Spanischer Ministerpräsident musste sich wegen Marokko und Westsahara rechtfertigen. Algerien kündigt Freundschaftsvertrag und verhängt Sanktionen.
Wie kam der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez dazu, gegenüber Marokko in der Westsahara-Frage eine Wende um 180 Grad zu vollziehen und sich voll und ganz hinter den sogenannten Autonomieplan Rabats zu stellen? Vergangenen Mittwoch musste er sich vor dem Parlament in Madrid rechtfertigen, wobei allerdings wenig Neues herauskam. Einmal mehr behauptete er, es sei um den Status der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla gegangen, und nannte ein gutes Verhältnis zu Marokko „Staatsräson“. Zu der Frage, warum er deswegen gleich das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis opfern musste, berief er sich auf Realpolitik: „47 Jahre müssen ausreichen, um zu verstehen, dass wir unsere Position ändern müssen.“ Aber wurde überhaupt jemals ernsthaft versucht, das Völkerrecht in Sachen Westsahara gegenüber dem Widerstand Marokkos durchzusetzen? Keineswegs – was nicht zuletzt an Spanien selbst lag, das seine „Überseeprovinz“ Westsahara 1975/76 räumte und den autoritären Regimen in Marokko und Mauretanien überließ – unter Wahrung seiner Geschäftsinteressen.
Die nächste Krise
Kaum war die Debatte am Mittwoch vorbei, folgte der Donnerschlag: Algerien gab bekannt, dass es einen 2002 geschlossenen Freundschaftsvertrag mit Madrid aufkündige. Gleichzeitig wurden die algerischen Banken angewiesen, Dauergeschäfte mit Spanien zu stornieren. Das geschah nicht aus heiterem Himmel: Schon zuvor hatte Algier seine Botschafterin aus Madrid abberufen und erste Sanktionen gegen Spanien verhängt. Der algerische Sondergesandte für die Westsahara und den Maghreb, Amar Belani, kommentierte die jüngste Entwicklung laut der Webseite La Patrie News mit den Worten: „Wer von einem vorübergehenden Zorn Algeriens spricht, hat den Realitätssinn verloren.“ Der Maghrebstaat ist seit langem der wichtigste Verbündete der Westsahara-Befreiungsfront Frente Polisario.
Im März hatte das marokkanische Außenministerium auf seiner Webseite Auszüge eines Briefes veröffentlicht, den Sánchez an den marokkanischen König Mohammed VI. geschrieben hatte. Darin lobt er den von Rabat 2007 vorgestellten „Autonomieplan“ als „die ernsthafteste, realistischste und glaubwürdigste Lösung“ des Westsahara-Konflikts. Das war mehr als genug Entgegenkommen, um eine seit einem Jahr andauernde Krise zwischen Marokko und Spanien beizulegen. Im Frühjahr 2021 hatte Marokko alle Kontakte zu Spanien abgebrochen, nachdem Madrid dem Chef der Befreiungsfront Polisario, Brahim Ghali, eine Covidbehandlung in einem spanischen Krankenhaus gewährt hatte. Der Kurswechsel wurde dann bei einem Besuch von Sánchez im April beim marokkanischen König Mohammed VI. in Rabat bestätigt.
In der Not wandte sich der spanische Außenminister José Manuel Albares an die EU um Hilfe. Die Brüsseler Chefbürokraten Josep Borrell und Valdis Dombrovskis verurteilten am Freitag das algerische Vorgehen als möglichen Verstoß gegen ein zwischen Algerien und der EU geschlossenes Assoziierungsabkommen und drohten ihrerseits Vergeltungsmaßnahmen an, schränkten aber ein, dass sie sich vorerst an Diplomatie halten wollten, um das Problem zu lösen. Darauf antwortete am Samstag der algerische Außenminister Ramtane Lamamra. Er wies die Behauptung zurück, dass Algerien sich nicht an gültige Verträge halte, und warf der EU implizit von postkolonialer Arroganz genährte Heuchelei gegenüber einem „eifersüchtig über seine Unabhängigkeit wachenden Land des Südens“ vor, nachdem Brüssel sich im vergangenen Jahr in einem „Handelsstreit zwischen einem Schlüsselland der EU und zwei nichteuropäischen entwickelten Nationen“ weitaus „umsichtiger“ gezeigt habe – gemeint ist ein milliardenschweres U-Boot-Geschäft zwischen Australien und Frankreich, das von Canberra einfach so zugunsten einer Bestellung in den USA annulliert worden war; zufälligerweise erklärte Australien sich gerade am vergangenen Wochenende bereit, dafür eine Strafe von einer halben Milliarde Euro zu zahlen.
Erpressung wirkt
Sánchez’ „neue Marokko-Politik“ wird in Spanien nur von seiner eigenen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) unterstützt. Die Koalitionsmitglieder Unidas Podemos, EH Bildu und Katalanische Linksdemokraten hatten dem Premierminister mit Unterstützung der rechten Volkspartei schon Anfang April im Parlament eine Rüge erteilt. Die Tageszeitung El País lieferte Sánchez’ Kritikern vor der Debatte am Mittwoch neue Argumente. Sie veröffentlichte Analysen des spanischen Geheimdiensts CNI, die bestätigen, dass Marokko die „Flüchtlingskrise“ von Ceuta vom vergangenen Jahr inszeniert hatte, um Spanien in der Westsahara-Frage zu erpressen. Das ist interessant auch für Deutschland. Am 3. Juni veröffentlichte die Bundesregierung ihre Antwort auf eine Kleine Anfrage der Partei Die Linke zu Marokko und der Westsahara, in der es heißt, dass ihr „keine Erkenntnisse“ darüber vorlägen, dass Marokko Migration als politisches Druckmittel einsetze.
In einem Interview mit der Zeitung El Periodico sprach auch die vergangenen Sommer wegen der „Affäre“ um Brahim Ghali geschasste Außenministerin Arancha González von „Lauschangriffen, Denunziationen, Kampagnen, auch Pressekampagnen“, die gestartet worden seien, um die „humanitäre Hilfe“ Madrids zu diskreditieren. Allerdings wollte sie nicht darauf eingehen, wer dafür verantwortlich gewesen sein könnte, dass Handys wichtiger Regierungsmitglieder per Spionagesoftware „Pegasus“ gehackt wurden, wie Anfang Mai publik geworden war. Im Sommer 2021 hatte Amnesty International offengelegt, dass Marokko nicht nur Dissidenten im eigenen Land oder die algerische Regierung überwacht hatte, sondern auch die Crème de la crème der französischen Presse und Politik. Rabat bestreitet allerdings die Vorwürfe.
Hier geht’s zu unserem Westsahara-Dossier:
Falsches Vorbild
Der Debatte vom Mittwoch zufolge erhofft sich Sánchez ausgerechnet vom marokkanischen „Autonomieplan“ für die Westsahara eine „für beide Seiten akzeptable Lösung zwischen den Parteien unter der Schirmherrschaft der UNO“. Dabei ist klar, dass eine „Autonomie“ unter der Oberherrschaft der absolutistisch regierenden marokkanischen Monarchie dem Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis widerspricht und der Plan höchstens über deren Köpfe hinweg durchgesetzt werden könnte. Allerdings finden sich das Lob des 2007 erstmals vorgestellten „Autonomieplans“ und die Floskel von der „einvernehmlichen Lösung“ auch in einschlägigen UN-Resolutionen. Zudem konnte sich Sánchez am Mittwoch damit rechtfertigen, dass die USA, Frankreich, die Niederlande und auch „die deutsche Präsidentschaft“ Spanien im Einschwenken auf die marokkanische Linie vorausgegangen seien.
Wegen der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken musste vergangene Woche laut der marokkanischen Webseite Yabiladi auch die deutsche Botschafterin in Algier zu einem Gespräch beim dortigen Parlamentspräsidenten erscheinen, der dabei die „entschlossene Haltung“ Algeriens „in Fragen der Gerechtigkeit, insbesondere in Sachen Palästina und Westsahara“ unterstrich. Berlin bestreitet zwar, in Sachen Westsahara eine neue Politik zu verfolgen. Kurz nach ihrem Amtsantritt hatte jedoch die neue „grüne“ Außenministerin Annalena Baerbock im Internet einen Text über deutsch-marokkanische Beziehungen veröffentlicht, der auffällig versöhnliche Töne gegenüber dem Königreich anschlägt und ebenfalls nur als „Realpolitik“ gedeutet werden kann. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte dann das Außenamt in einem Brief an Mohammed VI. an Nachgiebigkeit noch übertrumpft, obwohl er keinerlei Richtlinienkompetenz besitzt. Auch Deutschland war von Marokko im vergangenen Jahr wegen der Westsahara diplomatisch unter Druck gesetzt worden. Der Streit soll dann im Dezember mit einem Besuch des Königs in Berlin feierlich beigelegt werden.
Klage eingereicht
Unterdessen erreichten US-amerikanische Aktivisten, dass die sahrauische Menschenrechtlerin Sultana Khaja vergangene Woche zu einer ärztlichen Behandlung auf die Kanarischen Inseln ausreisen durfte. Seit der Fortführung des Krieges zwischen Marokko und der Polisario-Front im Herbst 2020 hatte sie mit ihrer Familie unter Hausarrest gestanden. Auch war sie wiederholt von Einsatzkräften misshandelt und mit dem Tod bedroht worden. Nicht einmal in Anwesenheit der US-Aktivisten, die als Touristen getarnt in die besetzte Westsahara gelangt waren, endeten die Mordanschläge auf Khaja: Mitte Mai wurde Khajas Haus in Boujdour mitten in der Nacht absichtlich von einem Lkw gerammt und beschädigt. Der Fahrer konnte nur von empörten Anwohnern gestoppt werden, die Fassade einzureißen. Diese Wahnsinnstat scheint der Tropfen zu viel gewesen zu sein. Schon 2009 hatte Marokko schließlich einer persönlichen Intervention des damaligen US-Präsidenten Barack Obama nachgeben müssen, als es der sahrauischen Menschenrechtlerin Aminatou Haidar die Rückkehr in die besetzte Westsahara verweigern wollte.
Am 10. Juni schließlich gaben die Menschenrechtsorganisationen International Service for Human Rights (ISHR), ACAT-France und League for the Protection of Sahrawi Political Prisoners in Moroccan Prisons (LPPS) bekannt, dass sie vor dem UN-Komitee gegen Folter im Namen von vier Sahrauis Klage eingereicht haben, die auf Grundlage erpresster Geständnisse zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden und bis heute unter völkerrechtswidrigen Bedingungen gefangengehalten werden. Es handelt sich um Mohammed Lamine Haddi, Hassan Dah, Mohammed Bani und Abdelmoula El-Hafidi. Mit Ausnahme des Letzteren gehören sie zur „Gruppe von Gdeim Izik“. Gdeim Izik ist eine kleine Lokalität vor den Toren der Stadt Laâyoune, wo sich im Herbst 2010 zum Protest gegen unerträgliche Lebensbedingungen Zehntausende Sahrauis versammelt und ein Zeltlager errichtet hatten, das dann von der Besatzungsmacht dem Erdboden gleichgemacht wurde. Marokko, „ein selbsternannter internationaler Verfechter der Menschenrechte und aktiver Unterstützer der Initiative gegen Folter“, wie es in der Presseerklärung heißt, wurde schon mehrfach vor dem Antifolterkomitee verklagt. Allerdings hat es die darauf gefällten Urteile bis heute schlicht ignoriert. Wie lange wird das noch straflos hingenommen?
Quellen
Rechtfertigung des spanischen Regierungschefs Pedro Sánchez am 8. Juli im Kongress
https://elpais.com/espana/2022-06-08/pedro-sanchez-explica-en-el-congreso-el-cambio-en-la-posicion-de-espana-sobre-el-sahara.html
Reaktion in Algerien
https://lapatrienews.dz/sahara-occidental-lalgerie-suspend-le-traite-de-cooperation-avec-lespagne/
https://lapatrienews.dz/suspension-du-traite-damitie-et-gel-des-operations-de-commerce-exterieur-coup-dur-pour-lespagne/
Der Brief von Sánchez an Mohammed VI.
https://elpais.com/espana/2022-03-23/la-carta-de-pedro-sanchez-a-mohamed-vi-debemos-construir-una-nueva-relacion-que-evite-futuras-crisis.html
Spanisch-marokkanische Erklärung von April zur Neugestaltung der Beziehungen
https://www.diplomatie.ma/fr/d%C3%A9claration-conjointe-adopt%C3%A9e-au-terme-des-discussions-entre-sm-le-roi-mohammed-vi-et-le-pr%C3%A9sident-du-gouvernement-espagnol-pedro-s%C3%A1nchez
Antwort von Josep Borrell und Valdis Dombrovskis auf spanischen Hilferuf
https://www.eeas.europa.eu/eeas/algeria-statement-high-representativevice-president-josep-borrell-and-executive-vice-president_en
Reaktion des algerischen Außenministeriums auf Druck aus Brüssel
https://lapatrienews.dz/replique-du-mae-a-la-commission-europeenne-les-insinuations-sur-lapprovisionnement-de-lespagne-en-gaz-sont-fantaisistes-et-malveillantes/
https://www.tsa-algerie.com/crise-avec-lespagne-lalgerie-denonce-le-parti-pris-de-lue/
Zum U-Boot-Geschäft zwischen Frankreich und Australien (Bezahlartikel)
https://www.latribune.fr/entreprises-finance/industrie/aeronautique-defense/sous-marins-l-australie-verse-555-millions-d-euros-a-naval-group-et-se-reconcilie-avec-la-france-921436.html
El País veröffentlicht Geheimdienstanalysen zu Kampagne gegen Brahim Ghali (Bezahlartikel)
https://elpais.com/espana/2022-06-07/marruecos-alento-una-ofensiva-judicial-y-mediatica-contra-el-lider-del-polisario-segun-el-cni.html
https://elpais.com/espana/2022-06-06/el-cni-atribuyo-la-crisis-de-ceuta-al-discurso-agresivo-del-rabat-sobre-el-sahara-occidental.html
https://elpais.com/espana/2022-06-06/robles-se-ampara-en-la-ley-del-cni-para-no-revelar-que-este-alerto-de-que-marruecos-queria-forzar-un-cambio-sobre-el-sahara.html
Antwort der Bundesregierung auf kleine Anfrage der Linken
https://dserver.bundestag.de/btd/20/019/2001984.pdf
Interview von Gonzalez Laya
https://www.elperiodico.com/es/internacional/20220607/gonzalez-laya-crisis-marruecos-escuchas-ceuta-melilla-sahara-13796177
Algerischer Parlamentspräsident befragt deutsche Botschafterin in Algier
https://www.yabiladi.com/articles/details/128323/sahara-irrite-position-l-allemagne-president.html
Die Erklärung des Außenministeriums zu den „bilateralen Beziehungen“ zwischen Deutschland und Marokko
https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/marokko-node/bilaterale-beziehungen/224064
Zur Ausreise von Sultana Khaja auf die Kanarischen Inseln
https://www.spsrasd.info/news/fr/articles/2022/06/02/39974.html
Vier neue Klagen wegen Folter
https://ishr.ch/latest-updates/four-complaints-of-torture-filed-against-morocco-before-the-un-committee-against-torture/
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