Gaza - Bild: Motaz Azaiza

Gaza: Die Bundesregierung ist mitverantwortlich für den größten Kinderfriedhof der Welt – Im Gespräch mit Eyüp Yildiz

Eyüp Yildiz, war stellvertretender Bürgermeister von Dinslaken im Ruhrgebiet, im Juni trat er aus der SPD aus, weil er deren Außenpolitik, insbesondere zu Gaza ablehnte. Heute vor einer Woche wurde er als stellvertretender Bürgermeister abgewählt. Wir haben mit ihm über seine Abwahl, deutsche Außenpolitik und seine Ideale gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Du warst stellvertretender Bürgermeister in Dinslaken und bist im Juni trotzdem aus der SPD ausgetreten, weil die SPD Waffen an Israel liefert und die dortige Regierung unterstützt. Was hättest du dir von deiner alten Partei gewünscht? 

Eyüp Yildiz: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich ganz prinzipiell zunehmend an der Friedenspolitik der SPD verzweifelt bin. Dann habe ich grausamste Bilder aus dem Gazastreifen gesehen, die ich hier nicht beschreiben mag. Das war der endgültige Anstoß, die SPD zu verlassen. Gewünscht hätte ich mir, dass die SPD da genau hingeschaut und sich nicht weggeduckt hätte. Sie hätte sich bewusst machen müssen, dass deutsche Waffenlieferungen mitverantwortlich sind für den größten Kinderfriedhof dieser Welt, nämlich im Gaza, dass der humanistische Grundgedanke der SPD für alle Menschen gelten muss und Palästinenserinnen und Palästinenser nicht ausschließen darf.

Gewünscht hätte ich mir, dass die SPD sich klargemacht hätte, wessen Geistes Kind die aktuelle israelische Regierung tatsächlich ist. Netanjahu hat die Ultrafaschisten wieder hoffähig gemacht. Er brachte drei extremistische Parteien zusammen, unter ihnen die Nachfolgepartei der einst verbotenen rassistischen Kach-Partei. In dieser Vereinigung, die sich nun Religiöse Zionisten nennt, schafften die Extremisten den Einzug in die Knesset. Zu diesem Personenkreis gehört unter anderem Itamar Ben-Gvir, ultrarechter Minister für Nationale Sicherheit, er ist wegen Anstiftung zu rassistischer Gewalt bereits vorbestraft. Neben ihm ist auch Bezalel Smotrich, Teil der Regierung, als Finanzminister und Defacto Gouverneur hat er sogar noch einen wichtigeren Posten als Ben-Gvir, und das obwohl, dass er sich als „faschistischen Homophoben“ bezeichnet. Das alles weiß die Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP, es hat aber keine erkennbaren Auswirkungen auf ihr Handeln. 

Die Waffenlieferungen haben mir bewusst gemacht, dass meine ehemalige Partei, die SPD, mit zweierlei Maß misst. Hier in Deutschland kritisiert sie die Rechtsradikalen, was ja richtig und zu unterstützen ist. Aber einer rechtsradikalen Regierung in Israel liefert sie unter anderem 3.000 Panzerfäuste vom Typ Matador, die bei uns in Nordrhein-Westfalen produziert werden. Das nenne ich heuchlerisch.  

Das daraus entstehende Leid, ist unermesslich. Das Trauma, das dies bei den überlebenden Kindern auslöst, lässt sich nicht in Worte fassen. Selbstverständlich haben auch israelische  Familien, deren Familienmitglieder von der Hamas entführt, gefoltert und getötet wurden, unendlich viel Leid zu ertragen. Mensch ist Mensch, egal welche Nationalität er besitzt oder welcher Religion er zugehört. Wir machen keine Unterschiede. Der Schmerz ist derselbe, allerdings unterscheiden sich die Hauptfiguren, die ihn verursachen oder unterstützen 

Die Freiheitsliebe: Was hat dich abgesehen von der Nahostpolitik gestört? 

Eyüp Yildiz: Ich bin mit den Idealen von Willy Brandt aufgewachsen. Vertrauensbildung, Deeskalation, Abrüstung, Diplomatie und friedliche Koexistenz waren meine Schule. Die heutige SPD hat sich gewandelt, von einer Friedens- zu einer Kriegspartei, die einfach Waffen liefert, ohne zu hinterfragen. Sie gibt damit einen Debattenton vor, den ich unerträglich finde. Versuchen Sie mal, in den sogenannten Sozialen Netzwerken zu Frieden und Deeskalation aufzurufen. Prompt werden sie als „Putinversteher“, „Putin-Knecht“, „Populist“, „Verräter“ diskreditiert. Ich frage mich oft, was das für Menschen sind, deren Denken so voller Hass, Verblendung, Oberflächlichkeit und ohne den Hauch von Empathie ist. Einige scheinen so auf Krieg gedrillt, dass allein das Wort „Frieden“ für sie als Reizwort oder als purer Populismus gilt. Es gibt noch viele Punkte, sehr viele Punkte, die ich politisch kritisiere – wie etwa den schleichenden Prozess der Neoliberalisierung und Entsolidarisierung unserer Gesellschaft. 

Die Freiheitsliebe: Hat sich die SPD in den letzten Jahren verändert oder haben sich deine Positionen verändert? 

Eyüp Yildiz: Meine Positionen waren immer die gleichen. Ich habe immer für Chancengleichheit gekämpft. Grundschulen, an denen über 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben, sind Orte, wo die Lebensläufe vorgezeichnet werden. Das vorgegaukelte Wir-Gefühl in den Integrationsplänen von Bund und Land ist lediglich Schönfärberei. Denn die Realität erzählt uns eine andere Geschichte. Sie erzählt von Verelendung von Stadtteilen, von Kindergärten und Grundschulen, die eine Migrantenquote von über 90 Prozent aufweisen. Wohinein sollen sich diese Kinder denn integrieren?

Stattdessen wird eine künstliche Integrationsindustrie erschaffen, um der Mehrheitsgesellschaft eine gelungene Integration vorzugaukeln. Die Integrationsindustrie lebt sehr gut damit. Aufgegriffen wird das Problem der Verelendung von Stadtteilen nicht. Es gibt lediglich Lippenbekenntnisse, die keinem helfen. Dies gilt nicht nur für die SPD. Das ist eine Insolvenzerklärung der Politik, da diese Stadtteile mit prekärer Bildungs- und Arbeitssituation immer größer werden und der Sozialstaat aufgrund der von der Politik verschuldeten finanziellen Lage immer weiter abgebaut wird. Auch meine Einstellung zu den Waffenlieferungen hat sich nicht verändert, sie war immer da . Die Kritik meinerseits in Bezug auf den Neoliberalismus ist auch nicht neu. 

Die Freiheitsliebe: Nach deinem Austritt bist du zum BSW gegangen, was hat dich dazu bewogen? 

Eyüp Yildiz: Wie gesagt, ich habe Fotos und Videos aus dem Gaza-Krieg gesehen. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich, welche Aufgabe ich habe. Es bringt aber nicht viel, sich alleine auf den Weg zu machen. Also habe ich nach Verbündeten gesucht und bin nur auf eine Partei gestoßen, die in den meisten Punkten mit meinen Idealen kompatibel war: das BSW. Für Vernunft und Gerechtigkeit 

Die Freiheitsliebe: Medial wird BSW vor allem wegen der Ukrainepolitik kritisiert, wie stehst du zu Russlands Angriffskrieg und was siehst du als Lösung für die Ukraine? 

Eyüp Yildiz: Zuallererst möchte ich erwähnen, dass mir die ukrainische Bevölkerung unendlich leid tut. Sie erleidet das gleiche Trauma, wie die Palästinenser und Juden. Krieg ist Krieg. Da gibt es keinen Unterschied. Es handelt sich glasklar um einen völkerrechtswidrigen Angriff. Ob es sich um einen provozierten oder unprovozierten Angriff handelt, in dem Punkt scheiden sich die Geister. Nach meiner Meinung gibt es diesen Krieg nicht erst seit 2022. Er tobt bereits seit 2014. In diesem vergessenen Krieg starben über 10.000 Menschen im Donbass, russischsprachige Menschen. Dass diese Tatsache dem Kreml nicht gefallen hat, liegt auf der Hand. Danach ist Russland einmarschiert. Übrigens hat der damals noch lebende Altbundeskanzler Helmut Schmidt die EU-Kommission eindringlich davor gewarnt, sich dort einzumischen. Er sagte: „Das ist Größenwahn, wir haben dort nichts zu suchen. Ich halte nichts davon einen dritten Weltkrieg herbeizureden, erst recht nicht von Forderungen nach mehr Geld für Rüstung der NATO. Aber die Gefahr, dass sich die Situation verschärft wie im August 1914, wächst von Tag zu Tag.“

Diese Mahnung des großen Sozialdemokraten wird in der aktuellen Situation von der SPD ignoriert. Den Preis hierfür will ich mir nicht ausdenken. Soviel zur Historie. Fakt ist, dass Menschen sterben. Mit Waffenlieferungen werden wir diesen Krieg nicht beenden. Es muss dringend direkt mit dem Kreml verhandelt werden. Keine Waffenlieferungen mehr in die Ukraine. Der nächste vernünftige Schritt wäre, die Menschen im Donbass und auf der Krim im Rahmen eines Referendums unter UN-Aufsicht zu fragen, zu welchem Land sie gehören wollen. Das Töten muss sofort aufhören. Andernfalls könnte es zu einem Weltkrieg kommen, den niemand wollen kann. 

Die Freiheitsliebe: Am Dienstag, 8. Oktober, wurdest du als stellvertretender Bürgermeister abgewählt, du hattest zuvor erklärt, dass dir deine Ideale und Ziele wichtiger sind als Ämter. Hätte es denn die Möglichkeit gegeben, dein Amt zu behalten? Wie verlief die Abstimmung? Wie wirst du dich nun politisch einbringen? 

Eyüp Yildiz: Natürlich hätte es eine Möglichkeit gegeben. Der Rat brauchte für meine Abwahl eine Zweidrittelmehrheit. 47 von 62 Ratsmitgliedern haben meiner Abwahl in geheimer Wahl zugestimmt. Hätten nur 41 der Ratsmitglieder dafür gestimmt wär ich noch stellvertretender Bürgermeister. Aber die Mehrheit war nun mal dafür. Die Abstimmung erfolgte ohne Aussprache. Ein Amt kann man mir wegnehmen, aber meine Ideale und Ziele verändert das nicht. Für diese Ziele werden wir uns mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit auch einsetzen.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

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