie lediglich als Abfederung schlimmster Auswüchse des Kapitalismus in Gestalt eines gleichen Zugangs zu Sozialversicherungen und nicht näher spezifizierten sozialen Rechten. Weitergehende soziale Gleichheit wie die nötige Abschaffung oder zumindest deutliche Begrenzung der Klassenunterschiede und daraus resultierender Klassenmacht fasst sie gar nicht ins Auge. Damit argumentiert sie aber – ganz im Gegensatz zum eigenen Anspruch – überhaupt nicht republikanisch, sondern ganz liberal. In Bezug auf höhere Gleichheit ist das Konzept der Republik Europa gegenüber dem Nationalstaat also keineswegs ein Fortschritt, sondern höchstens ein auf der Stelle tappen.

It’s the economy stupid!

Diese Probleme setzen sich auf dem wirtschaftlichen Feld fort. Auch hier trägt Guérot den Anspruch der Gemeinwohlbindung vor sich her. Doch außer ein paar warmen Worten wie dem Aufruf zu mehr genossenschaftlichem und regionalem Produzieren oder einer vagen Befürwortung eines Bedingungslosen Grundeinkommens hat sie eigentlich nichts zu bieten, was politökonomisch ein neues Europa begründen könnte.

Einen Lichtblick gegenüber der jetzigen EU stellt hier lediglich ihre Zielsetzungen eines harmonisierten Steuer- und Sozialsystems dar. Womit das jetzige kaputt konkurrieren der Europäischen Staaten beendet würde und eine reale politökonomische Entscheidungsmöglichkeit auf europäischer Ebene bestünde. Eine offene Frage ist natürlich die konkrete Steuerung angesichts starker ökonomischer Ungleichheiten.

Größe und Demokratie

Wie kann die Regierung eines so großen und sprachlich vielfältigem Gebiet wie Europa effektiv demokratisch von den Staatsbürgern kontrolliert werden? Diese Frage stellt sich heute in der EU und wird sich auch in einem als Republik verfassten Europa weiter stellen.

Das politische System der Republik Europa ist rein parlamentarisch. Damit trägt es auch die Probleme der repräsentativen Demokratie in sich: Die Bindung der politischen Entscheidungen an die Volkssouveränität ist sehr schwach, da sie nur durch alle vier bis fünf Jahre stattfindende Wahlen hergestellt wird. In der Zwischenzeit ist der Kontakt mit Lobbyistinnen und Lobbyisten und den Interessen des Kapitals deutlich größer als mit den Wählerinnen und Wähler und ihren Interessen. Durch die noch größere Entfernung zu Brüssel potenziert sich dieses Problem notwendigerweise in Europa, egal wie es verfasst ist. Um demokratische Kontrolle zu ermöglichen sind also Gegenmittel notwendig.

Die von Guérot vorgeschlagenen Maßnahmen sind aber nicht nur relativ unwirksam, sondern auch im Kern elitär und antidemokratisch. Sie schlägt Methoden wie Liquid-democracy, deliberative social-media-Plattformen oder Hackathons vor um den Bürgerwillen jenseits der Wahlen Geltung zu verschaffen. Der Gebrauch dieser Mittel setzen jedoch ein gewisses technisches Grundverständnis und hohes kulturelles Kapital voraus. Menschen ohne Englischkenntnisse, mit wenig Zeit neben Beruf und/oder Care-Arbeit und Nicht-Digital-Natives, werden also von der demokratischen Partizipation weitestgehend ausgeschlossen. Machtinstrumenten, die sie nutzen können, insbesondere Parteien und Plebisziten steht Guérot hingegen äußerst kritisch und teils sogar mit liberaler Angst vor der angeblichen Gefahr des Mobs gegenüber. Guérot feiert die digitalen Beteiligungsformate als „Pop Demokratie“. Doch in Wahrheit wäre es ein durch und durch elitärer Versuch einer zunehmend auch von Abstieg und fehlender Partizipationsmöglichkeit betroffenen hoch gebildeten polyglotten jungen akademischen Mittelschicht ihren Machtanteil in der Gesellschaft zu behaupten. Die Teile der Arbeiterinnenklasse, die diese Möglichkeiten nicht haben, werden keinen Moment mitgedacht.

Die Nation ist tot, es lebe die Region!

Stellt sich zu guter Letzt noch die Frage, was es mit den Regionen auf sich hat, die die Republik bilden sollen und damit die Nationalstaaten als Träger ersetzen sollen. Guérot geht davon aus, dass sich die Menschen in aller erster Linie mit ihrer Region und weniger mit der Nation identifizieren – wieso das so ist und ob es wirklich so ist, begründet sie nicht wirklich. Guérot meint Region, Nation und Europa seien eine Ebene zu viel. Außerdem trage der Nationalstaat zu viel alten Ballast mit sich herum und würde die Demütigung sich einer Republik unterzuordnen und nicht mehr Souverän zu sein, nicht verkraften. Deshalb müssten die Staaten abgeschafft werden und durch etwa gleich große ca. 7 bis 15 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner umfassende „traditionelle Kulturregionen“ ersetzt werden.

Ähnlich große Regionen mögen einen Vorteil für eine gewisse Gleichheit der Wahlen zum Senat und eine relativ praktische Verwaltungsgröße haben, aber eine wirkliche qualitative Verbesserung stellen auch sie nicht her. Sie werfen sogar zusätzliche Folgeprobleme auf: Was passiert mit den immerhin 12 von 28 Ländern der heutigen EU die weniger als 7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner haben? Inwiefern verbessert sich die demokratische Partizipationsmöglichkeit für Slowenen, wenn sie nicht einmal mehr eine politische Ebene haben in der die meisten von ihnen die gleiche Muttersprache haben, sondern in einer Region eine kleine Minderheit sind? Wie sollen die neuen Regionen bestimmt und abgegrenzt werden? Wer entscheidet über die Begrenzungen und würde der Streit um die Begrenzung nicht zu neuen enormen ethnisch-kulturellen Konflikten führen und so Klassenauseinandersetzungen überlagern? Und schließlich, was spricht eigentlich dagegen, eine mittlere politische Ebene mit gleicher Landessprache beizubehalten? Schließlich gibt es eine Menge Angelegenheiten, die für die regionale Ebene zu groß und für die europäische Ebene zu klein wären.

Die Republik Europa wäre gewiss kein Rückschritt gegenüber der jetzigen EU, aber auch keine grundlegende Verbesserung. Eine wirkliche demokratische und sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft sieht definitiv anders aus. Beschäftigen wir uns lieber mit wirklichen Verbesserungen, statt Unmengen an Arbeit zu investieren um auf der Stelle zu treten.

Jakob Migenda wohnt in Darmstadt, er ist Geschäftsführer der SL und Bundessprecher der linksjugend [’solid].

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