Heute jährt sich der 200 Geburtstag von Karl Marx, in der bürgerlichen Presse wurde er in den letzten Tagen sowohl für seine ökonomischen Ansichten gelobt, als auch beschimpft und niedergemacht. Wir haben mit Katja Kipping, Parteivorsitzende der Linken, über die Aktualität von Karl Marx, die Bedeutung seiner Ideen für heute und sozialistische Utopien gesprochen.
Die Freiheitsliebe: 200 Jahre Marx, ist das ein Grund zum Feiern?
Katja Kipping: Na klar. Ohne Marx als Idol zu verherrlichen, können wir wohl ohne Zweifel sagen, dass er für die Arbeiterbewegung und für die globale Linke bis heute ein, wenn nicht gar der, zentrale Bezugspunkt war und ist. Im 200. Jahr von Karl Marx‘ Geburtstag wird ja nun in Deutschland und auf dem ganzen Globus über ihn geredet, geschrieben und gestritten. Neben viel Lob und Anerkennung, gibt es aber auch Kritik bis hin zu dem Wunsch der ewigen Verbannung seiner Ideen. Die BILD-Zeitung titelte erst vor wenigen Wochen „Warum herrscht in Deutschland wieder Marx-Mania?“. Wenn Karl Marx den Redakteuren einer Boulevard-Zeitung immer noch Angst macht, dann kann er nicht alles falsch gemacht haben.
Die Freiheitsliebe: Die Linke bezieht sich in ihrem Programm auf Marx, welche Bedeutung haben Marx Analysen heute noch?
Katja Kipping: Karl Marx Ideen sind aktueller denn je. Die aktuellen Krisen, wie der drohende Klimakollaps, der Crash der Finanzmärkte, die durch Elend und Kriege erzwungenen Fluchtbewegungen und die sozialen Verunsicherungen führen uns mit aller Nachdrücklichkeit vor Augen, dass sich etwas grundlegend ändern muss. Anderthalb Jahrhunderte, einige technische Revolutionen, mehrere Kriege und gesellschaftliche Umbrüche später steht vor uns immer noch die Aufgabe, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes kurz verächtliches Wesen ist.“
Die Freiheitsliebe: Existieren die Eigentumsverhältnisse, die Marx skizzierte, denn auch heute?
Katja Kipping: Auch wenn die Arbeits- und Lebensverhältnisse sich seit Marx‘ Zeiten stark verändert haben und auch die Arbeiterklasse heute anders aussieht, hat sich nichts daran geändert, dass der größte Teil der Bevölkerung dazu gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können. Menschen werden heute immer noch ausgebeutet. Durch die enorme Zunahme von Leiharbeit und Teilzeitjobs sowie das hohe Maß an Überstunden, vor allem in Vollzeitjobs, trägt die Ausbeutung sogar wieder neue Blüten. Hinzu kommen Millionen Menschen, die in diesem Land von Hartz IV abhängig sind. Klar könnte man meinen, dass es zu Marx‘ Zeiten für die meisten gar keine finanzielle Absicherung gab, aber angesichts des Reichtums in diesem Land, ist es eine Schande, dass es Hartz IV immer noch gibt und nicht längst durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzt wurde.
Die Freiheitsliebe: Auch Liberale äußern ab und an, dass die Analysen von Marx nicht nur falsch sein, doch es sich gezeigt hat, dass es keinen demokratischen Sozialismus geben kann. Was denkst du darüber?
Katja Kipping: Während der Wendezeit machte eine Karikatur die Runde, auf der Marx mit Händen in den Taschen dastand und sagte: „Tut mir leid Jungs! War halt nur so’ ne Idee …“. Damals schmunzelten viele darüber. Der Kapitalismus galt als Sieger der Geschichte und gesellschaftliche Alternativen zu ihm schienen dauerhaft gescheitert. Doch spätestens mit der Krise der Finanzmärkte schwante vielen, dass doch was dran sein könnte an der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Natürlich müssen wir aus der Geschichte lernen, in der Staaten, die sich auf Marx beriefen, große Gräueltaten verübten. Für die PDS und auch DIE LINKE war es deshalb besonders wichtig, das Demokratische im Sozialismus zu betonen, denn eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus darf niemals ohne demokratische Rechte auskommen. Ich bin überzeugt davon, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist.
Die Freiheitsliebe: Welche Aufgaben hat eine sozialistische Partei wie die Linke heute?
Katja Kipping: Angesichts einer europaweiten Zunahme von rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien in Europa, ist es Aufgabe aller Linken hier entschiedenen Widerstand zu leisten. In Deutschland sitzt seit der letzten Bundestagswahl eine rechtspopulistische Partei im Bundestag, die in Teilen sogar faschistisch ist. Während andere Parteien die Forderungen der Rechten übernehmen oder an einer antisozialen Kahlschlagpolitik festhalten, ist es die Aufgabe einer LINKEN, der Politik der Spaltung eine Politik der Solidarität, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit entgegenzusetzen. Für mich gehört dazu, auch dann standhaft zu bleiben, wenn der Wind einem von rechts entgegenbläst. Wir haben es mit unserer Position der Flüchtlingssolidarität nicht jedem recht gemacht – aber für viele haben wir damit einen Unterschied gemacht.
Die Freiheitsliebe: Wie könnte deiner Meinung nach eine nicht-kapitalistische Gesellschaft aussehen?
Katja Kipping: Also zunächst einmal als eine Gesellschaft, in der kein Mensch mehr durch einen anderen ausgebeutet oder abgewertet wird und niemand durch einen anderen Gewalt erfährt. Die verschiedenen Tätigkeiten und Arbeiten der Menschen müssten neu verteilt werden – auch zwischen den Geschlechtern. Mein Kompass für eine kommende Gesellschaft ist für mich die Vier-in-einem-Perspektive von Frigga Haug. Dabei geht es darum, dass im Leben von Frauen wie Männern und allen, die nicht in die Zwei-Geschlechter-Ordnung passen, gleich viel Zeit ist für die vier zentralen Tätigkeitsbereiche: Erstens, Erwerbsarbeit; Zweitens, Sorge- und Familienarbeit; Drittens, politische Einmischung bzw. gesellschaftliches Engagement und Viertens, Arbeit an sich selbst, vorstellbar als Muße oder Weiterbildung.
Die Freiheitsliebe: Wie könnte diese Gesellschaft erreicht werden?
Katja Kipping: Ich glaube, dass es darauf ankommt, im Großen wie im Kleinen Gegenmacht aufzubauen, um am Ende die Hegemonie zu gewinnen. Das heißt für mich, dass eine LINKE sowohl in den großen globalen Fragen Ideen für eine solidarische Gesellschaft entwickelt und öffentlich diskutiert und gleichzeitig lokal für konkrete Verbesserungen streitet. Nicht allein, sondern im Bündnis mit Mieterinis, Aktiven der Flüchtlingssolidarität, kämpferischen Gewerkschaften, kritischen Intellektuellen, auf der Straße und in den Parlamenten und auch in progressiven Regierungen – mit allen, die der Meinung sind, dass es so wie es ist, nicht bleiben kann.
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.