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Nordmazedonien – ein fiktiver Staat?

Die bulgarische Regierung möchte die Aufnahmegespräche zwischen Europäischer Union und Nordmazedonien stoppen mit der Begründung, Mazedonien sei keine authentische Nation, sondern eine kommunistische Erfindung.

Mal ist Mazedonien nur eine griechische Provinz, ein anderes Mal sind Mazedonier eigentlich Serben mit komischem Dialekt und manchmal sind sie Bulgaren und ihre Nation fiktiv. Im August 2020 versendete die bulgarische Regierung ein Memorandum an die weiteren 26 EU-Staaten, was die bulgarische Haltung zu historischen Fragen bezüglich Nordmazedoniens erklärt. Im Mittelpunkt des sechsseitigen Papiers stehen dabei „ethnische und sprachliche Eingriffe“, die angeblich in den letzten 70 Jahren in Nordmazedonien stattgefunden haben. Im Papier heißt es, dass der EU-Erweiterungsprozess nicht die ethnischen und linguistischen Eingriffe vergangener autoritärer Regime legitimieren darf. Die slawischen Bewohner Nordmazedoniens seien Bulgaren und sprechen bulgarisch. Lediglich das sozialistische Jugoslawien hätte ihnen eine „mazedonische“ Identität und Sprache aufgezwungen. Eine Einschätzung, die in Skopje auf massiven Widerspruch trifft. Das Papier gibt dabei die anerkannte bulgarische Geschichtsauffassung wieder und verweigert das Selbstbestimmungsrecht Nordmazedoniens.

Mazedonien – Spielball imperialer Interessen

Die Frage nach der „mazedonischen Nation“ ist eine historisch spannende und relevante, um die Geschichte des Balkans zu verstehen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die vornehmend ländliche Bevölkerung Mazedoniens Spielball imperialer Interessen von Bulgarien, Serbien und Griechenland. Im Osmanischen Reich war die Nationenfrage der lokalen Bevölkerung keine zentrale und so gibt es keine gesicherten Daten über die Selbstbezeichnung im heutigen Nordmazedonien. Dennoch ist bekannt, dass sich bereits zu dieser Zeit Menschen als Mazedonier bezeichneten. Bei einem Großteil der bäuerlichen Bevölkerung Mazedoniens war die Frage nach nationaler Klassifikation dennoch irrelevant. Auf dem Gebiet des heutigen Nordmazedoniens lebten zu dieser Zeit sowohl slawisch- wie griechischsprachige Christen, türkisch- und albanischsprachige Muslime, Juden, Walachen und Roma.[i] In Skopska Crna Gora beschrieben sich die Bauern mal als Bulgaren und mal als Serben, je nachdem, wie die Frage formuliert war.[ii]

Nationale Verwirrungen

Die nationale Verwirrung war in Nordmazedonien die größte auf dem Balken, aber sie war keine Ausnahme. Wer beispielsweise Ende des 19. Jahrhunderts kroatische Bauern nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit fragte, erhielt sehr unterschiedliche Antworten. Zwar war der Begriff „Kroate“ schon bekannt, wurde aber häufig durch regionale Kategorien ersetzt. Abhängig vom Wohnort bezeichnete man sich als „Slawonier“, „Dalmatiner“ oder „Istrianer“.[iii]

Der Startschuss für das mazedonische „Nation-Building“ war das Jahr 1893 mit der Gründung der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation, besser bekannt unter der Abkürzung VMRO. Deren Mitglieder betrachteten sich zunächst als Bulgaren, die das Ziel verfolgten, Mazedonien mit der Banschaft Bulgarien zu vereinigen. Ein Zwischenziel war es, einen autonomen Status für die Region Mazedonien und Thrakien im Osmanischen Reich zu erlangen. Die nationale Frage beschäftigte die VRMO jedoch länger und so gab es sowohl Tendenzen, alle Mazedonier unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu einem Staat zu vereinigen, als auch solche zur Bildung einer föderalistischen Fraktion, die eine Befreiung des gesamten Balkans und eine Balkan-Föderation anstrebte.

Die Balkankriege und ihre Folgen

Im Ersten Balkankrieg von 1912 führten Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland einen gemeinsamen Krieg gegen das Osmanische Reich und konnten dieses schlagen. Bulgarien war mit der Verteilung der Gebiete nicht einverstanden und es kam 1913 zum Zweiten Balkankrieg, bei welchem Serbien, Griechenland, Rumänien und das Osmanische Reich Bulgarien schlagen konnten. Die Region Ägais-Makedonien fiel an Griechenland und Vardar-Mazedonien (das heutige Nordmazedonien) an Serbien. Infolge der Balkankriege wurde das Osmanische Reich europaseits in die Grenzen der heutigen Türkei verdrängt.

In Folge des Ersten Weltkrieges verschwand mit Österreich-Ungarn die zweite imperiale Großmacht auf dem Balkan und das erste Jugoslawien entstand: das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. In diesem Staat fand sich auch das heutige Nordmazedonien wieder. Bei den ersten und einzigen freien Wahlen konnten die Kommunisten in Mazedonien ein sehr gutes Ergebnis holen, die sich schon damals für die Selbstbestimmung Mazedoniens einsetzten. In den 1930ern verwarfen die jugoslawischen Kommunisten die Idee der Balkan-Föderation zunächst, verstanden aber weiterhin die Mazedonier als eigenständige Nation und sahen ein geeintes mazedonisches Territorium als Teil des zukünftigen Jugoslawiens. In der VMRO gab es in der Nachkriegszeit einen Richtungsstreit und 1925 dann eine Spaltung in eine linke VMRO, die sich vom bulgarischen VMRO-Kurs absetzte, sowie eine rechte pro-bulgarische VMRO, die später auch den serbischen König Aleksander ermordete.

Faschistische Besatzung oder Befreiung?

Bulgarische Truppen besetzten das damalige Vardar-Mazedonien zwei Mal (1915 und 1941) und verordneten dort eine strenge Assimilierungspolitik. Diese Besatzungen beurteilt das bulgarische Memorandum als gemeinsame Geschichte, während sie die Befreiung vom Faschismus (die das bulgarische Zarentum im Zweiten Weltkrieg mitzuverantworten hatte) als ein „ethnisches und linguistisches Engineering eines autoritären Regimes“ charakterisiert. Die bulgarische Besetzung im Zweiten Weltkrieg wird in Nordmazedonien noch heute als faschistische Besetzung bezeichnet, während sie in der bulgarischen Geschichtsauffassung eine Befreiung Mazedoniens darstellt.

Das sozialistische Jugoslawien konnte sich im Zweiten Weltkrieg aus eigener Kraft befreien. Der Idee einer gemeinsamen Balkan-Föderation mit Bulgarien wurde durch den Bruch der jugoslawischen Kommunisten mit Stalin und der Parteinahme Bulgariens für diesen ein jähes Ende gesetzt. So bestand das sozialistische Jugoslawien am Ende aus sechs Republiken, eine davon hieß Mazedonien. Zwischen der jugoslawischen und der bulgarischen kommunistischen Partei gab es in der Folge häufiger Spannungen. In Titos Jugoslawien gab es dabei auch Repressionen gegen politische Aktivisten, die sich als Bulgaren bezeichneten. Eine Kritik daran ist notwendig. Die bulgarische Regierung schreit jedoch nach einer Rehabilitation der „Opfer des Kommunismus“ und vergisst dabei anscheinend, dass Bulgarien auch 45 Jahre von einer kommunistischen Partei regiert wurde, die weitaus repressiver gegen politische Gegner vorging, als es im sozialistischen Jugoslawien der Fall war.

Nordmazedonien – eine europäische Nation wie andere?

Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens erklärte auch Mazedonien seine Unabhängigkeit und hieß fortan „Former Yugoslav Republic of Macedonia (FYROM).“ Die Voranstellung, dass es sich um eine vormals jugoslawische Republik handelte, genügte Griechenland nicht. So gab es einen jahrelangen Namensstreit, der erst 2019 beigelegt wurde, als sich der Staat in Nordmazedonien umbenannte. Nun fordern bulgarische Politiker, dass die Mazedonier zugeben, Bulgaren zu sein und bulgarisch zu sprechen.

Mazedonien hat eine faszinierende Geschichte, die uns lehrt, wie sich vor Begründung der Nationalstaaten Menschen als alles Mögliche deklarieren konnten, ohne dass es für diese eine große Rolle spielte. Die „mazedonische Nation“ entstand dabei im Gegensatz zu anderen europäischen Nationen erst im 20. Jahrhundert. Nationalisten aller Länder werden dies zwar verneinen, aber keine Nation ist älter als 200 Jahre.

Ist die mazedonische Nation mit ihrer Geschichte also ein Konstrukt? Selbstverständlich ist sie es, wie Stefan Guzvica in einem brillanten Artikel analysiert. [iv] Genau wie die bulgarische, serbische, japanische oder äthiopische. Dementsprechend ist auch das bulgarische Memorandum nichts anderes als der Versuch einer Regionalmacht, seine Geschichtsauffassung anderen Staaten aufzudrücken. Ob die nordmazedonische Bevölkerung von der EU profitieren würde, steht auf einem anderen Blatt. Die Entscheidung darüber sollte sie jedoch selbst treffen dürfen, ohne ihre eigene Geschichte leugnen zu müssen.

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[i] Hugh Poultun, Who are the Macedonians?

[ii] Božidar Jezernik, Wild Europe: The Balkans Through the Gaze of Western Travellers.

[iii] Nikša Stančić: Hrvatska nacija i nacionalizam u 19. i 20. Stoljeću.

[iv] Stefan Gužvica, Da, makedonska nacija je konstrukt – kao i svaka druga https://www.bilten.org/?p=34941

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