I.Die Klassenfrage nach 30 Jahren neoliberaler Arbeitsmarktzurichtung und sozialer Spaltungsexzesse mitreißend auf den Punkt zu bringen, ist eine hohe Kunst. Es braucht Botschaften, Personen und (mediale) Vermittlungsstrategien, die unmittelbare Verbindungen zwischen verschiedensten Erfahrungen und zu weit weg erscheinenden Zielen herstellen. Nicht unwichtiger ist das gemeinsame Nach-vorne-Denken sozialer Kämpfe, des aktiven Zusammenwirkens trotz mancher Unterschiede, Enttäuschungen und Widersprüche.
In diesem Sinne verstehe ich Klasse als eine vielschichtige Handlungsmacht, die heute nicht nur mit Abwehrkämpfen zu tun hat, sondern Zukunftsperspektiven in den Blick nimmt und selbstbewusst setzt: die gerechte Verteilung von Zeit, einen radikal um reproduktive Tätigkeiten wie Pflege- und Hausarbeit erweiterten Arbeitsbegriff sowie Gegenentwürfe zu einer Hartz-IV-Sozialgesetzgebung der Sanktionen, ausbeutbaren Nützlichkeitszwänge und GroKo-Vorstellungen von (wirtschaftsdienlicher, vielfach prekärer) ‚Vollbeschäftigung‘. Ob derartig weit gefasste Anliegen in diesen Zeiten durchdringen? Wir sollten es weiter mit langem Atem versuchen: von sich reden machen nicht durch inhaltliche Zugeständnisse an Konkurrenz- und Ausschlussdenken, sondern durch alltagsnahe, in der Breite diskutierbare, polarisierende Vorstöße, wie z.B. der öffentlichkeitswirksamen Forderung nach einem ticketlosen ÖPNV letztens.
Als linkes Angebot gegen den gesellschaftlichen Backlash reicht es nicht, einen leicht optimierten Status Quo oder eine ‚heile Welt‘ der 1970er verteidigen zu wollen, die für viele Frauen und gesellschaftliche Gruppen nicht ‚heile‘ war. Noch weniger kann es Aufgabe einer sozialistischen Linken sein, unter dem Druck rechten Agenda-Settings in den gängigen Sound des Gegeneinanderausspielens einzustimmen. Dieses Gegeneinander drückt sich etwa aus, wenn sogar ‚von links‘ auf den Knopf gedrückt wird, dass Zuwanderung administrativ begrenzt werden müsse; wenn die Skandalisierung der strukturellen Lohndiskriminierung von Frauen mehrheitlich den betroffenen Frauen überlassen wird; und in gewisser Weise auch, wenn zentrale Aufgaben wie z.B. Klimaschutzziele oder Minderheitenrechte in der Außendarstellung linker Schwerpunkte nachgeordnet werden, weil sie vermeintlich an den Interessen der Mehrheit vorbeigehen, ‚nicht anschlussfähig‘ oder ‚Lifestyle‘-Themen seien.
II. Beim Zusammendenken von Queerpolitik und Klassenfrage stehen wir oft noch an dem Punkt, überhaupt vermitteln zu müssen, dass queere Auseinandersetzungen nicht nur in Seminarräumen, Darkrooms, TV-Serien oder den Hipster-Quartieren der Großstädte stattfinden, sondern in Betrieben, Schulen, allen möglichen Privatsituationen und auf der Straße. Die von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*-, inter*- und queeren Menschen geführten Kämpfe gegen die auf (heterosexuelle) Männer und Frauen geeichte Geschlechterordnung sind trotz vieler Teilerfolge wie der ‚Ehe für alle‘ nicht entschieden, sondern überall real. Es geht nach wie vor um selbstbestimmtes Leben und Lieben. Die Anerkennung von Körpern, Identitäten und Begehren jenseits zweigeteilter Normzuweisungen. Es geht um die diskriminierungsfreie Lebbarkeit des Wissens, dass Geschlechterkategorien und sexuelle Identitäten nicht so klar und naturgegeben sind, wie sie von Geburt an vorausgesetzt und im Kapitalismus mit einigem Aufwand und sozialen Verwerfungen am Laufen gehalten werden. Es geht um Fragen von Klasse und einen Gerechtigkeitsaktivismus, der verbindet.
Dass kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse viel mit zweigeteilten Geschlechterkonstruktionen zu tun haben, ist längst von marxistischen Feministinnen herausgearbeitet worden und offensichtlich. Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen auf Grundlage einer geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung beträgt in Deutschland mehr als 20 Prozent. Es gibt eine niederländische Studie von Lydia Geijtenbeek und Erik Plug, die belegt, dass Transgender*-Menschen nach ihrer Angleichung an ein männliches Gender mehr verdienen als jene, die nach ihrer Transition als Frau definiert und bezahlt werden. Die Befürchtung, dass frauenpolitische Forderungen nach gleicher Bezahlung oder Repräsentation unter die Räder queerpolitischer Geschlechterdekonstruktionen geraten, übersieht also die in großen Teilen gemeinsame Ausgangslage und Stoßrichtung der Kämpfe.
Natürlich wäre wenig gewonnen, wenn feministische Kollektivinteressen durch eine Vielzahl der Geschlechterpositionen verschwinden. Aber stimmt überhaupt dieser vielbeschworene Gegensatz, dass Queerpolitik sich vor allem um hedonistischen Maskenball und vereinzelnde Identitätspolitiken und wenig um Ausbeutungsverhältnisse schert? Meine Sicht auf die Dinge ist, dass es in linken Zusammenhängen der Queerpolitik schon längst einen ‚materialistischen Turn‘ hin zu einer queerfeministischen Ökonomiekritik gibt und dass wir diesen zur Kenntnis nehmen und stark machen sollten. Im Übrigen kam auch die traditionelle Arbeiterbewegung nicht ohne die Anrufung von Identitäten hin (‚Proletarier aller Länder‘, ‚Arbeiter und Bauern‘). Und auf einem Nebenschauplatz neoliberaler Bedürfnissteuerung ist gerade interessant zu beobachten, wie kapitalistisches Gendermarketing extrem traditionelle Geschlechteridentitäten betont, wenn es klischeelastig zum Konsum von z.B. hellblauen oder rustikalen „Männer-Produkten“ und softeren/rosafarbenen Alternativen für Frauen und Mädchen anregt. (Und das Zeug wird gekauft!) Diesen Strategien eine Identitätspolitik des Nicht-Normativen entgegenzusetzen, kann durchaus ein antikapitalistischer Akt sein.
Fakt ist, die Produktion stereotyper Geschlechteridentitäten zur Sicherung alter Arbeitsteilungen und neu verwertbarer Zielgruppen geht munter voran, während die Anzahl der Personen, die sich offen nicht-binär verorten, zunimmt. Dabei zählen Arbeitnehmer*innen, die quer zu gängigen Geschlechterkategorien stehen, vermutlich eher zu den Verlierer*innen unserer gesellschaftlichen Ordnung. Wie der Bericht der unabhängigen Expert_innenkommission der Antidiskriminierungsstelle des Bundes „Gleiche Rechte – gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“ (2015) ausführt, werden „Frauen mit Behinderungen, von Rassismus betroffene Frauen, trans- und intergeschlechtliche Menschen sowie Männer, denen – etwa wegen ihrer Homosexualität – ‚Unmännlichkeit‘ unterstellt wird, überdurchschnittlich oft [in der Arbeitswelt] sexuell belästigt.“ Und weiter: „Überdurchschnittlich viele Trans*Personen sind arm. Studien zeigen, dass sich viele Trans*Menschen bei der Arbeitssuche (30%) oder im Arbeitsleben (23%) diskriminiert sehen.“
Gleichzeitig passieren im Spannungsfeld der ‚gender troubles‘ kleinere und bahnbrechende Fortschritte. Die strukturelle Schlechterstellung von ‚weiblich dominierten‘ Tätigkeiten des sog. reproduktiven Bereichs (Pflege, Gesundheit, Erziehung) erfährt derzeit so viel gesellschaftlichen Druck, dass grundlegende Verbesserungen bei Löhnen und Personalbemessung greifbarer erscheinen als in den Vorjahren. Es ist genau richtig und notwendig, dass wir als LINKE zusammen mit Gewerkschaften und ‚von unten‘ organisierten Krankenhausbündnissen unnachgiebig gegen den Pflegenotstand und für Care-Revolutionen streiten. Auf einer ganz anderen gesellschaftlichen Ebene hat das Bundesverfassungsgericht letztes Jahr entschieden, dass ein Personenstandsrecht nur für Männer und Frauen nicht verfassungsgemäß ist, und die Rechte von nicht-binären Menschen auf Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit endlich gewahrt werden müssen. Die emanzipatorische Umsetzung dieser Rechtsprechung ist kein Selbstläufer: Angesichts der Mehrheitsverschiebungen nach rechts wird darauf zu achten sein, dass es im Zuge der gesellschaftlichen Umsetzung nicht zu neuen Diskriminierungen, sondern zu angemessenen, mit Interessenverbänden diskutierten Konsequenzen u.a. beim Personenstandsrecht und Transsexuellengesetz kommt.
III. Die konservativen Beharrungskräfte gegen Geschlechtergerechtigkeit sind weiter groß. Dass Errungenschaften wieder scharf in Frage gestellt oder für reaktionäre Anliegen instrumentalisiert werden, zeigt etwa die antifeministische Blockbildung von sog. Lebensschutz-Bewegung bis hin zu den sog. „Frauenmärschen“ aus dem Umfeld und Geist der AfD. Die Aufregung um linken „Genderismus“ ist ein irrsinniger Hegemoniegewinn von rechts. Umgekehrt ist er auch Reaktion auf emanzipatorische Frauenkämpfe, die einen enormen Druck gegen den patriarchalen Mist entfalten und die Selbstverständlichkeit traditioneller Geschlechterhierarchien und Privilegienverteilung radikal in Frage stellen. Frauen* mobilisieren ums Ganze zum Generalstreik (zuletzt in Spanien, für 2019 auch in Deutschland, mindestens in Berlin). Sie torpedieren den Strafrechtsparagrafen 219a, bis er weg ist. Sie setzen mit Internet-Kampagnen wie #MeToo ein virales Stoppschild gegen sexualisierte Gewalt und Belästigung und gehören zu den widerständigsten Gegner*innen autoritärer Regierungen wie in den USA, der Türkei oder Polen. Diese Kämpfe müssen in der Linken und LINKEN ernster genommen werden, statt unter dem Druck sozialer Spaltungen und rechter Diskursgewinne mit alten Nebenwiderspruchs-Argumenten bei der linken Schwerpunkt-, Strategien- und Themensetzung nachgeordnet oder verschwiegen zu werden.
Natürlich müssen wir uns auch die Frage stellen, warum kulturelle Kämpfe um Anerkennung von z.B. Frauen- und Minderheitenrechten dem Augenschein nach erfolgreicher waren als ökonomische Kämpfe um Umverteilung, Eigentumsverhältnisse und Lohngerechtigkeit. Wir hatten diese Debatte z.B. nach der Trump-Wahl. Eine gründliche Analyse des „progressiven Neoliberalismus“ lieferte seinerzeit die Philosophin Nancy Fraser, die argumentiert hat, wie es in Europa unter der Regie von Blairs New Labour und in den USA im politischen Fahrwasser der Clintons bei fortschrittlicher Attitüde zu heftigen Deregulierungen des Arbeitsmarkts, Börsen-Gefälligkeiten und einer massiven Schlechterstellung vieler Beschäftigter kam.
Eine derartige Klassenpolitik von oben, die sich auf der hegemonialen Erscheinungsebene bunt, feministisch und weltoffen präsentierte, während sie ‚an der Basis‘ soziale Zumutungen und eine Prekarisierung männlich geprägter Industriearbeit betrieb, hatte bekanntermaßen fatalste Folgen, deren Ursachen zurückgedrängt gehören. Ehrlicherweise muss aber bei dieser Erzählung dazugesagt werden, dass sie nicht auf halber Strecke stehen bleiben darf. Grob gesagt: Der zunehmende Lohndruck auch auf männliche Beschäftigte ist ja keine Folge oder Kehrseite von linkem Feminismus (der tatsächlich weitaus seltener zum Tragen kommt als eine Frauenpolitik, die ohne jede Klassenorientierung eher bessersituierten Frauen zu mehr Macht, Emanzipation und Partizipation verhilft). Sie ist Folge eines neoliberalen Kapitalismus, der Reichtum von unten nach oben verteilt (und verstärkt Frauen in wirtschaftsprofitable Verwertungsprozesse einbezieht, mehrheitlich zu schlechteren Lohn- und Arbeitsbedingungen). Mit anderen Worten: Wenn wir aufgrund neoliberaler Politiken, die Feminismus nur für wenige propagieren, den Kurzschluss teilen, dass männliche Arbeitersubjekte und Feminist*innen auf unterschiedlichen Seiten stehen, dann sind wir neoliberalen Vereinnahmungs-, Spaltungs- und Entpolitisierungslogiken ganz schön auf den Leim gegangen.
IV. Es kommt auf einen universellen, sozialistischen Feminismus/Queer-Feminismus und den verbindenden Klassenstandpunkt an; auf eine breit organisierte Linke, das Mitdenken von Differenzen und eine politische Praxis, die solidarische Strategien, die Skandalisierung maßloser ökonomischer Ungerechtigkeiten und plurale Interessen stark macht. Dass Kämpfe männlicher Arbeiter selbstverständlich die gleichen sein können wie die von queeren Akteur*innen, zeigt z.B. der Film ‚Pride‘, der nach wahren Begebenheiten von der Gruppe ‚Lesbians and Gays Support The Miners‘ handelt, die sich 1984 mit streikenden Bergleuten solidarisierte. Und dass Arbeitskämpfe auch um die Verteilung von geschlechtshierarchisch geprägten Tätigkeiten und Zeitressourcen geführt werden müssen, hatte der IG-Metall-Streik Anfang 2018 ziemlich weitgehend verstanden. Auch, wenn die Verhandlungsergebnisse (wie so oft) nicht zufriedenstellen können: ein Anfang ist gemacht.
Als kapitalistisches Produktions- und Herrschaftsverhältnis ist das Geschlechterverhältnis die Grundlage dafür, Frauen* den Platz im (unbezahlten, nicht-öffentlichen) reproduktiven Bereich zuzuweisen. Mit der binären Geschlechternorm geht eine Arbeitsteilung einher, die (männliche) Lohnarbeit in den Vordergrund des Arbeitsbegriffs stellt, während sie reproduktive Tätigkeiten (die überwiegend von Frauen ausgeübt werden) als natürliche Ressource voraussetzt, die billig oder unentgeltlich zu haben ist. Geschlechtsspezifische Ausbeutungsmuster sind wiederum mit rassistischen Arbeitsteilungen verschränkt, was sich in Deutschland etwa in der Zunahme haushaltsnaher Dienstleistungen ausdrückt, die bei höherer Erwerbsbeteiligung von Frauen vielfach (schlecht bezahlte) Migrant*innen ausführen.
Diese abgestuften Benachteiligungsstrukturen schon am Ansatz patriarchaler und/oder rassistischer Rollenzuschreibungen anzugreifen, ist eine vieldiskutierte, aber praktisch noch gar nicht richtig in Angriff genommene Aufgabe. Der Kampf gegen die Zwänge der Geschlechternormen hat ein explosives Potenzial gegen Spaltung und Vereinzelung, rechten Hass und kapitalistische Ausbeutungsmuster. Der Feminismus wird eher durch reaktionäre Instrumentalisierungen geschwächt, als durch eine Queerpolitik, die dagegen angeht, dass staatliche Institutionen oder kapitalistische Verwertungsstrategien vorschreiben, wer und wie ‚die Frauen‘ sind. Entscheidend ist jetzt, Widersprüche produktiv zu machen, soziale Kämpfe zu bündeln und linke Themen auf neue Spitzen zu treiben. Das Auffächern von Haupt- und Nebenwidersprüchen kostet Kraft und verkürzt die Klassenfrage. Solidarische, verbindende Strategien vorausgesetzt, mache ich mir um die gesellschaftliche ‚Anschlussfähigkeit‘ unserer Kämpfe keine Sorgen.