Iran: Aufstand der Hungrigen

Seit einer Woche demonstrieren bei Dunkelheit Menschen im Iran auf den Straßen. Der Staat und Eliten sind gespalten und verunsichert, die geopolitischen Gegner in Washington, Tel Aviv und Riad feiern eine Party. Es sind noch nicht die großen Massen, die in der Dunkelheit Parolen rufen. Doch diese Protestbewegung ist eine große Herausforderung für den iranischen Staat: Anders als die grüne Bewegung 2009 sind die spontanen Proteste sehr radikal und fordern das Ende der politischen Herrschaft des islamischen Klerus.

Hunger nach Brot

Ausgelöst wurden die Proteste durch einen Finanzskandal mehrerer Hedgefonds, die von reichen Mullahs betrieben wurden. Mit hohen Versprechen von 30-40% Zinsen wurde das Erstparte vieler Bürger in die Fonds gelockt. Durch Korruption verschwanden die Anlagen und die Hedgefonds gingen Pleite, viele Menschen verloren ihr letztes Hab und Gut. Bereits im Vorfeld wurden immer mehr Korruptionsskandale bekannt. Ausgerechnet der inzwischen aus dem Kreis der konservativen Mullahs ausgestoßene Ex-Präsident Ahmadinejad veröffentliche nach Festnahme seiner Mitarbeiter viele Fälle von Korruption in den religiösen Zirkel. Die Wut kochte hoch, und gerade in Mashhad, eine Hochburg des konservativen Klerus, kam es zu Demonstrationen. Zunächst wurde der Rücktritt des reformorientierten Präsidenten Rohani gefordert. Doch binnen kurzer Zeit schrien die Menschen Parolen für das Ende des Mullah-Staats. Am deutlichsten war dieser Ruf an den ersten Demos an der Tehraner Universität: „Reformer oder Konservative: Das Spiel ist aus!“

Der Hegdefondskandal und die Protste in Mashhad waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Proteste bereiteten sich sehr schnell in bis zu 100 Ortschaften aus. Die Demonstrationen sind eine spontane und dezentrale Bewegung in Reinform. Menschen kommen aus den Häusern auf die Straße, reden miteinander, und ab gewissen Momenten rufen sie Parolen. Anders als 2009 gibt es keine Führungsfiguren, keine einheitliche Farbe oder Forderungen. Die Parolen sind überall unterschiedlich. Bestimmend sind sozialen Forderungen nach Brot und besserem Einkommen, aber es wird auch nach dem alten König gerufen, man hört auch sozialistische Parolen. Es sind keine gigantische Mengen von Menschen auf den Demos, aber sie können nur stattfinden, weil das ganze Umfeld in den Stadtteilen die Proteste unterstützt. Sie sind nicht geplant, es gibt keinerlei Organisation im Hintergrund. Social Media ist gesperrt, sogar das Internet wurde im ganzen Land für einige Stunden ganz abgeschaltet.

Anders als die grüne Bewegung war die Hochburg der Proteste und die stärksten Zusammenstöße mit Sicherheitskräften nicht in Tehran, sondern in den Provinzen. Am heftigsten waren die Proteste in der Stadt Ize, eine Art Slum-City im Süden Irans. Hier geriet die Stadt für mindestens einen Tag außer Kontrolle der Sicherheitskräfte, einige staatliche Gebäude wurden geplündert. Die Dürren und dramatischen Umweltschäden haben weite Teile der Landwirtschaft im Süden des Landes zerstört, und Ize ist ein Ort der massenhaften Landflucht. Augenzeugen berichten, dass auch in Tehran ganz andere soziale Gruppen auf der Straße sind als 2009: nicht die gebildeten Schichten aus dem Norden bestimmen dieses Mal das Bild der Demos, sondern junge Menschen aus dem Süden der Stadt mit den billigen Klamotten aus den armen Vierteln. Das islamische Regime hatte sich immer als Vertreter der Armen (Mostasafin) erklärt. Nun rufen die Armen auf den Straßen nach Brot und Sturz der „Mullah-Kapitalisten“.

Soziale Krise und neoliberale Austerität

Die soziale Lebenssituation der meisten Iraner ist von großer Unsicherheit und Leid geprägt. „Ursache für den Aufstand hier: die ganze Jugend ist ohne Jobs“, so der Parlamentsabgeordneter aus Ize, Khademi. Für unzählige Menschen besteht ihr Alltag aus dem verzweifelten Anrennen für Jobs, während sich bei einer schwindelerregenden Inflation von über 20% ständig alles verteuert. Der niedrige Ölpreis und die Sanktionen des Westens setzten der Wirtschaft weiter zu und schränkten die Möglichkeiten des Staates ein. Die Sanktionen waren aber eine gute propagandistische Hilfe für den Staat, der die wirtschaftliche Misere auf den imperialistischen Westen schieben konnte. Doch auch das Ende der Sanktionen brachte keinen neuen Aufschwung, außer dass einige korrupte Mullahs und ihr militär-ökonomischer Komplex der Revolutionsgarden sich bereicherten. Arbeiter in staatlichen Betrieben bekommen Monatelang keinen Lohn, die Gehälter des öffentlichen Dienstes halten nicht mit der Inflation mit. So kam es in den letzten Monaten zu immer mehr sozialem Protest im Iran. Arbeiter versammelten sich immer wieder vor Rathäusern und forderten nach ihren Gehältern, obwohl die Aktivisten ständig verhaftet wurden und jeder Versuch einer Gewerkschaft sofort polizeilich unterbunden wurde. In den Hebko-Werken in Arak und in der Zuckerindustrie im Süden kam es immer wieder zu Streiks. Rentner begannen zu protestieren, weil ihre Renten einfach nicht zum Überleben reichen, Lehrer waren immer wieder auf der Straße für faire Löhne. Nach den Berichten der staatlichen Organisation Isargara gab es seit März 2016 bis heute 1.700 Protestaktionen im Iran mit sozialen Themen.

Für die jetzige Eskalation der sozialen Unzufriedenheit ist auch der neue Haushalt der Regierung Rohani verantwortlich, den man mit der Austeritätspolitik in Südeuropa vergleichen kann. Der Reformer hatte viel Hoffnung geweckt und die Wahlen wieder klar gewonnen. Doch im neuen Haushalt sollen nun Sozial-, -Bildungs- und Gesundheitsausgaben gekürzt werden, während der Militärhaushalt der Revolutionsgarden bis über 30% steigen soll. Dies führte zu einer großen Welle der Empörung in den sozialen Medien, wo auch prominente Fürsprecher von Rohani sich gegen die soziale Ungerechtigkeit äußerten.

Hunger nach Freiheit

Neben den sozialen Ursachen wird die Revolte von einem Freiheitsbestreben iranischer Jugend betrieben. Die iranische Gesellschaft ist in vielen Belangen eine Hochburg der Modernität im Nahen Osten. Mit 2 Millionen Studierenden gibt es soviele Akademiker wie in Deutschland, und die meisten Absolventen sind weiblich. Iraner sind weltweit Avantgarde in social Media: es gibt allein 40 Millionen Telegram-Profile, persisch war zwischenzeitlich die 4. größte Sprache im Netz.

Der Staat allerdings ist diktatorisch und der islamische Klerus die höchste Instanz in Staat und Gesellschaft. Religion ist auch der Grund, warum der Staat sich auch in das Privatleben und die Lebensweise der Bürger einmischt. Die Spitze und das höchste Symbol der religiösen Bevormundung ist der Schleierzwang für die Frauen.

Dieser Widerspruch zwischen der Modernität der Gesellschaft und die Rückständigkeit eines klerikalen politischen Systems ist der Grund, warum soziale und ökonomische Konflikte sofort politisch werden und die ganze Ordnung in Frage stellen. So war es die größte revolutionäre Tat, als eine junge Frau auf einem öffentlichen Platz ihr Kopftuch abnahm und auf einem Stab als eine weiße Fahne in die Luft trug.

Der Nahe Osten und die Gefahr aus dem Ausland

Sollte die Revolte tatsächlich den iranischen Staat entmachten, droht eine Intervention aus dem Ausland. Die USA und ihre Verbündeten in der Region, allen voran Israel und Saudi-Arabien, warten auf die Gelegenheit, um ihren Rivalen soweit wie möglich zu schwächen. Iran ist ein multiethnischer Staat und die größte Gefahr ist das Anstacheln von ethnischen Konflikten. Im Süden des Landes lebt eine sunnitische Minderheit, in Nordwesten eine türkischstämmige Bevölkerung, an der Grenze zu Irak sind die iranischen Kurden. Trotz vielen ethnischen Ressentiments kam es in der neueren Geschichte Irans zu keinen wirklich großen ethnischen Zusammenstößen. Dennoch ist die Entwicklung in Syrien eine Warnung für den Iran. Der Djihadismus kann aus dem Ausland schnell importiert werden. Aber so leicht wird es im Iran nicht sein, da die große Mehrheit Shiiten sind, und auch wegen der Sprache und Kultur ausländische Terroristen sich im Land nicht gut bewegen und verstecken können.

Iran ist ein Schlüsselland für den Nahen Osten: 1979 hat die Revolution im Iran alles im Nahen Osten verändert: Nachdem die Islamisten sich durchgesetzt haben, begann der politische Islam zu einer weltweit relevanten Bewegung zu werden. 2009 hat die grüne Bewegung im Iran eine Welle der Revolten in der ganzen Region inspiriert, die auch die westlich gestützten Diktaturen in Tunesien und Ägypten erschütterten. Eine Demokratisierung Irans und die Entmachtung des Klerus würde wieder die ganze Region verändern. Sollte es gelingen, eine politische Ordnung zu etablieren, die mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit realisiert, würde wieder eine starke Brise der Hoffnung durch den Nahen Osten ziehen.

Ein Gastbeitrag von Pedram Shayar.

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