© Jörg Tiedjen

Linke Realpolitik

Diplomatische Krise zwischen Marokko und Spanien auf Kosten der Westsahara beendet

Erpressung lohnt. Das Königreich Marokko führt es vor. Monatelang hatte es Druck ausgeübt auf die spanische Regierung, und am Ende hat es mehr bekommen, als es erhoffen konnte: Madrid ist im Konflikt um die Westsahara mit fliegenden Fahnen auf die marokkanische Position umgeschwenkt.

Diese Kehrtwende geschah an jeder demokratischen Abstimmung vorbei und wurde der Welt aus Marokko verkündet. Ohne dies mit Madrid abgesprochen zu haben, veröffentlichte das Außenministerium in Rabat am 18. März auf seiner Webseite Auszüge aus einem Brief des spanischen Premierministers Pedro Sánchez an König Mohammed VI., wobei ein Satz besonders hervorgehoben wurde: „Spanien betrachtet die von Marokko 2007 vorgeschlagene Autonomieinitiative als die ernsthafteste, glaubwürdigste und realistischste Grundlage für eine Beilegung des (Westsahara-)Konflikts.“ Die Krise zwischen Spanien und Marokko sei beendet, hieß es prompt in den Medien; auch die Botschafterin könne nach Madrid zurückkehren.

Die spanische Regierung scheint von der Indiskretion überrascht gewesen zu sein. Dabei war im Dezember mit einer Erklärung des deutschen Außenamtes Ähnliches geschehen. In ihr war vom marokkanischen Autonomieplan für die Westsahara als einem „wichtigen Beitrag“ für eine Lösung des Konflikts die Rede. Das ist zwar nicht anders auch in einschlägigen Resolutionen des Weltsicherheitsrats zu lesen, hinderte Marokko aber nicht, schon dies als Sieg zu feiern, zumal der deutsche Bundespräsident mit noch weit versöhnlicheren Worten eine Einladung an Mohammed VI. hinterherschickte. Auch Berlin hatte zuvor wegen seiner Haltung in der Westsahara-Frage den Unmut der marokkanischen Monarchie auf sich gezogen und war mit einer diplomatischen Eiszeit bestraft worden, wobei Deutschland als Drahtzieher hinter allen behaupteten „feindseligen Akten“ gegen Marokko dargestellt wurde.

Erneuter Verrat

Es geht um mehr als einen Streit um Worte. Es ist nicht zuletzt auch ein linker Konsens, der hier geopfert wurde. Der spanische Exvizeregierungschef Pablo Iglesias von Podemos bezeichnete den Kurswechsel im Rundfunk als „zynisch und heuchlerisch“ und als „neuerlichen Verrat“ an den Sahrauis. Denn Spanien ist nicht irgendein Land, wenn es um die Westsahara geht. Schließlich war es Spanien, das sie kolonisiert hatte, bis es sie 1975 im völkerrechtlich ungültigen Vertrag von Madrid Marokko und damals auch Mauretanien überließ. De jure ist Spanien aber immer noch für sein früheres „Überseeterritorium“ verantwortlich. Auch die spanische Linke hat die Sahrauis wiederholt verraten. Anfang 1976, im Jahr eins nach Franco und auch des Krieges um die Westsahara, schwor Felipe Gonzáles als Generalsekretär der PSOE der Polisario-Befreiungsfront in einer Rede in einem Flüchtlingslager beim algerischen Tindouf ewige Treue – eine seiner ersten Amtshandlungen als Premierminister war die Ausweisung des Botschafters der Westsahara. Ex-PSOE-Chef José Zapatero begrüßte die neue Marokko-Politik seines Nachfolgers Sánchez. Dieser sprach in einer Parlamentsdebatte am 30. März von „Realpolitik“.

Von Anfang an hatte Marokko die spanische „Linksregierung“ wegen ihrer Haltung in der Westsahara-Frage geschnitten. Der Streit eskalierte, nachdem Marokko im November 2020 den mit der Polisario bestehenden Waffenstillstand gebrochen hatte, worauf die Befreiungsfront die Kampfhandlungen wiederaufnahm. US-Präsident Donald Trump ergriff einseitig Partei für Marokko, indem er per Dekret kurzerhand die Westsahara dem Königreich zuschlug und den Autonomieplan zur „einzigen“ Lösung im dortigen Konflikt erklärte, als Belohnung dafür, dass Marokko seine Beziehungen zu Israel normalisierte. Deutschland und Spanien aber wollten sich Trumps Erklärung zur Westsahara nicht anschließen und wiesen sie unter Berufung auf internationales Recht zurück; außerdem wagte Madrid es, Polisario-Generalsekretär Brahim Ghali mitten im Krieg eine Covidbehandlung zu gewähren. Es war zwar nicht der erste Spanien-Aufenthalt Ghalis. Doch diesmal traf Madrid der geballte Zorn des Königreichs, das seine Propagandamaschine auf Hochtouren laufen ließ. Ein Opfer unter der Linksregierung war schon im vergangenen Sommer die parteilose Außenministerin Arancha González, die wegen der Attacken ihren Hut nehmen musste.

Gefährlicher Dammbruch

In einer am 18. März auf der Internetseite der spanischen Regierung im Anschluss an die Bekanntmachung aus Rabat nachgereichten Erklärung ist von der Westsahara gar nicht die Rede. Sie kündigt eine „neue Etappe“ in den Beziehungen zu Marokko an, die sich auf „gegenseitigen Respekt“ auch hinsichtlich der „territorialen Integrität“ gründe. Marokko sei Spanien entgegengekommen, indem es seine alten Ansprüche auf „Ceuta, Melilla, die Kanarischen Inseln und Andalusien“ begraben habe, wie Regierungssprecherin Isabel Rodríguez am 31. März erläuterte. Im vergangenen Jahr hatte Marokko als Reaktion auf Ghalis Krankenhausaufenthalt die Grenze zur spanischen Enklave Ceuta nicht bewacht, worauf Tausende Geflüchtete in die Stadt gelangten, darunter zahlreiche Kinder. Erst Anfang März stürmten dann Hunderte in Marokko gestrandete Migranten auch das weiter östlich gelegene Melilla. Durch die Inszenierung wahrer Flüchtlingsdramen sät Marokko die Furcht, dass die beiden Städte, die seit Jahrhunderten zu Spanien gehören, in einer Art neuem „Grünen Marsch“ einfach überrannt werden. Bei dieser Propagandaaktion zum Auftakt der Westsahara-Besatzung waren 1975 Hunderttausende Marokkaner in das Wüstengebiet einmarschiert, um es vor der Weltöffentlichkeit symbolisch „heimzuholen“ – während das Militär abseits der Kameras bereits unterwegs war, die Sahrauis mit Napalm zu bombardieren.

Der marokkanische Journalist Ali Lmrabet weist auf der Internetseite Middle East Eye die Behauptung als haltlos zurück, Marokko werde auf seine territorialen Ansprüche gegenüber Spanien verzichten. Das wäre ein „Donnerschlag am Himmel aller marokkanischen Patrioten“, wovon keine Rede sein könne. Nicht glaubwürdiger sei die Behauptung, dass man keinen „Zweifrontenkrieg“ gegen Russland und Marokko zugleich habe führen wollen: Das übertreibe die Rolle Spaniens in der NATO, auch könne man bei allen „diplomatischen Kapriolen“ Marokkos nicht allen Ernstes von einer „Front“ sprechen. Die Verteidiger von Sánchez’ Vorstoß seien entweder „perplex“, oder sie verbreiteten „leere Behauptungen“. Die Gefahr sei, dass sich nach dem „Dammbruch“ weitere europäische Länder Spanien anschlössen.

Völkerrecht geschleift

Wie zur Bestätigung, dass Sánchez‘ Erklärung wenig durchdacht war, war denn auch unmittelbar im Anschluss an die Veröffentlichung ein erster Kollateralschaden zu verzeichnen: die Beziehungen zu Algerien, dem bedeutendsten Verbündeten der Sahrauis. Algier bestritt Angaben aus Madrid, dass es in das spanische Vorgehen eingeweiht gewesen sei, und bestellte seinen Botschafter ein. In aller Hektik, so Lmrabet, suche Madrid nun auch Algier zu besänftigen, indem zum Beispiel ein politischer Flüchtling ausgeliefert wurde. Doch einfach lässt sich der Fehler nicht wiedergutmachen: So heißt es aus Algerien, dass man in Sachen Erdgas in Zukunft bevorzugt mit Italien kooperieren wolle. Spanien hatte nämlich seinen Hauptlieferanten Algerien zur Ausweitung seiner Gaszufuhr und dem Neubau einer Pipeline überreden wollen, nachdem letzten Herbst eine durch Marokko führende Gasröhre eingestellt worden war. Ein US-amerikanischer Versuch, Algerien zur Wiederaufnahme des Betriebs zu bewegen, war unmittelbar vor Bekanntwerden von Sanchez‘ Schreiben abträglich beschieden worden. Auch die Fluglinie Iberia zählt zu den Verlierern. Sie erhält vorerst keine Landegenehmigungen in Algerien mehr, wie am 2. April gemeldet wurde.

So beklagenswert es ist, dass die spanische Regierung, wie es heißt, ihre „Neutralität“ in der Westsahara-Frage aufgegeben hat, darf man jedoch nicht vergessen, dass Spanien in dem Konflikt von vornherein kein unbeteiligter Dritter ist. Der Vertrag von Madrid, den Franco-Nachfolger Juan Carlos noch kurz vor dem Tod des Diktators 1975 mit Marokko und Mauretanien ausgehandelt hatte, um das schmutzige Geschäft der Kolonialherrschaft anderen zu überlassen, gleichzeitig aber die Wahrung der eigenen wirtschaftlichen Interessen festzuschreiben, ist zwar illegal. Das ändert jedoch nichts daran, dass Spanien und Marokko bei der Ausbeutung der Westsahara bis heute Hand in Hand arbeiten. Ein Großteil des spanischen Fischfangs kommt beispielsweise aus sahrauischen Gewässern. Umgekehrt ist auch Marokko auf Spanien angewiesen: bei Waffen, bei Energie – noch mehr seit Wegfall der algerischen Gaszufuhr. Spanien ist also weit enger in das Kolonialprojekt verstrickt, als der Vorwurf, es habe seine „neutrale Haltung“ aufgegeben, erkennen lässt.

Als Tüpfelchen auf dem „i“ ist Marokko bei den jüngsten Abstimmungen in der UN-Generalversammlung zur Ukraine schlicht fortgeblieben, um seinen Standpunkt nicht rechtfertigen zu müssen und es sich weder mit Washington noch mit Moskau zu verscherzen. Das Königreich hat anscheinend erkannt: Das internationale Recht – wonach die Westsahara ein nichtautonomes Gebiet ist, dessen Einwohnern ein Unabhängigkeitsreferendum zusteht – wird gegenwärtig in rasantem Tempo geschleift, die UNO spielt als Institution zur Konfliktlösung kaum mehr eine Rolle. Diese Chance will die marokkanische Monarchie nutzen, und es ist ausgerechnet die Linke, die ihr dabei entgegenkommt.

Quellen

Die Veröffentlichung des marokkanischen Außenministeriums:

https://www.diplomatie.ma/es/comunicado-del-gabinete-real-espa%C3%B1a-considera-la-iniciativa-marroqu%C3%AD-de-autonom%C3%ADa-como-la-base-m%C3%A1s-seria-realista-y-cre%C3%ADble-para-la-resoluci%C3%B3n-del-diferendo-sobre-el-s%C3%A1hara-marroqu%C3%AD
https://www.diplomatie.ma/fr/d%C3%A9claration-du-pr%C3%A9sident-du-gouvernement-despagne-m-pedro-s%C3%A1nchez

Die Erklärung der spanischen Regierung:

https://www.lamoncloa.gob.es/serviciosdeprensa/notasprensa/presidencia/Paginas/2022/180322-comunicado_marruecos.aspx

Analyse von Ali Lmrabet:

https://www.middleeasteye.net/fr/opinion-fr/espagne-maroc-sahara-occidental-raisons-revirement-diplomatiehttps://www.middleeasteye.net/fr/opinion-fr/algerie-maroc-espagne-sahara-occidental-expulsion-benhalima-rachad

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Eine Antwort

  1. Buenas tardes,

    ich habe die Saharauis als Nachbarn, bin 40 Flugminuten davon entfernt und sehr oft dort gewesen. Ich bin seit Jahrzehnten Spezialist in dem Thema. Bisher habe ich in deutscher Sprache nur wirklich schlechte oder bestenfalls mittelmässige und lückenhafte Texte über den Konflikt um die Westsahara und Spaniens Politik diesbzgl. gelesen.

    Dies ist der erste wirklich gute Artikel dazu seit etlichen Jahren, der nicht von mir stammt. :-) *chapeau y gracias*

    Ricardo
    ricapod.com

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