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Landtagswahl in Baden-Württemberg: Seebrücke fordert Landesaufnahmeprogramm

Die Aktivist*innen der Seebrücke Stuttgart veranstalten am Wochenende vom 06. März 2021 ein Protestcamp in der Stuttgarter Innenstadt, um auf die Lage an den EU-Außengrenzen aufmerksam zu machen und sich bei der neuen Landesregierung für ein Landesaufnahmeprogramm stark zu machen. Lukas Geisler, Autor bei critica, ist selbst Aktivist und engagiert sich für einen Wandel in der Migrations- und Asylpolitik. Vor der bevorstehenden Landtagswahl führte er mit Jonas und Lena von der Kampagne Sicherer Hafen Baden-Württemberg ein Interview.

critica: Wie laufen die Vorbereitungen für euer Protestcamp unter den wegen der Pandemie verschärften Protestbedingungen?

Lena: Die Vorbereitungen sind enorm. Dazu kommt, dass alle Planungen online ablaufen. Das ist alles unpersönlicher und dauert länger. Dazu ist Campen in der jetzigen Zeit erstmal eine Irritation für die Stadt, weswegen wir dahingehend einige Gespräche führen. Wir haben tolle Kooperationspartner*innen, die mit kreativen Ideen und viel Power dabei sind. Zusätzlich sind wir dabei, ein gutes und durchführbares Hygienekonzept zu entwickeln, so dass der Charakter eines Camps nicht verloren geht, aber eben der Schutz für alle gegeben ist.

critica: Was sind eure Forderungen an die neue Landesregierung?

Lena: Die wichtigste Forderung ist vor allem Solidarität mit Menschen auf der Flucht! Solidarität ist für mich vor allem, den Menschen Sicherheit zu geben. Sie nicht im Mittelmeer ertrinken oder in Camps unter verheerendsten Zuständen hausen zu lassen, sondern alle Menschen als Menschen mit gleichen Rechten zu sehen. Der Aktionstag findet im Rahmen der Seebrücke-Kampagne „Sicherer Hafen Baden-Württemberg“ statt. Das heißt, wir wollen vom Land ein Statement, dass sie ihre vielen Kommunen, die sich durch Gemeinderatsbeschlüsse zu einem „sicheren Hafen“ erklärt haben auch unterstützen, indem sie bereit sind, sich an Aufnahmen über dem Kontingent zu beteiligen.

Wir fordern, dass sich Baden-Württemberg vom Innenministerium emanzipiert und Seehofers Entscheidungen nicht hinnimmt, sondern sich mit anderen Ländern zusammenschließt und darauf hinwirkt, dass zum Beispiel Landesaufnahmeprogramme ohne die Zustimmung des Bundesinnenministeriums möglich sein müssen. Wir erwarten vom Land eine Beteiligung mit zusätzlichem Kontingent an den Resettlement-Programmen des Bundes. Wenn es Bundeszusagen zu einer Aufnahme gibt, müssen diese auch erfüllt werden und nicht noch weniger Menschen aufgenommen werden, wie es zuletzt nach dem Brand in Moria geschehen ist.

Jonas: Außerdem fordern wir, dass die Landesregierung sich für sichere Fluchtwege einsetzt. Kein Mensch flieht freiwillig, sondern die Angst vor Unterdrückung, Folter, Krieg oder der Verlust der Existenz im Heimatland zwingt ihn*sie dazu. Es ist einfach unmenschlich, Schutzsuchende an den Toren Europas dazu zu zwingen, noch weitere Gefahren auf sich zu nehmen, um in Sicherheit zu kommen.

Da spielt die Grenzschutzbehörde FRONTEX eine zentrale Rolle, die sich an illegalen Push-backs beteiligt. Das bedeutet, das Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen einfach wieder zurückgeschickt werden, häufig mit Gewalt und ohne, dass sie registriert werden, geschweige denn ein Asylverfahren bekommen. Das kann dann sogar so aussehen, dass FRONTEX Schlauchboote voller Menschen, auch Frauen und Kinder, einfach wieder auf das Meer hinauszieht, den Motor kaputt macht und sie ihrem Schicksal überlässt.

Auch deutsche Polizeibeamt*innen sind an solchen Einsätzen beteiligt gewesen. Daher fordern wir die Landesregierung auf, sich für eine Untersuchung der Vorfälle einzusetzen und dass deutsche Polizist*innen erst wieder an FRONTEX teilnehmen, wenn dort grundlegende Maßnahmen ergriffen wurden, solche menschenunwürdigen Praxen in Zukunft zu verhindern. Solche finden sich auch in unserer Nähe: In Pforzheim befindet sich ein Abschiebegefängnis, in dem Menschen festgesetzt werden, bis es zur Abschiebung kommt. Obwohl sich die Menschen nichts zu Schulden kommen ließen, werden sie dort wie Sträflinge gehalten. Sie haben nicht mal das Recht auf eine*n Pflichtverteidiger*in, da es ja keine Haftstrafe ist. Die Beratung durch ehrenamtliche Bündnisse vor Ort wird regelmäßig erschwert. Immerhin stehen sie kurz davor, zurückgeschickt zu werden, in ein Land, aus dem sie zuvor geflohen waren. Auch hier sehen wir dringenden Handlungsbedarf für die neue Landesregierung.

critica: Ihr arbeitet mit einem breiten Bündnis zivilgesellschaftlicher Akteure wie Fridays for Future und Amnesty International zusammen. Warum habt ihr keine politischen Parteien mit ins Boot geholt? Politiker*innen von SPD, Grünen und Linken fordern ja mehr oder weniger geschlossen, mehr Geflüchtete aufzunehmen.

Jonas: Wir haben uns mit einer Reihe zivilgesellschaftlicher Akteure für unseren Aktionstag zusammengeschlossen. Neben den von euch genannten sind auch das Asylpfarramt Stuttgart oder ein Mensch von Sarah (Search And Rescue for All Humans) dabei, der selbst schon an mehreren Rettungsmissionen im Mittelmeer beteiligt war. Außerdem sind der Flüchtlingsrat, die AGDW, die Gemeinschaftsunterkünfte hier in Stuttgart betreuen, Aufstehen gegen Rassismus, der AK Asyl, Just Human, die Black Community Foundation Stuttgart, offene Treffen gegen Krieg und Militarisierung und die Migrantifa dabei.

Lena: Wir haben politische Parteien bewusst ausgeschlossen, da wir mit der Aktion auf die Zustände an den europäischen Außengrenzen aufmerksam machen wollen. Wir wollen zeigen, dass es Menschen aus der Zivilgesellschaft gibt, die klar sagen: So nicht! Wir wollen kurz vor der Wahl nicht als Wahlkampf-Plattform missbraucht werden.

Es gibt zwar Forderungen der Parteien zu mehr Aufnahmen, allerdings verstecken sie sich meist hinter den Entscheidungen des Innenministeriums und dem Fordern einer sogenannten europäischen Lösung, die zum einen utopisch ist und zum anderen klar auf eine Abschottung Europas abzielt. So lassen eigentlich alle Parteien zu, dass geflüchtete Menschen als Menschen zweiter Klasse wahrgenommen und zum Spielball politischer Machtkämpfe auf landes-, bundes- und europäischer Ebene werden.

critica: Warum lohnt es sich, bei eurem zweitägigen Camp vorbeizukommen?

Lena: Wir wollen in Zelten übernachten, da wir eben auf die Situation der Geflüchteten in den Camps aufmerksam machen wollen. Sie können sich nicht aussuchen, ob sie im Zelt oder in einem beheizten Haus schlafen wollen. Wir werden über die Tage verteilt Kundgebungen abhalten. Zwischen den Reden wird es Infostände und Workshops geben.

Jonas: Es geht auch darum, die Situation an den Außengrenzen für die Menschen hier in Stuttgart greifbar zu machen. Dass seit 2014 nach offiziellen Zahlen mehr als 21.000 Menschen im Mittelmehr ertrunken sind, ist für viele nur noch eine Statistik. Um diese Situation greifbar zu machen, wird ein Originalboot aus dem Mittelmeer vor Ort ausgestellt sein. In genau diesem Boot haben Menschen die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer angetreten.

Außerdem werden wir vom UNHCR ein Zelt ausleihen, wie es auch in den Geflüchtetenlagern auf der ganzen Welt zum Einsatz kommt. Wir hoffen, dass die Menschen die Situation an den EU-Außengrenzen im Kopf haben, wenn sie am 14. März ihr Kreuz bei der Landtagswahl machen.

critica: Bisher sind die Bemühungen von einzelnen Bundesländern wie Berlin, mehr Geflüchtete aufzunehmen am Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gescheitert, der der Ansicht ist, dass die Asylpolitik europäisch gelöst werden muss. Was ist euer Standpunkt?

Lena: Asylpolitik darf nicht als politisches Machtinstrument gesehen werden. Ich denke, dass wir Menschen aus dem globalen Norden uns nicht vorstellen können, was es bedeutet, vor Krieg fliehen zu müssen, nicht genug Nahrung zum Überleben zu haben oder wenn Naturkatastrophen das Leben immer schwerer machen.

Es kann eine europäische Lösung geben, aber diese darf keine Abschottung beinhalten, sondern Aufnahme.

Jonas: Seit 2015 wird immer wieder erzählt, dass wir eine europäische Lösung brauchen. Dem stimme ich zu, aber seit 2015 ist nichts passiert. Es wurden schmutzige Deals mit der Türkei und Libyen abgeschlossen, und der Dublin-Vertrag, nach dem Schutzsuchenden Asyl in dem Land gewährt werden muss, in dem sie zum ersten Mal EU-Boden betreten haben, steht weiterhin. Jeder, der eine Weltkarte lesen kann, merkt, dass ein Schutzsuchender nie in Deutschland, Österreich oder Schweden erstmalig EU-Boden betreten wird, sondern in den Ländern, die aktuell hoffnungslos überfordert sind: Italien, Spanien und vor allem Griechenland. Die Leidtragenden darunter sind die Schutzsuchenden.

critica: Seht ihr eure Forderung auf der Agenda politischer Parteien während des Landtagswahlkampfs ins Baden-Württemberg?

Lena: Durch die Pandemie ist das Thema Flucht ins Abseits gerutscht. In vielen Wahlprogrammen finden wir das Thema Schutz: Schutz vor dem Virus, Schutz des Inneren – zum Beispiel durch mehr Polizeipräsenz, was für geflüchtete Menschen auch mehr Kontrollen im Alltag bedeutet. Das kritisieren wir. Gerade zum Thema Schutz gehört für mich eben auch der Schutz von Menschen, die Schutz suchen. Doch diese sind damit nicht gemeint.

critica: 2021 ist ein Superwahljahr, an dessen Ende die Bundestagswahl im September steht. Welche Tipps habt ihr für Aktivist*innen aus anderen Bundesländern, die ähnliche Aktionen planen wollen?

Lena: Schließt euch zusammen, sucht euch Kooperationspartner*innen und legt einfach los. Kommt in Kontakt mit anderen Städten oder Menschen, die Ähnliches gemacht haben, da erhaltet ihr Support.

Jede Aktion, die auf die Situationen aufmerksam macht, ist gut. Es muss kein Camp sein. Wichtig ist vor allem: Kommt mit Menschen ins Gespräch, sorgt dafür, dass die Themen in den Köpfen und Medien präsent bleiben.

Jonas: Und bleibt eurer Meinung treu. Man kann sich nicht nur mit Demos für die Rechte Geflüchteter einsetzen, sondern einfach in seinem Umfeld zu seiner Meinung stehen. Wenn Kolleg*innen, Freund*innen oder Familie mal wieder eine Stammtischparole raushauen, stark bleiben und nicht einknicken.

critica: Wir hatten vor einigen Wochen das Gedenken an den rechtsterroristischen Anschlag von Hanau. Seht ihr einen Zusammenhang zwischen rechter Gewalt und Rassismus und der Brutalisierung des europäischen Grenzregimes? Zwingt uns das aktive Sterbenlassen durch die Kriminalisierung von Seenotrettung und der strukturelle Rassismus in Deutschland noch breitere Bündnisse mit migrantischen und postmigrantischen Initiativen zu bilden?

Lena: Auf jeden Fall besteht da ein Zusammenhang. Das politische Klima hat sich in Deutschland geändert. Nach der ersten Willkommenswelle 2015 wurden die populistischen Stimmen von rechts immer lauter. Es wurden Begriffe geprägt, die noch vor Jahren undenkbar gewesen wären, wie etwa „Gutmensch“. Das Sterbenlassen an den europäischen Außengrenzen zeigt Wirkung, denn es ist vom Staat gewollt. Lieber wird eine Grenzschutzagentur bezahlt, anstatt Seenotrettung zu fördern.

Wenn sich Seehofer an seinem 69. Geburtstag freut, 69 „Flüchtlinge“ abzuschieben, dann macht das etwas mit der Bevölkerung. Die Hemmschwellen werden niedriger. Dazu kommt, dass zum Beispiel bei der Polizei immer mehr aufgedeckt wird, wie dort rechtes Gedankengut verbreitet wird.

Wenn Angriffe auf geflüchtete Menschen oder Migrant*innen als Einzeltaten von psychisch kranken Menschen abgetan werden, anstelle diese in einem Zusammenhang zu setzen, dann werden solche Straftaten bagatellisiert.

critica: Vielen Dank für das Gespräch!

Hier findet ihr die Facebook-Kampagne Sicherer Hafen Baden-Württemberg.

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