70 Jahre Grundgesetz: Gleichberechtigung als Staatsauftrag und doch keine Gleichheit

Der 1949 im Artikel 3 verankerte Gleichheitsgrundsatz besagt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. 1994 wurde der zweite Satz dieses Artikels um den – wichtigen – Zusatz ergänzt, dass der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt. Im Kern ist dieser Zusatz ein Eingeständnis, dass die 45 Jahre seit Verabschiedung des Grundgesetzes ein permanenter Verfassungsbruch geduldet wurde. Denn: Frauen und Männer waren eben nicht gleichberechtigt. Und sind es bis heute nicht.


Gleichheit vor dem Gesetz heißt noch lange keine gesellschaftliche Gleichheit. Und es stellt sich die Frage, ob diese überhaupt mit einem Wirtschaftssystem erreicht werden kann, das im Kern auf Spaltungen basiert, Menschen zueinander in Konkurrenz setzt und somit eigentlich das Versprechen der französischen Revolution auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität verunmöglicht.
Eine dieser Spaltungen ist die entlang von Geschlecht. Für Unternehmen ist es höchst profitabel, dass es Geschlechterungleichheit gibt: 21 Prozent Lohneinsparungen für sie sind kein Pappenstiel. Und es ist noch immer höchst praktisch, dass ein großer Teil der Arbeit, aus der sich schlecht Profit schlagen lässt, unbezahlt Frauen zugewiesen wird: Kinder betreuen, alte Menschen pflegen, sich um andere kümmern.

Dass Frauen immer noch überwiegend für die gesellschaftlich notwendige Sorge und Pflegearbeit zuständig sind, hat unmittelbare Folgen für ihre ökonomische Situation. Um die Vielfachbelastungen aus unbezahlter und bezahlter Arbeit halbwegs unter einen Hut zu bekommen, arbeiten Frauen besonders häufig in Teilzeit – Mitte 2018 waren 78,6 Prozent der Teilzeitbeschäftigten Frauen. Frauen, die Kinder haben, aber nicht in einer Partnerschaft leben, sind besonders von Armut bedroht. 98 Prozent der 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland sind weiblich. 40 Prozent von ihnen sind auf Hartz IV angewiesen. Wenn es in einer Partnerschaft um die Aufteilung der Elternzeit geht, wird nicht zuerst gefragt, wer wie viele Monate nehmen möchte. Es wird gerechnet. Und geschaut, welcher Verdienstverlust stärker ins Gewicht fällt. Ähnliches passiert, wenn ein Familienmitglied pflegebedürftig wird. Weil sich viele Familien umfängliche professionelle Pflege nicht leisten können, springen Angehörige ein. Von den 2,5 Millionen pflegenden Angehörigen sind 1,65 Millionen Frauen. Rund ein Viertel reduziert die Erwerbsarbeit oder gibt sie ganz auf. Die Effekte für die Frau fallen später auf sie zurück und zeigen sich nicht zuletzt in niedrigen Rentenansprüchen.

Dort, wo Pflege und Sorge nach Profitinteressen organisiert werden, zeigt sich schnell, dass das, was eigentlich im Zentrum von allem stehen sollte, zuerst leidet: Die Bedürfnisse von Menschen gut ver- und umsorgt zu werden. In Krankenhäusern zum Beispiel ist spätestens seit Einführung der Fallpauschalen und der Privatisierungswelle eben nicht zentrales Ziel, Menschen menschenwürdig gesund zu machen, sondern schwarze Zahlen zu schreiben. Unter diesen Bedingungen Fürsorglichkeit zu gewährleisten ist für die ohnehin schlecht bezahlten Pflegekräfte – mindestens zwei Drittel davon sind Frauen – ein Kraftakt, der nicht selten zur eigenen Gesundheitsbelastung wird, weil die eng getakteten Abläufe kaum Zeit für Patient*innen vorsehen, weil sich diese Arbeit wirtschaftlich nicht rechnet.

Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen geht es nicht primär um das, was Menschen brauchen: Beim Wohnen geht es nicht um bezahlbaren Wohnraum für alle Menschen, sondern Wohnraum wird zum Spekulationsobjekt. Dass der Markt das Menschenrecht auf Wohnen nicht nur nicht garantieren kann, sondern es im Gegenteil brüchig werden lässt, wissen alle, die einen Großteil ihres Einkommens für die Miete zahlen müssen, die verdrängt werden oder schon längst zwangsgeräumt wurden. Für etliche Frauen geht es bei der Wohnungsfrage nicht zuletzt auch um ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit: Nicht selten bleiben Frauen in der Abhängigkeit eines schlagenden Partners, weil es nicht genug Schutzräume und erst recht keine Wohnung gibt, die sie alleine bezahlen können. Dem Markt ist das genauso egal, wie die Tatsache, dass immer mehr alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern zwangsgeräumt werden, um vermögenderen Mieter*innen Platz zu machen.

70 Jahre Grundgesetz heißt eben auch über noch mehr Jahre Kapitalismus zu sprechen. Denn für die Verwirklichung von Rechten ist das Recht an sich nur die allererste Bedingung. Wie wir als Gesellschaft die Herstellung notwendiger Produkte und den Zugang zu diesen organisieren, wie wir soziale Beziehungen gestalten, wie wir Reichtum und Arbeit verteilen und vor allem welche Arbeit wir als gesellschaftlich notwendig begreifen und welche nicht – das wirkt sich darauf aus, ob Menschen nicht nur vor dem Gesetz gleichberechtigt sind, sondern auch im Alltag gleichermaßen ein gutes Leben haben.

Das Grundgesetz schreibt kein Wirtschaftssystem fest. Gut, dass aktuell unter dem Stichwort Vergesellschaftung wieder angefangen wird, zu diskutieren, ob das derzeitige wirklich alternativlos ist. Dem Anspruch des zweiten Satzes aus Artikel 3 des Grundgesetzes würden wir ein erhebliches Stück näher kommen, wenn wir die elementare Fragen des Daseins, die Sorge, Pflege und Betreuung dem Markt entziehen würden und wieder auf ihren eigentlichen Zweck ausrichten würden: Auf unsere Bedürfnisse.

Mit den Milliarden der Reichen könnten wir die öffentliche Daseinsvorsorge stärken, könnten gute Pflege für alle zugänglich machen, günstigen Wohnraum schaffen. Damit verschwindet Sexismus nicht – keine Frage. Aber wenn die oberste politische Maxime wäre, ein gutes und sicheres Leben für alle zu schaffen anstatt vor allem Unternehmen Profite zu sichern, wäre sehr viel mehr möglich, damit Gleichberechtigung tatsächlich einmal verwirklicht wird.


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