Hier im Europaparlament werden Europas Rechtsparteien einen wachsenden Einfluss haben. Foto: Based on European Parliament, Flickr, licensed under CC BY-NC-ND 2.0.

In welchem Europa wollen wir leben?

Am 26. Mai wird ein neues Europäisches Parlament gewählt. Anlass genug, sich mit der aktuellen Lage der Europäischen Union auseinanderzusetzen, findet Dorian Tigges.

Als sich die griechische Bevölkerung 2015 in einer Volksabstimmung mehrheitlich gegen ein WeiterSo der Spardiktate von EZB und Troika und für ein Ende des Sozialabbaus aussprach, schien ein besseres Europa kurzzeitig möglich.

Ein Europa, das so viel mehr als Massenarbeitslosigkeit, Schuldenbremse und Sozialstaatsabbau bedeuten könnte. Ein Europa, das tatsächlich, wie in zahllosen Sonntagsreden immer wieder beschworen, eine friedliche Rolle in der Welt spielt, ein solidarisches Miteinander der Menschen und Staaten sicherstellt und auf gegenseitiger Kooperation und Unterstützung basiert.

Doch kaum drei Tage später, als das griechische Parlament gezwungen wurde, eben jenen Spardiktaten zuzustimmen, die das Volk zuvor abgelehnt hatte, wurde klar, dass in der EU – ebenso wie in der Eurogruppe -weniger demokratische Prinzipien als vielmehr wirtschaftliche Interessen dominieren.

Was bisher geschah…

Dies liegt auch nahe, wenn man sich die Geschichte der EU genauer anschaut. Sie war, angefangen bei ihren ersten Vorgängerorganisationen in den 1950er Jahren, immer eine Institution, deren primäre Aufgabe in der stärkeren Vernetzung und gegenseitigen Öffnung der (west-)europäischen Binnenmärkte bestand. Das sollte natürlich auch dazu dienen, in Westeuropa ein gemeinsames Wirtschaftssystem aufzubauen, welches konkurrenzfähig mit jenem des Ostblocks war, und insbesondere die Bundesrepublik als Vorposten der USA in Europa zu stärken.

Die in den grundlegenden Verträgen postulierten Europäischen Grundfreiheiten sind daher auch vielmehr Freiheiten für Waren- und Kapitalströme als für Menschen, seien sie europäische Bürgerinnen und Bürger oder nicht. Einzig das Schengener Abkommen brachte ab Mitte der 1980er Jahre einen Wegfall der Grenzkontrollen und eine verstärkte innereuropäische Freizügigkeit für seine Einwohnerinnen und Einwohner.

Auch sind die Europäische Union bzw. Gemeinschaft und ihre Mitgliedsstaaten bis heute eng mit den Strukturen der NATO verbunden. Provokative Militärparaden an der russischen Grenze, wie etwa in Estland geschehen, sind nicht getrennt von der europäischen Außenpolitik zu sehen. Vielmehr gehen wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit häufig Hand in Hand.

Den Wohlstand abschotten

In den letzten Jahren machte die EU und ihre sogenannte Grenzschutzagentur Frontex mit einer zutiefst menschenverachtenden Politik von sich reden. Dass alles dafür getan wird, flüchtende Menschen aus den Bürgerkriegs- und Armutsregionen des globalen Südens möglichst bald in Elend und Lebensgefahr zurückzuschicken, reicht anscheinend nicht mehr aus. Durch Repressionen gegen zivile Seenotrettungsmissionen wie die Lifeline wird massenhaft dafür gesorgt, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken oder in libyschen Auffanglagern unter schlimmsten Bedingungen festgehalten werden. Verträge der EU mit autokratischen Regimes in Nordafrika dienen dabei ebenso wie eine sich immer weiter zuspitzende Militarisierung der Grenzsicherung zur weiteren Perfektionierung dieser Abschottungspolitik.

Einer Abschottung, die maßgeblich dazu dient, die EU-Staaten gegen das, insbesondere durch internationalen Handel, auch von ihnen verursachte Elend im Rest der Welt zu immunisieren. Dass auf Kosten des „Europäischen Friedensprojekts“ Millionen von Menschen anderswo verhungern, ertrinken, vergewaltigt oder ermordet werden, spielt für die mächtigen politischen Akteure keine Rolle und soll es auch für die europäische Bevölkerung nicht tun.

So ist die Europäische Union heute im zunehmenden Maße nicht mehr nur eine Freihandelszone oder „Wertegemeinschaft“ von Staaten, sondern auch ein eigenständiger imperialer Akteur. Der geplante Aufbau einer europäischen Armee, die von Merkel und Macron im letzten November als visionäres Friedensprojekt gelobt wurde, ist nur ein Anzeichen dafür. Ebenso wird die sogenannte Östliche Partnerschaft zunehmend zu einem aggressiven geopolitischen Instrument gegenüber Russland. Die Zusammenarbeit mit Faschistinnen und Faschisten, wie in der Ukraine, ist dabei längst kein Tabu mehr und Kriege im postsowjetischen Raum – so geschehen in Georgien oder der Ostukraine – sind stets eine Gelegenheit, die russische Regierung international weiter zu isolieren und damit die Chance auf dauerhaften Frieden in Europa zu reduzieren.

Für mehr Solidarität

Die EU ist ein Projekt der wirtschaftlich Mächtigen. Ihre Politik ist maßgeblich geprägt durch Sozialabbau, Privatisierung und Aufrüstung. Und doch steckt in der Idee, die solidarische Zusammenarbeit in Europa zu stärken, eine ganze Menge an progressivem Potenzial. Die Frage, die sich also nahezu aufdrängt, ist, inwieweit wir alle dafür sorgen können, dass die EU zu einem friedlichen und sozialen Projekt wird, das den einzelnen Menschen tatsächlich hilft: angefangen bei hohen Sozialstandards, einer angemessenen und gleichmäßig progressiven Besteuerung von Unternehmen bis zu einer deeskalativen Politik nach Außen.

Viele Linke gehen davon aus, dass diese Möglichkeit innerhalb der bestehenden Strukturen schlichtweg nicht mehr gegeben ist. Ihre neoliberalen Aspekte seien zu tief eingeschrieben in die DNA der EU. Ein Neustart des europäischen Projekts durch den Bruch mit den bestehenden Verträgen sei der einzige Weg, auf dem die EU auch sozial ausgestaltet werden könnte.

Andere wiederum sehen in der noch weitergehenden Vertiefung der europäischen Integration hin zu einer gemeinsamen Republik die Lösung des Problems. So könne die institutionelle Grundlage für ein freies und tatsächlich sozialistisches Europa geschaffen werden. Dass auch die Rechten und Neoliberalen bei der Schaffung eines solchen Staates nicht still zusehen, sondern versuchen werden, ihre Vorstellungen in Verfassung und Struktur einzuschreiben, steht auf einem anderen Blatt.

Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen steht jedoch fest: Der einzige Weg, um soziale Perspektiven in der EU hörbar zu machen, geht fürs Erste über die Stärkung der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken: der Unterstützung von sozialen, feministischen und ökologischen Bewegungen!

Der Artikel erschien in der neuen Ausgabe unseres Medienpartners Critica.


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