Proteste in Serbien, Belgrad, gegen die Regierung Vucic. Foto: Marks21

Ruhe bewahren und weiter laufen: der serbische Frühling 2.0

Immer mehr Menschen nehmen an Protesten in ganz Serbien teil. Sie fordern, dass Vučić sein Amt räumt. Die politische Realität richtet sich selten nach den Plänen des Einzelnen.  Als ich am 3. April gerade einen Bericht über eine studentische Konferenz in Llubljana verfasste, schrieb mich ein Genosse über Facebook an: “Gehst auch zum Protest?”

Ich hatte mitbekommen, dass ein Protest organisiert wurde, aber da ich in der Woche vor der  Präsidentenwahl vom 2. April nicht ganz auf dem laufenden war, dachte ich mir, es handele sich um eine Reaktion der vernichtend geschlagenen Oppositionskandidaten, denen es diesmal im Gegensatz zu den meisten serbischen Praesidentenwahlen in der Vergangenheit, trotz besten Bemühens und teilweise gemeinsamer Anstrengungen nicht gelungen war,  eine massgebliche Wahlbeteiligung zu mobilisieren.

Aleksandar Vučić, der Premierminister, sicherte sich im ersten Wahldurchgang über 50 Prozent der Stimmen. Das Ergebnis wird aber inzwischen infrage gestellt, weil die gesetzlich festgelegte Frist für die Bekanntgabe der offiziellen Wahlergebnisse aller ausgezählten Stimmen am 7. April ablief, kombinert mit der Tatsache, dass das Wählerverzeichnis um die 800 000 mehr Erwachsene aufweist, als in der Realitaet ueberhaupt existieren.

Proteste in Serbien, Belgrad, gegen die Regierung Vucic. Foto: Marks21

Eine Bewegung schiesst aus dem Boden

Den Oppositionskandidaten, mit Ausnahme eines jungen Satirikers, der die Gelegenheit zum Anlass nahm, den gesamten politischen Prozess in Serbien zu parodieren, gelang es nicht,Vučić Politik glaubhafte politische Alternativen entgegen zu setzen. Vučić kombiniert neoliberale Unterwürfigkeit dem Westen gegenueber mit einer gesunden Dosis Einschleimerei bei Russland plus dem Rühren der Kriegstrommel auf dem Balkan. Nur für den Fall, dass er mal zusätzliche Unterstützung brauchen sollte, und die jammernden Gespenster nationaler Konflikte der jüngeren Geschichte auf den Plan rufen möchte – siehe das Eisenbahnfiasco. [Die serbische Eisenbahn wollte einen bemalten Zug mit der Aufschrift „Kosovo ist Serbien“ in zwölf Sprachen in serbische Klöster auf den Kosovo schicken, Anm. d. Red.]

Ich hatte noch den Protest nach den vorgezogenen Parlamentswahlen vom vorigen Jahr im Kopf. Damals waren die Proteste so organisiert, dass sie sämtliche etablierten Oppositionsparteien unter einen Hut fassten, von der gespaltenen früheren Regierungspartei Demokratska Stranka (DS/Demokratische Partei) bis zu den reformierten Protofaschisten der Dveri, einer rechten politischen Bewegung. Dieses breitgefächerte Aufgebot hatte es nicht einmal auf 2.000 Protestierende gebracht. In der Annahme, dass das, was sich auf den Strassen in Belgrad abspielte, eine ähnliche Energieverschwendung sei, war ich zuhause geblieben, um den oben erwähnten Bericht zu  tippen.

 

Später am Abend schickte mir derselbe Genosse einige begeisterte Nachrichten über die Atmosphäre des Protestes, der sich scheinbar selbst organisierte. Auch von anderen Quellen hörte ich Ähnliches, wenn auch nicht von den etablierten Medien, die den Protest bislang entweder ignoriert oder angriffen. Daher kam ich zu dem Schluss, dass es verkehrt sei, die Bewegung zuhause auszusitzen und,  dass ich mir meinen Zynismus diesmal sparen könne.

Am zweiten Tag, dem 3. April, war die winzige serbische Linke in einem Zustand fiebernder Erwartung; Facebook glühte förmlich vor Beiträgen. Auch wenn ein kleiner Teil der Linken, einschliesslich der Organisation  Marks21 der ich angehöre, vor kurzer Zeit bei der Initiative „Ne da(vi)mo Beograd“ [Wir ertränken Belgrad nicht, Anm. d. Red.] die Gelegenheit ergriff, erstmals Massenproteste zu organisieren, die es in 16 langen Jahren in Serbien nicht mehr gegeben hatte, so war ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Protesten nicht zu übersehen.

Ich glaube, dass die Mehrheit der Protestierenden gegen die systematische Hoffnungslosigkeit und die strukturellen Probleme auf die Strasse gehen

Proteste in Serbien, Belgrad, gegen die Regierung Vucic. Foto: Marks21

Der erste Unterschied ist das Fehlen von Forderungen der plötzlich pilzartig aus dem Boden schiessenden Bewegung: am 4. April gab es ähnliche Proteste in 18 anderen Städten – ein im Serbien des 21. Jahrhunderts noch nie vorgekommenes Ereignis. Einige Nachrichtenagenturen berichten von einer Liste an Forderungen seitens “der Studenten der Universitäten von Belgrad und Novi Sad”. Diese Liste wird aber angezweifelt und erweitert von den „Studentski pokret Novi Sad“, einer linken  Studentenorganisation, die die äusserst erfolgreiche Mobilisation in Serbiens zweitgroesster Stadt organisiert hat. Da die Proteste in Belgrad noch nicht über eine formelle, oder unangefochtene informelle Führung verfügen, bleibt es ein Raetsel, wer die Liste der Forderungen aufgestellt haben könnte.

Wie dem auch sei, das Gefuehl, dass es ein klares politisches Ziel gebe, bleibt aus, während man in Belgrad mit Tausenden junger Städter durch die Straßen marschiert. Ich glaube, dass die Mehrheit der Protestierenden gegen die systematische Hoffnungslosigkeit und die strukturellen Probleme auf die Strasse gehen und dass der angebliche (und mit einiger Wahrscheinlichkeit reale) Wahlbetrug lediglich als Ausloeser fuer die Massenmobilisierung diente. Ich wuerde ausserdem so weit gehen zu behaupten, dass die 50 Prozent der Waehler, die sich in der letzten Wahl enthalten haben, einen überdurchschnittlich großen Anteil der Leute auf der Straße ausmachen.

Die Titelseiten der größten serbischen Tageszeitungen vor der Wahl.

Die Angst vor der Politik

Die Jugend interessiert sich nicht dafür, den einen oder anderen Politiker zur Abdankung aufzufordern, vielmehr nehmen sie die Realitaet des Protestes als eine Möglichkeit wahr, ihre eigenen politischen und sozialen Vorstellungen zu äußern und einen frustrierend autoritären Machthaber absetzen zu wollen. Viele würden sich jedoch davon distanzieren, dass ihre Forderungen politisch seien. Manche gehen so weit, Vučić als Diktator bezeichnen zu wollen, ich aber bin der Ansicht, dass man bestimmte Konzepte nicht trivialisieren sollte.

Es ist noch viel zu frueh fuer Vorhersagen irgendwelcher Art ueber die Zukunft  dieses Massenprotestes

Ein Aspekt der weitverbreiteten Angst vor der Politik ist besorgniserregend.  Die Informalität des Protestes hat den Banden der extremen Rechten Tor und Tür geöffnet. Gut koordinierte und organisierte Gruppen zweier Dutzend relativ bekannter Nationalisten haben versucht, das Märchen einer Sorosverschwoerung als Rechtfertigung für ihren “Schutz” der Proteste zu nutzen und hatten zwei Tage lang freie Bahn, dem Protest einen rechten Anstrich zu verleihen.

Die grosse Mehrheit der Teilnehmer fanden diese Entwicklung frustrierend, hatten sie sich doch an der Seite progressiver Aktivisten selbst organisiert, um sich einer Übernahme von Rechts entgegenzustellen. Ich freue mich,  eine gerade erhaltene Nachricht mitteilen zu können, dass nämlich die Rechten gezwungen wurden, sich unter Sprechchören von “Wir wollen keine Anführer” von der Spitze der gerade stattfindenden Demonstration zurückzuziehen.

Es ist noch viel zu früh für Vorhersagen irgendwelcher Art über die Zukunft  dieses Massenprotestes.  Falls die Zehntausende von Menschen auf den Straßen das Potential der Bewegung in vollem Umfang nutzen wollen, so wird eine sehr viel bessere Organisation notwendig sein. Wir sollten auf jeden Fall darauf achten, dass diese bessere Organisation nicht zu Lasten der breiten Basis des Protestes geht and dass er programmatisch dafür genutzt wird, der neoliberalen Austeritätspolitik der führenden Eliten vor Ort und ihren internationalen Verbündeten entgegenzutreten.

Wir sind ein Teil der Welt – unser Kampf ist ein Teil des weltweiten Kampfes fuer eine bessere Zukunft.

Der Artikel wurde ursprünglich in Englisch verfasst und erschien auf Kosovo 2.0

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