Seit dem 28. April findet in Kolumbien ein Generalstreik statt. Am Anfang richtete sich dieser Streik gegen ein Reformvorhaben der Regierung von Präsident Iván Duque, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Doch mittlerweile hat sich der Streik zu einer Rebellion entfacht, welche sich gegen die Ungerechtigkeiten der letzten Jahrzehnte durch die kolumbianische Politik richtet.
Die Steuerreform war Teil eines Reformpakets der Regierung von Iván Duque. Diese Steuerreform sah eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von sechs auf 19 Prozent vor, vor allem auf Lebensmittel und Güter des alltäglichen Bedarfs. Das hätte bedeutet, dass in einem Land, in dem der Mindestlohn bei 214 Euro im Monat liegt, viele Familien auf mindestens eine der drei wichtigen Mahlzeiten des Tages hätten verzichten müssen. Diese Steuerreform sollte die Kosten der Covid-19-Pandemie auf die Unter- und Mittelschicht abwälzen. Doch der Streik richtete sich nicht nur gegen die Reformen, sondern auch gegen die grassierende Korruption in Politik und Wirtschaft (zum Beispiel wurden Wahlkampagnen durch Gelder aus dem Drogenhandel finanziert) sowie gegen die unzähligen Massaker an Umweltaktivist*innen, sozialen Aktivist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und Gewerkschafter*innen. Kolumbien ist das Land, in dem die meisten Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen umgebracht werden. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags 2016 zwischen der FARC Guerilla (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) und der Regierung, der den 56 Jahre andauernden bewaffneten Konflikt beenden sollte, sind 1.177 Aktivist*innen getötet worden. Davon sind 272 ehemalige FARC-Kämpfer*innen, die den Friedensprozess mitgestaltet haben. Der Friedensprozess sah vor, wesentliche Konfliktursachen wie die ungleiche Landverteilung, die mangelnde politische Teilhabe und die Eindämmung der Drogenökonomie zu überwinden. Diese Ziele wurden fast gar nicht umgesetzt. Ein weiterer Grund des Streiks sind die unzähligen Massaker an der ländlichen Bevölkerung, insbesondere an den Angehörigen der indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften.
Der Streik begann am 28. April und verlief zunächst friedlich. Proteste in Kolumbien sind in der Regel sehr bunt und kulturell kreativ gestaltet. Gegen Ende der Proteste versuchte in verschiedenen Großstädten wie Bogota, Medellín und Cali, die Polizei die Demonstranten auseinander zu treiben, und schoss mit Tränengas und Gummigeschossen auf die teils friedlichen Demonstranten. Ab diesen Zeitpunkt nahm während der Streiks auch die Gewalt gegen die Demonstranten durch Polizei und Ordnungskräfte zu. Schon bereits in den ersten Tagen des Streiks kursierten Videos und Bilder in den sozialen Netzwerken, wie die Polizei, teils nachts, Jagd auf die Protestierenden machte und auf sie schoss, diese misshandelte oder willkürlich verhaftete. Dies war die Geburtsstunde des Hashtags #SOSCOLOMBIA, der sich zu einem Hilferuf der kolumbianischen Bevölkerung an die internationale Gemeinschaft entwickelte. Die Regierung versuchte alles zu zensieren, so wurden Videos, die die Brutalität der Polizei und deren Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD dokumentierten, vom Netz genommen oder gelöscht. So konnte vor allem dank der Hilfe der kolumbianischen Diaspora im Ausland und vielen, die sonst mitgeholfen haben, diese Zensur bekämpft werden. In den ersten Wochen waren 31 Personen von der Polizei getötet worden, 150 waren spurlos verschwunden und es gab zwölf sexuelle Übergriffe von Polizisten gegenüber Frauen. Zwei Fälle, die hier besonders zu nennen sind, ist einmal der Tod von Lucas Villa aus Pereira, der am 4. Mai von Polizisten in Zivil aus einem fahrenden Auto erschossen wurde. Ein anderer Fall, der berühmt wurde, war die Vergewaltigung von Allison Meléndez in Popayán durch vier ESMAD-Agenten. Die 17-Jährige beging daraufhin Selbstmord.
Die Regierung hat den Protest von Anfang an kriminalisiert und die Protestiereden als Vandalen und Terroristen bezeichnet. Natürlich haben sich in den Protesten Leute eingeschlichen, die die Lage ausnutzen und Geschäfte zerstörten und plünderten. Aber es gibt auch Videos, die beweisen, dass die Polizei die Proteste infiltriert, um für Chaos und Unruhe zu sorgen. Einige Sachen konnte der Streik dennoch erreichen: Am 3. Mai wurde schließlich die Steuerreform zurückgenommen und Finanzminister Alberto Carrasquilla trat einen Tag später zurück. Ein paar Tage später trat die Außenministerin zurück und eine Woche später wurde die Gesundheitsreform zurückgenommen. Diese Gesundheitsreform sah eine weitere Privatisierung des Gesundheitssystem vor, welches durch die Covid-19-Pandemie bereits angeschlagen war. Die Regierung versuchte, sich jetzt in der Politik von Zuckerbrot und Peitsche: Während sie versuchte, die Gemüter der Bevölkerung zu beruhigen, setzte sie gleichzeitig Polizei, ESMAD und sogar die Armee gegen die Protestierenden ein. In Cali, der drittgrößten Stadt des Landes, war der Widerstand gegen die Regierung am härtesten. Cali ist auch die Stadt, die während der Proteste die meisten Toten zu verzeichnen hatte (von den 31 Personen in den ersten Wochen, die bei den Protesten getötet wurden, waren 22 aus Cali). Cali wurde von der Hauptstadt des Salsa zur Hauptstadt des Widerstandes in Kolumbien.
Doch warum ist der Protest in Cali so hartnäckig? Zwischen 2019 und 2020 ist die Armut der Bevölkerung in Cali von 21,9 Prozent auf 36,9 Prozent gestiegen (in ganz Kolumbien liegt die Armutsquote bei 42 Prozent). Im gleichen Zeitraum stieg in der Stadt mit 2,2 Millionen Einwohnern die extreme Armut von 4,7 Prozent auf 13,3 Prozent. Im ersten Quartal lag die Arbeitslosenquote bei 19,3 Prozent, im Vergleich zu 15,5 Prozent in Kolumbien. Das sind 279.000 Menschen in Cali, die arbeitslos sind. In Cali gibt es 102.000 Jugendliche, die keine Jobmöglichkeiten und keinen Zugang zur höheren Bildung haben. Zwei von fünf Personen in Cali leben von weniger als 357.000 Pesos (80 Euro) im Monat. Viele Menschen erhalten bei den Protesten bessere Nahrung als zu Hause. Außerdem liegt Cali in einer strategisch wichtigen Region für die Wirtschaft und den Drogenhandel. Cali liegt zweieinhalb Stunden vom Containerhafen Buenaventura am Pazifik entfernt. Viele der Protestierenden in Cali, und darüber hinaus in den restlichen Teilen Kolumbiens, sind Jugendliche aus den ärmeren Vierteln, wie Siloé in Cali. Der Protest hat den Leben dieser Jugendlichen, die abseits der Kriminalität oft keine Perspektive sahen, eine Struktur gegeben. So gehen diese zu den Protestpunkten und helfen mit, indem sie Essen zubereiten oder in den medizinischen Stationen des Widerstands die Pfleger bei der Versorgung der Verletzen helfen.
Doch wie reagiert die Regierung? Sie militarisiert die Stadt und schickt die Armee gegen die Protestierenden. Als wäre dies nicht genug, hat sich neben Polizei, ESMAD und Armee ein weiterer Akteur in die Proteste eingemischt, der schon in der Vergangenheit für Angst und Schrecken in der Bevölkerung sorgte: der Paramilitarismus. Hier scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Es gab schon immer Proteste in Kolumbien und jedes Mal, wenn die Polizei oder die Armee den Protest nicht unterdrücken konnten, tauchten sogenannte „Bürgerwehren“ (Paramilitärs) auf, die den schmutzigen Teil der Repression übernehmen. Schon 1968 gab es ein Gesetz in Kolumbien, das 1991 abgeschafft wurde, welches die zivile Teilnahme an militärischen Verteidigungsaufgaben begünstigte. Dadurch entstanden diese Gruppen im Kampf gegen den Kommunismus, insbesondere gegen die Guerilla. Diese Gruppen scheuten auch nicht davor zurück, die ländliche Bevölkerung zu massakrieren und diese zu vertreiben. Sie wurden von Drogenhändlern, Unternehmen und dem Staatsapparat geduldet, finanziert und mitaufgebaut. Der größte Dachverband solcher Gruppen war die AUC (Autodefensas Unidas de Colombia), welche für den Tod von 96.000 Menschen verantwortlich ist. 2005 wurde die AUC mit der Ley de Justicia y Paz (Gesetz der Gerechtigkeit und des Friedens) demobilisiert. Doch die Strukturen blieben bestehen und tauchen jetzt wieder auf. Sie nennen sich „Gente de bien“ (Anständige Leute) und sind Angehörige der Oberschicht, die ihren Besitz „verteidigen“ wollen. Sie tragen nicht mehr die Camouflage-Uniformen der AUC, sondern weiße T-Shirts oder Polo-Hemden und Jeans. Das erste Mal tauchten sie am 9. Mai vor der Universidad del Valle in Cali auf und schossen auf eine Versammlung der Indigenen. Ein weiteres Markenzeichen sind ihre weißen Toyota-Jeeps.
Doch wie ist die aktuelle Lage? Mittlerweile dauert der Streik seit 44 Tagen an. Die Stadt Cali hat es geschafft, den Protest wieder neu zu entflammen. Die Polizei hat 71 Menschen getötet, 22 Frauen vergewaltigt und über 300 Menschen sind verschwunden. Einige dieser Verschwundenen tauchen langsam wieder auf – als Leichen im Rio Cauca (zweitgrößter Fluss in Kolumbien) oder zerstückelt in irgendwelchen Mülltonnen. Der Streik wird von einem sogenannten Streikkomitee vertreten, das immer wieder mit der Regierung verhandelt. Doch dieses Komitee repräsentiert nicht die Mehrzahl der Protestierenden, weil es sich aus älteren Männern und zwei Frauen zusammensetzt. Mittlerweile gibt es auch eine Anzeige vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen die Regierung und die Polizei- und Armeeführung. Am 08. Juni kam die Interamerikanische Menschenrechtskommission, um mit den Opfern und Angehörigen der Toten zu reden und die Lage einzuschätzen. Human Rights Watch hat am 9. Juni vor dem US-amerikanischen Kongress einen Bericht vorgelegt, der die Menschenrechtsverletzungen der Polizei auflistet.
Wie kann man den Protest von hier aus unterstützen? Man kann zum Beispiel die Videos der Menschenrechtsverletzungen durch Ordnungskräfte in den sozialen Netzwerken verbreiten. Da gibt es Seiten wie Colombia Informa, La Oreja Roja, La Direkta und Hektakombe, die die Videos hochladen. Wichtig ist es immer, wenn man die Videos teilt, den Hashtag #SOSCOLOMBIA und das Datum hinzuzufügen. Es gibt mittlerweile viele Demonstrationen, Kundgebungen und Mahnwachen, die von der kolumbianischen Diaspora in Deutschland organisiert werden. Da gibt es zum Beispiel Unidos por la Paz Alemania (Berlin), Colombia solidaria HH (Hamburg), Colombianos en Stuttgart (Stuttgart), Red Colombia Rhein-Main (Frankfurt/Main und Rhein-Main Gebiet) und viele andere Gruppierungen. Setzt euch einfach mit denen in Verbindung – sie werden sich freuen.
Von Bruno Mayer.
Quellen:
https://amerika21.de/analyse/250529/kolumbien-streik-congreso-de-los-pueblos
https://amerika21.de/2021/06/251297/cidh-kolumbien-menschenrechte
https://amerika21.de/2021/06/251104/kolumbien-bewaffnete-zivile-schiessen
https://amerika21.de/2021/06/251082/widerstand-erreicht-dekret-cali
https://amerika21.de/2021/06/251014/kolumbien-bachelet-zu-gewalt-cali
https://amerika21.de/2021/05/250625/kolumbien-menschenrechtslage
https://amerika21.de/2021/05/250545/jugend-kolumbien-protest
https://amerika21.de/2021/05/250505/kolumbien-streik-keine-annaeherung
https://amerika21.de/2021/05/250488/praesident-kolumbien-verbuendete-kritik
https://amerika21.de/2021/05/250284/polizei-uno-cali-kolumbien
https://amerika21.de/2021/05/250220/duque-nimmt-reform-zurueck-kolumbien
https://amerika21.de/2021/05/250174/streik-kolumbien-steuerrform
https://amerika21.de/2021/05/250473/zivilisten-schiessen-auf-indigene-cali
https://amerika21.de/2021/05/250350/ausnahmezustand-kolumbien-moeglich
https://amerika21.de/2021/05/250672/duque-krieg-streikkomitee-kolumbien
https://amerika21.de/2021/05/250867/jugendliche-hackhaus-kolumbien
https://amerika21.de/2021/06/251015/ausnahmezustand-duque-kolumbien
https://amerika21.de/blog/2021/04/249694/castano-brueder
https://amerika21.de/2021/04/249396/kolumbien-wayuu-aktivistin-getoetet
https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/wir-sind-muede-von-so-vielen-ungerechtigkeiten/