EU-Wahlen 2024: Zwischen Krise, Unsicherheit und Rechtsentwicklung

Die Europawahlen im Juni 2024 sind bereits vielfach medial behandelt und diskutiert worden. Sie zeichneten sich aus durch eine überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung von 64,7 Prozent in der Bundesrepublik – ein historisch hoher Wert, der durchaus als Ausdruck einer erhöhten Politisierung der Gesellschaft interpretiert werden kann. Zugleich zeigen Wahlumfragen ein gemischtes Bild der gesellschaftlichen Stimmung und Lage: Ein Blick auf wahlentscheidende Themen und Einschätzungen der gesellschaftlichen Situation zeigte eine von Krise und Verunsicherung geprägte Stimmung in der Bundesrepublik, die sich keineswegs nur, aber maßgeblich politisch rechts artikuliert hat.

Insgesamt haben die Wahlen auf der europäischen Ebene den erwarteten Sieg der politischen Rechten gebracht, wenngleich der von vielen befürchtete Erd- rutsch zugunsten der extremen Rechten ausgeblieben ist. Der Neuformierungsprozess in diesem Lager verdeutlicht die Zuwächse des rechten europäischen Lagers, denn mit der neugegründeten Fraktion »Patrioten für Europa«, zu der neben dem Rassemblement National (RN) und der ungarischen FIDESZ von Viktor Orbán auch die FPÖ, die italienische Lega, die niederländische PVV von Gert Wilders, VOX aus Spanien und der Vlaams Belang sowie eine Reihe weiterer Parteien gehören, stellt dieser Teil der extremen Rechten jetzt mit 84 Abgeordneten die drittgrößte Fraktion im neuen Europaparlament.

Die AfD, die kurz vor den Europawahlen auf Betreiben von Marine Le Pen – vor allem aus taktischen Gründen – aus der gemeinsamen Fraktion »Identität und Demokratie« (ID) geworfen wurde, hat zusammen mit einer Reihe osteuropäischer Rechtsparteien die Fraktion »Europa souveräner Nationen« gegründet. Hinzu kommt die von der italienischen Regierungspartei Fratelli d’Italia angeführte Fraktion der »Europäischen Konservativen und Reformer« (EKR), die politisch am weitesten in die Mitte gerückt ist und den Anschluss an die europäischen Konservativen rund um die »Europäische Volkspartei« (EVP) sucht.

Die politischen Wellen, die die Erfolge der extremen Rechten auslösten, waren vor allem in Frankreich spürbar, wo der Sieg des RN Präsident Macron veranlasste, Neuwahlen des Parlaments anzusetzen, in denen der RN zwar die größten Zugewinne erzielte, aber entgegen der verbreiteten Erwartung das Links-Bündnis der »Neuen Volksfront« stärkste Kraft im Parlament wurde.

Blick nach Deutschland

Ein Blick auf die Ergebnisse in Deutschland zeigt, dass sich der politische Stimmungstrend der letzten Monate im Ergebnis widerspiegelt, es aber auch erste Hinweise auf mögliche Veränderungen im Parteiengefüge gibt. Die Parteien der Ampel-Koalition haben stark verloren, die Grünen sogar einen regelrechten Einbruch von minus 8,6 Prozent auf nur noch 11,9 Prozent erlebt. Allerdings hatte die Partei bei den EP-Wahlen 2019 ein Rekordergebnis eingefahren. Die SPD hat noch einmal knapp zwei Prozent verloren und liegt als Kanzlerpartei bei nur noch 13,9 Prozent. Mit einem minimalen Verlust von 0,2 Prozent sieht sich die FDP selbst als »stabilisiert« an und wird das Ergebnis (5,2 Prozent) als Bestätigung ihres marktradikalen und finanzpolitisch desaströsen Kurses ansehen. Die Union hat sich um gut ein Prozent verbessert, stellt sich öffentlich als Wahlsieger dar, fährt aber mit einem Ergebnis von 30 Prozent das zweitschlechteste EP-Wahlergebnis ihrer Geschichte ein.

Die Unzufriedenheit mit der Ampel-Koalition schlägt demnach nicht für die Union zu Buche, die auch mit Blick auf die Umfragen zur Bundestagswahl stagniert und in den Augen der Mehrheit der Wähler*innen keine inhaltliche Alternative zur Regierung bildet, der man eine bessere Politik zutraut.

Von einer solchen Zuschreibung ist Die Linke wiederum weiter denn je entfernt. Mit nur noch 2,7 Prozent fährt sie ein katastrophales Ergebnis ein und verliert größere Teile ihrer Wähler*innen an das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das mit 6,2 Prozent aus dem Stand ein respektables, aber kein herausragendes Ergebnis erzielt. Das verzeichnet nach eigenen Aussagen die AfD, die mit 15,9 Prozent ihr Ergebnis von 2019 um knapp fünf Prozent verbessert und stärker ins Europaparlament einzieht, als es noch kurz vor den Wahlen viele erwartet hatten.

Traditionell probieren Wähler*innen bei den Europawahlen Parteien aus, die sonst nur wenige Stimmen ziehen. Mit 14,2 Prozent für »Andere« Parteien erzielten diese ein Rekordergebnis. Hier finden sich vor allem bürgerliche Parteien von Volt bis Freie Wähler, die zwischen einem und zweieinhalb Prozent auf sich ziehen konnten, und vor allem von jüngeren Menschen gewählt wurden.

Die Wählerwanderungen zeigen, dass die Parteien der Ampel in starkem Maße an die Union verlieren, einen größeren Teil ihrer Wähler*innen aber gar nicht mehr zur Wahl motivieren können und an das Lager der Nichtwähler*innen verlieren. So gehen von der SPD 1,4 Mio. Wähler*innen zur Union, aber 2,5 Mio. ins Lager der Nichtwähler*innen. Bei Grünen und FDP halten sich beide Verlustrichtungen ungefähr die Waage und liegen bei je 0,5 Mio. bei den Grünen und knapp je 1,1 Mio. bei der FDP.

Zu berücksichtigen ist hier, dass der Vergleichspunkt der Wanderung die Bundestagswahl 2021 ist, die Verluste zu den Nichtwähler*innen also vor allem mit der geringeren Wahlbeteiligung bei den Europawahlen zu tun haben. Das BSW gewinnt seine Stimmen insbesondere von SPD und Linke, die AfD kann noch einmal von allen anderen Parteien Stimmen abziehen und verliert nur leicht an das BSW (siehe genauer weiter unten).

Krisenhafte Grundstimmung

Zumindest den Wahlumfragen von Infratest dimap zufolge spiegeln die wahlentscheidenden Themen und die Einschätzung der gesellschaftlichen Situation durch die Befragten eine Grundstimmung zwischen Krise, Unsicherheit und gesellschaftlicher Rechtsentwicklung: Wichtigstes Thema der Wahl war demnach »Friedenssicherung« (26 Prozent, Zugewinn von vier Prozent gegenüber 2019), gefolgt von »sozialer Sicherheit« (23 Prozent, Zugewinn von drei Prozent gegenüber 2019) und »Zuwanderung« (17 Prozent, Zugewinn von fünf Prozent gegenüber 2019). »Klima- und Umweltschutz« hingegen rangiert auf dem vierten Platz mit einem Verlust von –9 Prozent gegenüber 2019. Eine Aufteilung nach Parteipräferenz gibt zusätzlich Aufschluss, für wen welches Thema entscheidend war: »Friedenssicherung« wurde vor allem von BSW- und SPD-Wählenden als wichtigstes Thema der Wahlentscheidung beurteilt (37 und 32 Prozent), »soziale Sicherheit« vor allem von SPD-, CDU- und BSW-Wählenden (35 und jeweils 22 Prozent), »Zuwanderung« erwartungsgemäß vor allem von AfD-Wählenden (46 Prozent), aber auch von BSW-Wählenden (25 Prozent).

Noch deutlicher wird die gesellschaftliche Stimmung in den abgefragten Sorgen der Befragten (»Ich mache mir große Sorgen, dass…«). Am meisten bejaht wird die Befürchtung, dass »die Kriminalität künftig massiv zunimmt« (74 Prozent), gefolgt von der Angst, dass »der Klimawandel unsere Lebensgrundlagen zerstört« (66 Prozent) und dass »der Einfluss des Islam in Deutschland zu stark wird« (61 Prozent). Es folgt die Sorge vor Ausgrenzung abweichender Meinungen (58 Prozent) und einer zu starken Veränderung »unseres Lebens« in Deutschland (56 Prozent), die Sorge, »dass zu viele Fremde nach Deutschland kommen« (53 Prozent) oder »ich meinen Lebensstandard nicht halten kann« (50 Prozent).

Die Befürchtung, den eigenen Lebensstandard nicht halten zu können, wird – kaum überraschend – am stärksten unter Befragten mit einem Netto-Haushaltseinkommen von weniger als 1.500 Euro im Monat bejaht (69 Prozent). Die wirtschaftliche Lage in Deutschland insgesamt wird wiederum von 70 Prozent der Befragten als schlecht eingeschätzt – eine deutliche Veränderung gegenüber 2019 (damals waren es 24 Prozent), wenngleich die Einschätzung in den Jahren 2004 und 2009 noch pessimistischer ausgefallen war (88 und 87 Prozent). Der Aussage, dass »die Verhältnisse in Deutschland« Anlass zur Beunruhigung gäben, stimmten 77 Prozent der Befragten zu.

Vorausgesetzt, die Umfrageergebnisse geben einen halbwegs repräsentativen Eindruck, zeugen sie insgesamt von großer Verunsicherung und einem Krisengefühl, das sich nicht zuletzt auch aus der Sorge speisen dürfte, gesellschaftlich unter die Räder zu geraten. Deutlich wird aber auch, dass diese Verunsicherung sich keineswegs durchgehend, aber an entscheidenden Stellen eher rechtslastig artikuliert und etwa gegen Zuwanderung und »den« Islam richtet, während Fra- gen der inneren Sicherheit und Lebensweise ökonomische und Verteilungsfragen sowie die Klimakrise überlagern.

Wem wird angesichts dessen also die Möglichkeit zur politischen Veränderung zugetraut? Den Wahlergebnissen entsprechend ist das in den Umfragen erst einmal die CDU, der nicht in allen, aber in vielen der benannten Anliegen am ehesten die Lösung der Probleme zugesprochen wird: Auf die Frage, wem am ehesten zugetraut wird, »die wichtigsten Aufgaben in Deutschland zu lösen«, nennen die meisten der Befragten die CDU (28 Prozent), gefolgt von der SPD (15 Prozent) und der AfD (10 Prozent). Dieser Befund muss jedoch zweifach eingeschränkt werden: Erstens ist der Anteil von Befragten, die angeben, dass »keine Partei« die Probleme lösen könne, mit insgesamt 24 Prozent signifikant hoch und rangiert streng genommen auf dem zweiten Platz. Zweitens zeigen die Werte von CDU und SPD im Zeitverlauf einen Prozess des Vertrauensverlustes an: Auf die Frage etwa, wem zugetraut werde, »für soziale Gerechtigkeit zu sorgen«, sind insbesondere die Zustimmungswerte der CDU seit über 20 Jahren rückläufig. Trotz der insgesamt also offenbar gestiegenen Politisierung der Bevölkerung, die sich in der erhöhten Wahlbeteiligung niederschlägt, muss offenbar also ebenso ein fortgesetzter parteipolitischer Vertrauensverlust und ein schwindendes Vertrauen in die Fähigkeit oder Bereitschaft zur politischen Steuerung festgestellt werden.

Mit Blick auf den zumindest für Ostdeutschland zu verzeichnenden Aufstieg des BSW lässt sich sagen, dass das Krisenbewusstsein in größeren Teilen der Bevölkerung immer weniger von Parteien der sich selbst als links- bis rechtsliberal begreifenden Mitte (SPD, Grüne, CDU, FDP) kanalisiert werden kann und Kräfte gestärkt werden, die sich explizit von dieser Ausprägung der »Mitte« absetzen.

Ein genauerer Blick auf die AfD

Mit Blick auf die nationale und internationale Dynamik der extremen Rechten lohnt ein genauerer Blick auf das Ergebnis der AfD. Zwei generelle Deutungs- muster stehen sich hier gegenüber, die das Ergebnis einerseits als klaren Erfolg der AfD, verbunden mit dem stärksten Stimmenanteil bei einer bundesweiten Wahl, bewerten, und andererseits als relative Niederlage der AfD vor dem Hintergrund der sehr viel höheren Umfragewerte der Partei noch am Jahresanfang 2024.

Beide Deutungen spiegeln reale Aspekte des Ergebnisses. So lag die AfD im Bundestrend seit dem Sommer 2023 kontinuierlich und bis zum Jahresbeginn 2024 bei Umfrageergebnissen deutlich über 20 Prozent. Noch im April 2024 wurde ihr für die Europawahl ein Resultat von bis zu 19 Prozent prognostiziert. Vor diesem Hintergrund kann das Ergebnis von 15,9 Prozent als Rückschlag begriffen werden. Neben eigenen Fehlern der Partei – ein desaströser Wahlkampf, in dem beide Spitzenkandidaten zurückgezogen werden mussten – und der Niederlage vor dem Verwaltungsgericht in Münster zur Frage der Einstufung als »rechtsextremer Verdachtsfall« durch den Inlandsgeheimdienst, trug vor allem der gesellschaftspolitische Gegenwind seit Jahresanfang 2024 zu diesem Rückgang bei. Die im Zuge der Correctiv-Recherchen beginnenden Proteste gegen die AfD brachten mehr als drei Millionen Menschen auf die Straße und haben einer vor allem bürgerlich-liberal orientierten Stimmung Ausdruck verliehen, die im Autoritarismus und Rassismus einen klaren Feind erkennt, ohne jedoch die tiefergehenden Ursachen des rechten Aufschwungs der letzten Jahrzehnte in den Blick zu nehmen (vgl. zur Protestbewegung den Beitrag in Z 138).

Auf der anderen Seite hat die AfD trotz dieser massiven Gegenkampagne, trotz eines verkorksten Wahlkampfes und der gerichtlich legitimierten Einschätzung als »rechtsextremer Verdachtsfall« knapp 16 Prozent der Stimmen geholt. In Absolutzahlen hat sie ihr Stimmenergebnis mit 6,3 Mio. Wähler*innen gegenüber der letzten Europawahl um 2,2 Mio. Stimmen übertroffen und auch gegenüber der Bundestagswahl von 2021 1,5 Mio. Stimmen hinzugewonnen. Sogar gegenüber ihrem bisher besten bundesweiten Ergebnis von 2017 (12,6 Prozent; 5,8 Mio. Stimmen) ist das noch ein Plus von 500.000 Stimmen. In allen ostdeutschen Bundesländern ist die AfD bei der Europawahl zur stärksten Partei geworden.

Die strukturellen Merkmale des AfD-Ergebnisses bestätigen die Erfahrungen der letzten Jahre; es kommen aber einige neue Entwicklungen dazu. So nimmt der Anteil der Überzeugungswähler*innen gegenüber den Protestwähler*innen seit einiger Zeit stetig zu. Bei der EP-Wahl waren es 51 Prozent, die die Partei aus Überzeugung für ihre Partei, und 44 Prozent, die sie aus Protest gegen alle anderen gewählt haben. Der Prozess der Wählerbindung und Verfestigung setzt sich demnach fort. Hiermit einher geht eine inhaltliche Bindung, bei der die eindeutigen Verbindungen der Partei zur extremen Rechten für den Großteil ihrer Wähler*innen keine Rolle spielen. Mehr als 80 Prozent ihrer Anhänger sagen, dass sie diese Bezüge nicht stören, solange die Partei die richtigen Themen anspreche. Das waren, mit Blick auf die Europawahlen, vor allem die Themen Zuwanderung (46 Prozent), mit weitem Abstand gefolgt von Friedenssicherung (17 Prozent).

Auch bei dieser Wahl erzielt die AfD mit 33 Prozent das beste Ergebnis unter denen, die sich selbst als »Arbeiter« einschätzen (gefolgt von der CDU mit 24 Prozent, SPD 12 und BSW 6 und Linke 3 Prozent). Unter denen, die ihre eigene wirtschaftliche Situation als »schlecht« einschätzen, ist sie die stärkste Kraft. In der Presse wurde vor allem das Ergebnis der Partei unter Jung- und Erstwähler*innen thematisiert. Unter den 16-24 jährigen kommt die Partei auf 16 Prozent – ein Plus von 11 Prozent. Damit liegt sie in dieser Wählergruppe im Durchschnitt ihres Gesamtergebnisses, wird also nicht überproportional von jüngeren gewählt. Auffällig ist jedoch der starke Zuwachs in diesem Segment, der eine Entwicklung belegt, die auch schon in Jugendstudien angedeutet wurde: Die frühere Abgrenzung gerade jüngerer Leute gegenüber der extremen Rechten löst sich auf. Die stärksten Ergebnisse erzielt die AfD jedoch in den mittleren Jahrgängen, hier vor allem bei den 35-44 jährigen und damit den Gruppen, die mitten im Berufsleben stehen und den Zumutungen des Wirtschaftssystems am stärksten ausgesetzt sind.

Die regionale Verteilung der AfD-Ergebnisse zeigt die – medial schon vielfach aufgegriffene – Stärke nicht nur, aber insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern. Ein Blick in die gefilterten Wahlergebnisse nach ausgewählten Strukturdaten gibt Aufschluss über mögliche Zusammenhänge: Stark scheint die AfD unter anderem in Wahlkreisen zu sein, die sich durch ein insgesamt niedriges Haushaltseinkommen, eine hohe Erwerbslosenquote oder wenig Wohnungsbau, vor allem aber durch eine geringe Bevölkerungsdichte sowie einen hohen Anteil älterer Menschen auszeichnen. Unter der Prämisse, dass Korrelationen keine Kausalitäten zeigen, sind das allein keine Faktoren, die eine erfolgreiche rechte Mobilisierung erklären – zumal sie zu den genannten wahlentscheidenden Themen in Beziehung gesetzt werden müssen. Sie geben jedoch Fingerzeige, welche lokalen Bedingungen in die weitere Analyse einbezogen werden müssten.

BSW als Konkurrent zur AfD?

Mit gut sechs Prozent ist das Bündnis Sahra Wagenknecht erstmals in ein Parlament eingezogen und scheint zumindest temporär die Möglichkeit zu haben, eine Lücke im Parteienspektrum zu besetzen. Im Vorfeld der Wahl wurde darüber spekuliert, ob das BSW vor allem der AfD Stimmen streitig machen könnte. Zumindest das Ergebnis der Europawahl ist hier eher ernüchternd, jedenfalls geben die Daten der Wählerwanderung keinen Hinweis darauf, dass das BSW vor allem auf Kosten der AfD gewonnen hat. Von dieser hat die neue Partei 160.000 Stimmen gezogen, was bis auf die Grünen der geringste Wert von allen etablierten Parteien ist. Auch vorherige Nichtwähler hat das BSW den offiziellen Daten zufolge nicht übermäßig stark aktivieren können. Der größte Teil der Stimmen für das BSW kam von den Wähler*innen der SPD bzw. der Linkspartei, die 580.000 bzw. 470.000 Stimmen an das BSW verloren. Zu beachten ist dabei, dass der Vergleichspunkt der Wählerwanderung die Bundestagswahl 2021 ist. Wo sich die jetzt zum BSW gewanderten Wähler*innen nach 2021 verortet haben, ist unbekannt. Fakt ist, dass vor allem die Linkspartei einen Großteil ihrer Wähler*innen an das BSW verloren hat, wogegen es die AfD nur in geringen Maße Stimmen kostete. Bei BSW und AfD stehen die Themen Friedenssicherung und Zuwanderung zwar ganz oben bei der Wahlentscheidung – aber in umgekehrter Reihenfolge und Gewichtung: Während für die Wähler*innen der AfD das Thema »Zuwanderung« mit 46 Prozent deutlich vor »Frieden« mit 17 Prozent lag, waren es beim BSW 37 Prozent beim Thema »Frieden« und 25 Pro- zent bei der »Zuwanderung«. Das Thema soziale Sicherung folgt bei beiden erst auf dem dritten Platz, deutlich hinter dem wichtigsten Thema. Beide Parteien werden offenbar nicht zuerst und vor allem aus sozialpolitischen, ungleichheits- oder gar kapitalismuskritischen Gründen gewählt.

Zumindest mit Blick auf die vergangene EU-Wahl lässt sich also schließen, dass die Friedensfrage eine nicht zu unterschätzende mobilisierende Bedeutung in der aktuellen Situation hat – die Verluste insbesondere der Partei Die Linke dürften auch auf den Fehler zurückzuführen sein, das Thema um des parteiinternen Friedens willen zu vernachlässigen. Linke Politik insgesamt steht in der aktuellen Situation vor der Herausforderung, sich (wieder) klar als friedenspolitische sowie antimilitaristische Opposition aufzustellen und die Verunsicherung sowie Krisenstimmung der Bevölkerung progressiv zu wenden. Eine Auswertung der Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg wird weiteren Aufschluss darüber geben müssen, wie und mit welchen Themen die extreme Rechte mobilisierungsfähig ist – und wie sie bekämpft werden kann.

Dieser Artikel von Gerd Wiegel und John Lütten ist aus dem bald erscheinendem Septemberheft (Z 139) der Zeitschrift Z – Marxistische Erneuerung

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