Warum Linke den Protest auf der Straße organisieren müssen, statt in die Regierung zu gehen, erklärte Rosa Luxemburg schon 1899. Schon vor über 100 Jahren haben Linke diskutiert, ob sie in einer Regierung bessere Politik durchsetzen können. Im Juni 1899 holte der rechte französische Premierminister Waldeck-Rousseau den Sozialisten Alexandre Millerand als Handelsminister in die Regierung.
Jean Jaurès, der damals bekannteste französische Sozialist, verteidigte Millerand: Zum einen sei es notwendig, eine noch rechtere Regierung zu verhindern. Außerdem wollte Jaurès mit der Regierungsbeteiligung den Übergang zu einer fortschrittlicheren Gesellschaft beginnen, in der die politische Macht gemeinsam von Bürgertum und arbeitender Klasse ausgeübt wird. Diese Ansicht teilten in Frankreich die meisten Sozialisten.
Rosa Luxemburg hielt die Regierungsbeteiligung hingegen für einen grundlegenden Fehler der Sozialisten. Sie hatte die Idee des Übergangs zu einer besseren Gesellschaft durch Regierungsbeteiligung schon im April 1899 in ihrer Schrift „Sozialreform oder Revolution“ abgelehnt. Darin kritisiert sie Eduard Bernsteins, einen führenden Theoretiker der damals ebenfalls sozialistischen SPD. Ähnlich wie Jaurès wollte Bernstein die SPD vom Ziel der Revolution abbringen und zu einer linken Reformpolitik bewegen.
Nach Luxemburg gibt es jedoch keinen Widerspruch zwischen Reform und Revolution. Beides hänge vielmehr unzertrennlich zusammen, weil „der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist“. Während Bernstein schrieb: „Der Weg ist mir alles. Das Ziel ist mir nichts“, erklärte Luxemburg, das Ziel des Sozialismus sei das Entscheidende, was die sozialistische Bewegung von anderen Linken unterscheide.
Luxemburg unterstützte die Besetzung von Posten durch Sozialisten nur unter der Voraussetzung, „dass es Positionen sind, auf denen man den Klassenkampf, den Kampf mit der Bourgeoisie und ihrem Staate führen kann.“ Das Parlament biete solche Positionen, allerdings nur in der Opposition. An der Regierung sei kein Spielraum, die Interessen der Arbeiter zu vertreten.
Luxemburg erläutert, dass die Arbeit einer Regierung weniger durch die beteiligten Personen, sondern mehr durch ihre Funktion in der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt wird. Die Regierung des bürgerlichen Staats sei eine Institution, um Klassenherrschaft auszuüben und die bürgerliche Ordnung überhaupt aufrechtzuerhalten.
Dabei folgt Luxemburg der Theorie von Karl Marx, wonach die Kapitalisten als wirtschaftlich herrschende Klasse im Wesentlichen auch die Politik des Staates kontrollieren können. Der Staat ist laut Marx ein Werkzeug, mit dem die Herrschaft einer Klasse über die Mehrheit aufrechterhalten wird: „Die moderne Staatsgewalt ist ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet.“ Der Kern der Macht des Staates liege in der Kontrolle der Mittel der Zwangsgewalt, deren Rückgrat die bewaffneten Streitkräfte bilden.
Daraus schloss Luxemburg, dass Sozialisten nur in eine Regierung gehen sollten, wenn die Arbeiter den Kapitalismus bereits gestürzt haben: „Die Vertreter der Arbeiterklasse können, ohne ihre Rolle zu verleugnen, nur in einem Falle in die bürgerliche Regierung eintreten: um sich ihrer gleichzeitig zu bemächtigen und sie in die Regierung der herrschenden Arbeiterklasse zu verwandeln. In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staats auftreten.“
Sozialisten, die im Kapitalismus in eine bürgerliche Regierung eintreten, würden hingegen nicht die Regierung verändern. Stattdessen verändert die Regierung die Sozialisten.
Eine Regierungsbeteiligung hindert eine linke Bewegung daran, ihre wirkliche Macht zu zeigen. Diese kann eine sozialistische Partei nur entfalten, wenn sie eine konsequente Oppositionspolitik betreibt und die Bühne des Parlaments dazu nutzt, die außerparlamentarischen Proteste zu stärken.
Was linke Regierungsbefürworter eine „unfruchtbare Opposition” nannten, war nach Luxemburg die wesentlich effektivere und praktischere Politik: „Weit entfernt, praktische, handgreifliche Erfolge, unmittelbare Reformen fortschrittlichen Charakters unmöglich zu machen, ist die grundsätzliche Opposition vielmehr für jede Minderheitspartei im allgemeinen, ganz besonders aber für die sozialistische, das einzige wirksame Mittel, praktische Erfolge zu erzielen.”
Luxemburgs Biograf Paul Frölich belegte später Luxemburgs Theorie anhand Millerands Politik: „Nach ersten Ansätzen Millerands zu sozialen Reformen verkündete die Regierung zunächst die ‚Pause‘, um dann selbst den Schein der Konzessionen an ihre sozialistischen Bundesgenossen fallen zu lassen und brutale reaktionäre Maßregeln durchzuführen.
Jeder Widerstandsversuch der Sozialisten wurde durch die Drohung erstickt, die Regierungskoalition aufzugeben und der Reaktion das Feld zu überlassen. So bestimmte der Grundsatz des ‚geringeren Übels‘ die ganze sozialistische Politik und nötigte die Partei zu immer schlimmerer Kompromittierung.
Sie wurde immer stärker von der Regierung abhängig, ohne jeden Einfluss auf die praktische Politik der Regierung. So endete ein Anlauf zur Verkürzung der Arbeitszeit mit einer Verlängerung der Arbeitszeit für Kinder und einer bloßen Hoffnung auf die Zukunft; die beabsichtigte Sicherung des Streikrechts – mit seiner Verklammerung in juristische Fesseln.“
Millerands politische Einstellung veränderte sich während seiner Regierungszeit so stark nach rechts, dass er den Sozialismus schließlich komplett ablehnte. Millerand wurde rechter Politiker und von Beginn des Ersten Weltkriegs bis 1915 Kriegsminister.
Eine Antwort
Nun,
ist doch interessant, wie die Linken immer für Reformen antreten, und dann im Kriegskabinett enden.
Gibt’s da etwa Parallelen zu heute???
Aber nicht doch, warum sollte man auch aus der Geschichte lernen…. nicht wahr Herr Gabriel!!!