Der Hegemonialkrieg zwischen Russland und den USA sowie der NATO hat vier Dimensionen: den Schießkrieg in der Ukraine, in dem die Ukrainer die Bodentruppen des Westens stellen und die Opfer sind; einen Propagandakrieg, den der ukrainische Präsident Selenski und die westlichen Mainstraem-Medien sehr geschickt führen; ein politisch-diplomatischer Krieg in der UNO und weltweit sowie der Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland.
Angesichts des EU-Gipfels am 30./31. Mai in Brüssel waren die von Selenski immer wieder geforderten schärferen Wirtschaftssanktionen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt. Ungarns Ministerpräsident Orbán hat ein vollständiges Ölembargo gegen Russland verhindert, wie es Polen und andere Staaten fordern und Ursula von der Leyen geplant hatte. Vorher schon hatte Orbán betont: „Wir brauchen erst die Lösungen und dann die Sanktionen.“ Am Ende gab es ein Embargo gegen russische Öllieferungen per Schiff, während über die noch aus sozialistischen Zeiten stammende Ölleitung „Drushba“, an der auch Ungarn hängt, weiter geliefert wird. Vizekanzler Habeck nannte Orbáns Vorgehen „ruchlos“, weil er die Interessen Ungarns vertreten habe, während „Politik in einem höheren Interesse“ betrieben werden müsse. In deutschen Medien wurde überwiegend dahingehend kommentiert, dies diene nur „Putin“.
Tatsächlich hatte der eine Nationalist (Orbán) noch eine Rechnung offen mit dem anderen Nationalisten (Selenski). Seit 2014 sind nicht nur Russen, sondern auch die Ungarn in Transkarpatien von der restriktiven ukrainischen Sprach- und Regionalpolitik betroffen. So wurde in Ungarn berichtet, dass auf der ukrainischen Webseite „Mirotvorec“, die als rechtsextrem gilt und in Verbindung mit dem ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU stehen soll, eine Todesliste von „Feinden der Ukraine“ geführt werde, auf der Zehntausende Menschen stünden, mit Geburtsdatum, Adresse und Passnummer. Darunter aus Ungarn auch Orbán, Außenminister Péter Szijjártó, EU-Kommissar Olivér Várhelyi sowie László Brenzovics, Präsident des Ungarischen Kulturvereins in Transkarpatien, und eine Reihe von weiteren Personen, die dort in Ämtern und Institutionen tätig seien. Viele der letzteren hätten nach Kriegsbeginn besonderen Grund gesehen, die Ukraine zu verlassen: Sie fürchteten um Leib und Leben.
Da schon seit März 2022 Präsident Selenski wie auch die ukrainische Botschafterin in Budapest, Ljubov Nepop, die ungarische Regierung ob ihres zurückhaltenden Taktierens und insbesondere des Verbots, westliche Waffen über ungarisches Territorium in die Ukraine zu liefern, öffentlich kritisierten, hatte kurz nach der Parlamentswahl (dazu ausführlicher Blättchen 8/2022) der ungarische Außenminister Szijjártó die ukrainische Botschafterin einbestellt und ihr mitgeteilt, es sei an der Zeit, dass die ukrainische Führung die „Beleidigung“ Ungarns beende und deren Neutralitätspolitik akzeptiere. Damit zeigte die Regierung ein Maß an nationaler Selbstachtung, das andere EU- und NATO-Länder gegenüber Kiew derzeit nicht aufbringen.
Die Kommentare zum Brüsseler Ölkompromiss waren widersprüchlich. So schrieb die Zeitung Irish Independent: „Ein partielles Öl-Embargo ist besser als kein Embargo.“ Die Tagesschau dagegen meinte: „Lieber kein Embargo als so eins.“ Einig schienen sich dagegen alle zu sein, dass die Sanktionspolitik und nun auch das Ölembargo, „die Finanzierung von Putins Kriegsmaschinerie beschränkt“. Auch Ökonomen, die der Grünen Partei zuarbeiten, meinen, ein Importstopp fossiler Energieträger würde die Fähigkeit Russlands zur Fortsetzung des Krieges stark einschränken. Das stimme schon rein fachlich nicht, betonte hingegen der Ökonom Paul Steinhardt in der Zeitschrift Makroskop unter der Überschrift „Grüne Wirtschaftskriegsfantasien“. Eine Verringerung der Deviseneinnahmen führe dazu, dass die russischen Firmen, die Erdöl und Erdgas exportieren, weniger Einnahmen in ausländischen Währungen hätten. Der russische Staat bezahle inländisch jedoch mit Rubeln, die er selbst drucken könne, und zwar sowohl an seine Staatsangestellten, darunter die Soldaten und Offiziere, als auch für die Waffen, die er bei russischen Firmen kaufe.
Die Treibstoffe für Panzer und Flugzeuge produziert Russland im Übrigen ebenfalls selbst; auch die Waffensysteme der russischen Streitkräfte werden ausschließlich im Lande hergestellt. Und inwiefern Engpässe durch vom Westen nicht länger gelieferte Mikrochips Einschränkungen bewirkten, die nicht von China ausgeglichen werden könnten, bleibt reine westliche Mutmaßung.
Die Grundannahme von den Wirkungen der Wirtschaftskriegsmaßnahmen stimmt aber auch geopolitisch nicht. China, Indien und andere Staaten des Südens stehen bereit, zusätzlich russisches Öl und Gas zu kaufen. Bei Indien ist dies besonders offensichtlich, es kauft bereits, auch weil russisches Erdöl wegen der westlichen Sanktionspolitik auf den Weltmärkten billiger geworden ist. Im Mai 2022 erhielt Indien 24 Millionen Barrel russisches Rohöl, gegenüber 7,2 Millionen Barrel im April und drei Millionen Barrel im März. Für Juni 2022 werden indische Bezüge von etwa 28 Millionen Barrel prognostiziert. Die Gesetze des Kapitalismus lassen sich auch durch die USA und die EU nicht überlisten. Zwischen dem 24. Februar und dem 26. Mai stiegen die gesamten Wareneinfuhren Indiens aus Russland auf 6,4 Milliarden Dollar, im Vergleich zu 1,99 Milliarden im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Der Indien-Spezialist Chris Ogden von der University of St. Andrews schrieb, dass die Beziehungen zwischen Indien und Russland beziehungsweise der Sowjetunion eine lange Tradition hätten, die bis in die 1950er Jahre zurückreiche. Vor allem aber gehe die indische Außenpolitik davon aus, dass es um eine „posthegemoniale, postwestliche, multipolare Zukunft“ gehe, in der verschiedene Großmächte um Einfluss rängen. Die indische Politik widerspreche der westlichen strategischen Annahme, das Land würde „ein natürlicher Teil eines pro-demokratischen Blocks“ sein, und zeige exemplarisch „eine deutliche Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses zuungunsten der westlichen Mächte“.
Eine große deutsche Zeitung druckte kürzlich eine Weltkarte ab, auf der die Ukraine und Russland dunkel dargestellt waren, die Sanktionsländer rot und der „Rest der Welt“ gelb. Rot waren nur die USA, Kanada und die EU sowie am östlichen Rand der Weltkarte Japan, Südkorea, Taiwan, Australien und Neuseeland, die übrige Welt gelb, also der ganze „globale Süden“.
Das hat auch unmittelbare außenpolitische Folgen. Bei der Abstimmung in der UNO-Vollversammlung am 2. März 2022 zur Verurteilung des russischen Einmarsches stimmten 141 Staaten mit Ja, fünf mit Nein und 35 enthielten sich, darunter China, Indien, Pakistan und Südafrika. Bei der Abstimmung in der UNO-Vollversammlung über den Ausschluss Russlands aus dem UNO-Menschenrechtsrat ein paar Wochen später, am 7. April, stimmten jedoch nur noch 93 Staaten mit Ja, während 24 dagegen votierten und sich 58 enthielten. Aus ihrer Haltung in Bezug auf den Ukraine-Krieg machen die Staatsmänner des Südens keinen Hehl. „Das ist kein Problem mehr zwischen der NATO und Russland oder zwischen der Ukraine und Russland, es ist ein Problem für die Welt“, sagte der argentinische Präsident Alberto Fernández bei einem gemeinsamen Auftritt mit Kanzler Olaf Scholz vor der Presse in Berlin am 11. Mai 2022 und schloss Sanktionen seines Landes gegen Russland aus. Auch der südafrikanische Präsident, Cyril Ramaphosa, lehnte es auf der gemeinsamen Pressekonferenz aus Anlass des offiziellen Besuches von Scholz am 24. Mai 2022 in Pretoria ostentativ ab, Russlands Invasion in der Ukraine einen Krieg zu nennen, und er kritisierte die westliche Sanktionspolitik: „Selbst jene Länder, die Zuschauer oder gar nicht Teil des Konflikts sind, werden unter den Sanktionen leiden, die gegen Russland verhängt wurden.“
Der indische Schriftsteller und Essayist Pankaj Mishra betonte: „Das antiquierte Denkmodell des Kalten Krieges – Demokratie gegen Autokratie, wie US-Präsident Joe Biden sagt – ist irreführend. Es erweckt den Eindruck, es gäbe nur diese zwei Machtblöcke. In Wahrheit ist die Welt zutiefst vernetzt. Indem ihr Russland bestraft, bestraft ihr unbeabsichtigt viele andere und ärmere Länder.“ Und er fragte ganz direkt: „Habt ihr das alles bis zum Ende durchdacht?“
Für die Welt des Südens ist es wieder ein „Krieg der weißen Männer“ im Norden.
Der Beitrag von Erhard Crome ist eine Übernahme aus der soeben erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden. Allerdings haben auch nicht-kommerzielle Projekte Kosten. Daher helfen Soli-Abos zum Bezug als PDF (hier klicken) oder in einem eBook-Format (hier klicken) dem Redaktionsteam bei der Lösung dieser Frage.
Eine Antwort
Weiße Männer, sind auch nahezu die einzigen, die dort sterben. Nicht freiwillig. Sie werden dort verheizt. Befindet man sich jetzt in den Niederungen des Genderismus und den Untiefen der weiblichen Politik, von der die Kriegshetze ausgeht? Wenn es nicht so traurig wäre, man müßte lachen.