Solingen: Der moralische Tiefpunkt der politischen Klasse

Die Messerstecherei auf dem Stadtfest in Solingen hat die politische Debatte aufgeladen wie selten zuvor. Dass dies in zeitlicher Nähe zu Landtagswahlen geschieht, bei denen sich schwierige Regierungskonstellationen abzeichnen, dürfte kein Zufall sein. Die Bereitschaft der politischen Klasse, in einer Dynamik aus Empathielosigkeit, Verbalradikalismus, Falschinformation und Lüge vom eigenen Versagen abzulenken, markiert dabei vor allem eines: den moralischen Tiefpunkt politischen Handelns. Für den elektoralen Erfolg werden Rechtsgrundsätze missachtet und gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt. 

Dabei war die Messerstecherei vor allem eines: furchtbar. Auf einem Stadtfest seine Mitmenschen mit einem Messer zu attackieren und dabei Tote und Verletzte in Kauf zu nehmen, muss als ein furchtbarer Gewaltakt verurteilt werden. 

Furchtbar aber war auch die „Sicherheitsdebatte“, die Politiker nahezu aller Parteien in den darauffolgenden Tagen der Gesellschaft aufzwangen. Dabei ging es vor allem um emotionsgetriebenen Populismus und weniger um ernstzunehmende Deeskalationsstrategien gerade auch im Hinblick auf die Gefahr durch den islamistischen Terror. Pauschale Verallgemeinerungen, rassistische Ressentiments, das Schüren von Verunsicherung, das Drängen auf neue Tabubrüche. Es war alles dabei. Einzig der Verweis auf „Messermänner und Kopftuchmädchen“ blieb aus. Dabei hätte er gut zum Niveau der aufgeheizten Debatte gepasst. Alice Weidel erntete vor einiger Zeit im Bundestag für diese Worte noch lautstarken Protest aller anderen Fraktionen. Heute ist die Empörungswelle von Regierung und Opposition nicht mehr sehr weit von Weidels Formulierung entfernt.

Auffallend in der aktuellen Debatte war: Die Bundesregierung ließ sich vom Extremismus der Mitte treiben. Ein Extremismus, für den Friedrich Merz mit gespielt wirkender Empörung den Takt vorgab. So verständigte sich die Ampel im Namen der Sicherheit innerhalb weniger Tage auf eine Verschärfung des Waffenrechts und auf Leistungskürzungen für Asylbewerber. Sie erweiterte die Befugnisse für die Sicherheitsbehörden und erleichterte Abschiebungen. 


Ebenso auffallend: Die Debatte rund um das Sicherheitsgesetz hielt immer neue Überbietungsversuche bereit. Unerträglich der Versuch von Merz, die Grenzen des Sag- und Durchführbaren nach rechts zu verschieben. Mit Blick auf Verschärfungen in der Migrationspolitik, forderte er Olaf Scholz sogar auf, die nationale Notlage zu erklären. Um Menschen an den Grenzen zurückweisen zu können, müsse man sich über europarechtliche Vereinbarungen hinwegsetzen, so sein Plädoyer.

Dabei schreckte er auch nicht vor offensichtlichen Lügen zurück: Es gäbe kein zweites Land auf der Welt, das auch nur annähernd, proportional zu seiner Größe, eine so große Zahl von Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan aufgenommen habe wie Deutschland, posaunte Merz herum. Eine Aussage, die dem Faktencheck nicht standhält.  Seit 2011 hat die Bundesrepublik 882.578 Menschen aus Syrien aufgenommen. Das entspricht einer Quote von 10,4 je 1.000 Einwohner. Dagegen steht die Türkei, die mit über 3.500.000 aufgenommenen Syrern die höchste absolute Zahl an syrischen Geflüchteten vorweist. Relativ zur Gesamtbevölkerung liegt der Libanon mit einer Quote von 140,3 deutlich vor Deutschland, ebenso wie Jordanien und Schweden. 

Ähnlich verhält es sich im Übrigen mit Menschen aus Afghanistan. Die Statistik gibt hier einen anderen Eindruck als den, den Merz zu erwecken versucht. Das wirft die Frage auf, ob er von seinem Team mit Falschinformationen ausgestattet wurde und diese ungeprüft verwendete oder ob er bewusst lügt, um die Stimmung anzuheizen. Beides wäre verwerflich und ein deutlicher Hinweis darauf, dass man Merz niemals die politische Verantwortung eines Landes anvertrauen sollte.

Man könnte jetzt einwenden: Merz sei in seinem populistischen Element gewesen. So kenne man ihn. Doch es war eben nicht nur Merz. Das Einschwenken auf eine besorgniserregende Law-and-Order-Debatte zog sich durch nahezu alle Parteien. Die ansonsten eher unbeholfen wirkende Saskia Esken beispielsweise rechtfertigte sich in der Sendung von Caren Miosga wortreich gegenüber Vorwürfen, nicht konsequent genug etwas für die Sicherheit getan zu haben: Wir haben doch im großen Stil abgeschoben, entgegnete sie perplex. Und während Olaf Scholz sich mit der Abschiebung von 28 Straftätern nach Afghanistan brüstete, redete sich seine Innenministerin Nancy Faeser mit dem Hinweis um Kopf und Kragen, die Taliban hätten zugesagt, den Abgeschobenen drohe weder Folter noch Tod. Das Führungspersonal der SPD hat offenbar nicht nur vergessen, dass die Partei über eineinhalb Jahrhunderte stolz für sich reklamierte, Schutzpatronin der Schwachen zu sein, sondern auch, dass ihr ehemaliger Parteivorsitzender Willy Brandt den deutschen Faschismus nur überlebte, weil ihm Norwegen Asyl und Schutz bot. 

Auch auf die CSU war Verlass: Sie rieb sich angesichts der zugespitzten politischen Debatte erfreut die Hände. So frohlockte CSU-Gruppenchef Alexander Dobrindt: „Offensichtlich werden jetzt Dinge möglich, die die Ampel bisher immer abgelehnt hat“, sagte er. „Wenn die Ampel jetzt einen Kurswechsel vollzieht und inhaltlich auf die Union zugeht, werden wir uns die Inhalte genau anschauen. Entscheidend bleibt für uns dabei, dass die Zahlen der illegalen Migration runter und die Abschiebezahlen rauf müssen.“

Die Grünen gaben die Abwägenden, schwenkten im Kern aber auf den Diskurs der Empörung ein. Sie forderten eine Konzentration auf die Bekämpfung des islamistischen Terrors, Investitionen in die Innere Sicherheit oder die bessere Ausstattung der Sicherheitsbehörden. Vor allem aber Vizekanzler Robert Habeck offenbarte, wo seine Partei stand: „Mörder, Islamisten, Vergewaltiger, Schwerkriminelle, die unseren Schutz missbrauchen, müssen das Land verlassen“, sagte der Vizekanzler. Natürlich forderte er zugleich, dass das Asylrecht unangetastet bleiben müsse, damit unbescholtene Menschen, Verfolgte sowie Opfer von Gewalt und Terror, die vor Islamisten geflohen seien, Schutz fänden. „Diesen Unterschied zu machen, ist wichtig“, sagte er und unterstrich damit das Stadium bürgerlicher Empathielosigkeit in der grünen Partei.

Denn Gewalttaten und Radikalisierungen vollziehen sich nicht im luftleeren Raum. Sie können Folge von Kriegs-, Verfolgungs- oder Fluchttraumata sein. Nicht ohne Grund fordern Flüchtlingsorganisationen seit Jahren psychologische Unterstützung als Baustein der Integration. Dass ein ungewisser Aufenthaltsstatus, eine rassistische Vergabepraxis auf dem Wohnungsmarkt, ein unbefriedigtes Bedürfnis nach Bildung, Arbeit und Entfaltung, eine immer wieder rassistisch geführte Debatte über Straftaten oder Bezahlkarten in der Öffentlichkeit oder eine wachsende Gefahr rassistischer Angriffe auf der Straße nicht nur eine erfolgreiche Integration behindern, sondern sich auch negativ auf den psychischen und physischen Gesundheitszustand auswirken können, ist kein Geheimnis. Und dass die Arroganz und Untätigkeit der Bundesregierung im Hinblick auf die Kollektivbestrafung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza durch die ultrarechte Netanyahu-Regierung Radikalisierungsprozesse bedingen können, ist keine abwegige These. Deshalb ist es auch nicht richtig, wenn Scholz sagt, das sogenannte Sicherheitspaket sei ein „klares Signal an Straftäter“.

Leider fordert auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) „eine Zeitenwende in der Flüchtlingspolitik“. Mit der Übertragung des Begriffs Zeitenwende auf den Bereich Migration und Zuwanderung diskreditiert das Bündnis seine ansonsten richtigen friedenspolitischen Positionen vollständig. Der Sechs-Punkte-Plan, den das Bündnis vorlegt, liest sich wie ein Katalog rechtspopulistischer Grausamkeiten. Die Schutzbedürftigkeit von abgelehnten Asylbewerbern wird negiert. Die fragwürdige Kategorie sogenannter sicherer Herkunftsstaaten, die zur Feststellung der Schutzbedürftigkeit herangezogen wird, wird nicht zur Kenntnis genommen. Hinzu kommen die Streichung von finanzieller Unterstützung und der konsequente Vollzug von angeordneten Abschiebungen. Olaf Scholz wird gar dafür kritisiert, dass er „Abschiebungen im großen Stil“ allenfalls angekündigt, aber nicht umgesetzt habe. 

Die unvermittelte Gleichsetzung des Rechts auf Asyl mit einem Gastrecht (Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt.) unterscheidet sich dabei nicht von der Sichtweise, die die Ampelparteien auf die Asylgesetzgebung haben. Deshalb kommt das BSW auch zu den selben Schlüssen wie etwa Scholz oder Habeck: „Wer eines Diebstahls oder gar eines Gewaltverbrechens überführt wird, kann nicht erwarten, dass der Steuerzahler weiter für Kost und Logis sorgt“, heißt es im Sechs-Punkte-Plan. Auch mit der Forderung von Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der EU und der Streichung von Entwicklungsgeldern, um die Bereitschaft zur Rücknahme von Geflüchteten zu erhöhen, reiht sich das BSW auf völlig unverantwortliche Weise in den verrohten Migrationsdiskurs ein.

Es ist bezeichnend für die tiefe Krise der repräsentativen Demokratie, dass sich die politische Klasse in Entrechtungsdebatten überbietet, während die Zivilgesellschaft auf die Einhaltung geltenden Rechts drängt. So kritisierte Pro Asyl nicht nur das sogenannte Sicherheitspaket, sondern auch, dass der Vorschlag von FDP-Chef Christian Lindner zur Kürzung von Asylleistungen „absehbar verfassungswidrig“ sei. Das Bundesverfassungsgericht habe klar festgestellt: Sozialleistungen dürften nicht aus vermeintlichen Abschreckungseffekten gestrichen oder willkürlich gekürzt werden. 

Amnesty International reagierte mit scharfer Kritik auf die Abschiebungen: „Menschenrechte haben wir alle – und niemand darf in ein Land abgeschoben werden, wo Folter droht“, sagte die Generalsekretärin der Organisation in Deutschland, Julia Duchrow. In Afghanistan sei niemand sicher. Außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen und Folter seien unter den Taliban an der Tagesordnung. 

Wenn sich diejenigen, die mit der politischen Führung des Landes beauftragt wurden, bereitwillig über ausgehandelte Rechtsrahmen hinwegsetzen und dadurch die Kontrollfunktion der Zivilgesellschaft neu herausgefordert wird, wirft diese Entwicklung viele Fragen auf. Denn dass die Verschärfung des Asylrechtes, die Missachtung rechtlicher Standards und die Leistungskürzungen nur bedingt etwas damit zu tun haben, dass die Bundesregierung nun ihren selbstlosen Kampf gegen Straftäter entdeckt hat, zeigt nicht nur die Wahl der falschen Mittel, sondern auch die eine oder andere öffentlich getätigte Äußerung. So forderte der hessische Innenminister Roman Poseck, perspektivisch müssten „auch Rückführungen von ausreisepflichtigen Syrern unabhängig von Straftaten möglich werden“.

Die Dynamik, die in der politischen Debatte seit Solingen zu beobachten ist, spiegelt die Bereitwilligkeit der politische Klasse wider, die wachsende Entfremdung zum Elektrorat durch populistische Versuchungen zu überwinden. Eine Strategie, die das Klima weiter nach rechts verschieben wird und die Frage nach sich zieht, wer die nächste gesellschaftliche Gruppe sein wird, bei der rechtliche Verabredungen missachtet und deren Leistungen gekürzt werden. Die politische Linke sollte zumindest in Erwägung ziehen, dass die aktuelle Debatte über die Streichung von Sozialleistungen für Geflüchtete zum Einfallstor für den Abbau des Sozialstaates werden könnte.

Widerspruch und Widersprüche – eine Kolumne von Ulrike Eifler

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