Ein Blick auf das Leben von Frantz Fanon, des wohl wichtigsten Kritiker von Kolonialismus des vergangenen Jahrhunderts.
Lange Zeit vergessen, wecken die Werke Frantz Fanons in den letzten Jahren verstärktes Interesse. Der Schriftsteller und Psychiater Fanon wurde in den 1960er Jahren wegen seiner radikalen Kritik am kolonialen Rassismus und dessen Einfluss auf die kolonisierten Völker zur linken Berühmtheit.
Seine packenden Beschreibungen, wie der Rassismus die Menschen nicht nur physisch, sondern auch mental und emotional zerstört, inspirierte die Führungsfiguren der Black-Power-Bewegung in den USA. Fanons Name bleibt aber auch untrennbar verbunden mit seiner kontroversesten und kompromisslosesten Haltung: dem Einsatz für das Recht kolonisierter Völker, in ihrem Befreiungskampf Gewalt anzuwenden.
Schwarze Haut, weiße Masken
Fanon wurde am 20. Juli 1925 auf der karibischen Insel Martinique geboren. Er wuchs unter dem französischen Kolonialregime auf, das dort bis zum heutigen Tag herrscht. Im Zweiten Weltkrieg trat er in die französische Armee ein, um den Faschismus zu bekämpfen. Der Krieg führte ihn nach Algerien und dann nach Frankreich. Anschließend absolvierte er eine Ausbildung als Psychiater in der französischen Stadt Lyon.
Es war die Zeit seiner ersten Begegnungen mit dem Rassismus und wie es sich anfühlte, als Schwarzer in einer weißen Gesellschaft zu leben. Sein erstes Buch, „Schwarze Haut, weiße Masken“, veröffentlichte er auf Französisch im Jahr 1952.
Das war zwei Jahre vor der Niederlage der französischen Armee in Dien Bien Phu, der Schlacht, die das Ende der französischen Besatzung Vietnams einläutete. Bis zur Weigerung Rosa Parks, ihren Sitz in einem Stadtbus im rassengetrennten Süden der USA zugunsten eines Weißen aufzugeben – einer Tat, die die schwarze Befreiungsbewegung in Gang setzte – sollten weitere vier Jahre vergehen. Fanon prägte diese Bewegung von Anfang an stark mit.
Rassenschranken
Im Jahr 1952 steckten die antikolonialen Kämpfe noch in Kinderschuhen. Rassistisches Gedankengut durchtränkte alle Gesellschaftsschichten in Europa sowie in den britisch, französisch und portugiesisch kontrollierten Kolonien. Rassenschranken galten in allen Lebensbereichen, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt ebenso wie in der Unterhaltungsindustrie.
Schwarze sollten ihren Wert „unter Beweis stellen“, indem sie sich in die weiße Welt der Kolonisatoren integrierten. Man erwartete von ihnen, „weiß zu werden“, indem sie ihre eigene Sprache, ihre Traditionen, Kultur und Lebensweisen vergaßen. Es war eine Welt, in der sogar der französische Psychoanalytiker Octave Mannoni als Liberaler gelten konnte – trotz seiner Ansicht, dass die einheimische Bevölkerung Madagaskars die Kolonisierung durch die Franzosen sich gewünscht hatte, weil sie unter einem „Abhängigkeitskomplex“ litt.
Fanons vernichtende Antwort auf Mannoni in „Schwarze Haut, weiße Masken“ benennt den Rassismus der europäischen Kolonialgesellschaften als Ursache für die Probleme der indigenen Bevölkerungen. Sie illustriert Fanons Versuch, die psychischen Krankheiten seiner Patienten in ihrer realen Lebenserfahrung zu verorten.
Entschlossen, seine Arbeit als Psychiater weiter zu entfalten, nahm er im September 1953 eine Stelle in der psychiatrischen Klinik Blida-Joinville in Algerien an. Er entwickelte eine eigene Herangehensweise bei der Behandlung von geistig Kranken, in der die allgegenwärtigen rassistischen Ansichten von einer spezifischen „arabischen Mentalität“ keinen Platz hatten.
Befreiungskampf in Algerien
Ein Jahr nach seiner Ankunft in Algerien entbrannte der nationale Befreiungskampf. Fanon kam in Kontakt mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FNL und ließ sich Schritt für Schritt immer mehr in den Kampf verwickeln.
Er lieferte wichtiges Material an die Befreiungsbewegung, stellte Kämpfern auf der Flucht sichere Verstecke zur Verfügung und behandelte in seiner Praxis Gefolterte ebenso wie Folterer. Fanon errang auf Konferenzen im Ausland schnell einen Ruf, Repräsentant der FNL zu sein.
Spätestens ab 1957 wurde er zur Zielscheibe regelmäßiger Morddrohungen, so dass eine weitere Tätigkeit in Algerien zu gefährlich wurde. Er reiste im Geheimen nach Tunesien und von dort aus nach Frankreich. In seinem Kündigungsschreiben hielt er seine Erfahrungen in Algerien fest:
„Wenn die Psychiatrie eine medizinische Technik darstellt mit dem Ziel, Menschen zu ermöglichen, ihre Entfremdung von ihrer Umgebung zu überwinden, bin ich mir die Feststellung schuldig, dass der Araber, der in seinem eigenen Land beständig entfremdet ist, in einem Zustand absoluter Entpersonalisierung lebt. Der Status Algeriens? Systematische Entmenschlichung.“
Auswirkungen der Bewegung
Fanons Folgewerk „Im fünften Jahr der algerischen Revolution“ ist ein faszinierendes Portrait der Auswirkungen, welche die Befreiungsbewegung auf alle Beteiligten hatte.
Darin beschrieb er, wie algerische Frauen den Schleier anzogen oder ablegten im Einklang mit den Bedürfnissen der Befreiungsbewegung. Wenn es einfacher war, die Checkpoints in europäischer Kleidung zu passieren, dann verschwand der Schleier. Er bemerkt auch, wie der Entschluss der Kolonialverwaltung, die muslimischen Frauen vom Schleier zu „befreien“, noch mehr Frauen bewog, ihn zu tragen.
Fanon beobachtete auch, wie die Beziehungen in den Familien sich radikal veränderten in dem Maß, wie junge Männer und Frauen sich dem Widerstand anschlossen. Den Vätern wurde nicht mehr automatisch Autorität zugestanden, weil die Anforderungen der Befreiungsbewegung jetzt Vorrang hatten. Paare erfuhren eine neue Gleichheit, als sie das gemeinsame Ziel der Befreiung ihres Lands für sich entdeckten.
Das letzte Werk von Fanon
Aber die Ideen, mit denen Fanon wirklich identifiziert wird, finden sich in seinem Werk „Die Verdammten dieser Erde“. Es war sein letztes Buch. Es erschien im Dezember 1961, nur wenige Tage bevor Fanon an den Folgen einer Leukämieerkrankung verstarb und gerade ein halbes Jahr vor der Unabhängigkeit Algeriens.
Dieses Werk, das er viel mehr diktiert als selbst niederschrieb, enthält Fanons Ansichten zu Gewalt, zur Rolle der Bauernschaft im Befreiungskampf und benennt seine Sorgen über die mögliche Weiterentwicklung nach der Unabhängigkeit.
Fanon hatte eine Vision, wie einfache Menschen eine neue Welt im Zug der Niederwerfung der alten Kolonialordnung schaffen konnten. In seinen Augen war der Kampf selbst ein Mittel zur Veränderung von menschlichen Beziehungen und zum Schmieden eines neuen Menschengeschlechts.
Die Kolonisierung war ein gewalttätiger Prozess, der alte Lebensweisen zerstörte und die Kolonisierten der Möglichkeit, in Würde zu leben, beraubte. Fanon argumentierte gegen jene, die den Unabhängigkeitskampf auf friedlichen Protest beschränken wollten. Eine gewalttätige Kolonialmacht sei nur mit Gewalt zu brechen, schrieb er.
Fanon hatte vollkommen Recht mit seinem Urteil, dass sich die französischen und britischen Reichen Land und Ressourcen gewaltsam angeeignet hatten und darauf nur unter Zwang verzichten würden. Algeriens bitter geführter Unabhängigkeitskrieg ist Beleg genug für die Richtigkeit seiner Analyse.
Andere Aspekte von Fanons Ansichten zu Gewalt sind allerdings problematischer. Er glaubte, die Gewalt könne als Zement dienen, um zwischen den verschiedenen Stämmen Solidarität zu stiften, alte Hierarchien abzubauen und die Menschen an die Befreiungsbewegung zu binden.
Einfluss auf Black Power
Diese Vorstellung von der quasi erlösenden Wirkung von Gewalt sollte einen tiefen Eindruck auf die entstehende Black-Power-Bewegung in den USA haben. Radikale schwarze Aktivisten wie Stokely Carmichael und Eldridge Cleaver suchten nach Argumenten gegen die vorherrschenden pazifistischen Ansichten der Bürgerrechtsbewegung.
Fanons Ideen kamen hier gerade zupass. Sie boten aber zugleich die scheinbare Alternative zu einer Revolution auf der Grundlage einer aktiven Beteiligung der Masse der arbeitenden Menschen in Europa und den USA.
Viele Radikale in den späten 1960er Jahren hatten nämlich solche Arbeiterschichten abgeschrieben, weil diese in ihren Augen durch hohe Löhne und scheinbar sichere Arbeitsplätze in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg „gekauft“ waren.
Abkehr von der Arbeiterklasse
Fanons Ansichten trugen zu einer Vertiefung der Revolte gegen den Imperialismus bei. Zugleich lenkten sie den Blick weg von Arbeitern hin zu den Entrechteten und der Bauernschaft. Diese Stoßrichtung kontrastiert grundsätzlich mit Karl Marx’ Ansichten, für den die Arbeiter die zentrale Kraft darstellen mit der Fähigkeit, den Kampf für Veränderung zu vereinen und zu führen.
Außerdem argumentierte Marx, dass Debatten, Solidarität und Demokratie einen essenziellen Bestandteil einer jeden erfolgreichen revolutionären Bewegung ausmachten. Gewalt war unvermeidlich, aber nur als Werkzeug einer Massenbewegung der Arbeiterschaft selbst und nicht als Taktik einer getrennten Guerillamacht.
Unmittelbar vor seinem Tod sorgte sich Fanon wegen der Ausgestaltung der Unabhängigkeit in den ehemaligen Kolonien. Durch seine Tätigkeit für die FNL machte er sich vertraut mit den Entwicklungen in den antikolonialen Bewegungen in ganz Afrika.
Fanon befürchtete, dass die Unabhängigkeit den Boden für die Entstehung einer neuen kapitalistischen Klasse in befreiten Nationen bereiten würde. Das, so sein Argument, würde neue religiöse und ethnische Rivalitäten hervorbringen, während die neuen Herrscher sich beeilten, das Erbe der fortgegangen Kolonisten anzutreten. Es war eine Vorhersage, die sich tragischer Weise als richtig herausstellen sollte.
Internationale Solidarität
Diejenigen, die heute gegen den Imperialismus kämpfen, haben viel mit Fanon gemeinsam. Wir teilen seine überbordende Wut angesichts der Verwüstungen des Imperialismus, die alle Aspekte menschlichen Lebens zerstören.
Wir teilen seine humanistische Vision der Selbsttransformation, wie Männer und Frauen eine neue Lebensweise frei von Rassismus und jeglicher Bigotterie schaffen können.
Wie er halten wir an der Notwendigkeit fest, Schulter an Schulter mit den Verdammten dieser Erde zu stehen. Aber wir würden zugleich argumentieren, dass die Millionen, die Anfang des Jahrtausends in allen Hauptstädten dieser Welt gegen den damals drohenden Irakkrieg auf die Straße gingen, der Schlüssel für den notwendigen Aufbau einer internationalen Solidarität sind, die wir brauchen, um unsere Vision einer neuen und besseren Welt zu verwirklichen.
Dieser Text erschienen erstmals im Mai 2007 in der englischen Wochenzeitung „Socialist Worker“. Aus dem Englischen von David Paenson.