Die Politik macht im Kontext der Deradikalisierung alles falsch – Im Gespräch mit Rami Ali

Seit Monaten berichten Medien in Deutschland wie auch in Österreich davon, dass sich die Jugend radikalisiert und islamistische Gruppen an Einfluss gewinnen, dies wird häufig mit Gaza verbunden. Der Islamwissenschaftler und Radikalisierungsexperte Rami Ali sieht eine Mitverantwortung der Politik, die vollkommen versagt habe im Bereich der Deradikalisierung.

Die Freiheitsliebe: Du hast geschrieben: „Kein Präventionsprojekt, keine Deradikalisierungsbestrebungen – egal was NGOs etc. erzählen – schafft es, den Schaden, der in den letzten Jahren und speziell in den letzten Monaten angerichtet wurde, zu beheben.“ Wie meinst du das?

Rami Ali: Wir wissen, dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit integraler Bestandteil der Identitätsbildung (nicht nur) junger Menschen darstellt. Wir – nicht nur die Eltern unter uns – wissen auch, dass Gerechtigkeit und die Suche danach für junge Menschen ebenso überaus wichtig sind. Wir sind aber nicht die einzigen, die das wissen. ExtremistInnen jeglichen Coleurs wissen das ebenso. Es überrascht also deshalb nicht, dass ihre Online-Propaganda sehr häufig darauf aus ist, genau diese Themen zu bespielen und alternative Angebote, oft in Form von einem Call-to-Action, zu machen.
Nun ist all dies quasi Teil des Wissenskanons in der Präventions – und Deradikalisierungsarbeit. Die Praxis dieser Arbeit zielt – je nach Zielgruppe – dann drauf ab, die Graubereiche aufzuzeigen und/oder bestehende Annahmen mit Argumenten zu entkräften oder zumindest zum Wackeln zu bringen. Genau diese Gegenargumente sind in den letzten Monaten quasi vernichtet worden. Wenn sich Neo-Salafiten online hinstellen und jungen Menschen sagen, dass sie in Deutschland nicht erwünscht sind, dass muslimisches Leben weniger wert ist und als Belege dafür beispielsweise den Anstieg rechtsextremer WählerInnenschaft & antimuslimischen Übergriffe, sowie die tendenziöse Berichterstattung über Israel/Palästina ins Feld führen, dann gibt es keine Gegenargumente. Die stets herbeibeschworene „Staatsräson“ interessiert junge Menschen nicht. Ihr Gefühlswelt wird von der Gegenwart geprägt und diese zeigt sich gegenüber Menschen mit Migrationsbiografie in Deutschland und gerade im Kontext Palästina/Israel gerade von ihrer hässlichsten Seite. Der Schaden, der durch Politk & Medien angerichtet wurde, insbesondere in Bezug auf das Zugehörigkeitsempfinden von migrantischen Menschen, ist so immens und gravierend, dass es für Interventionen zu spät ist. Mal abgesehen davon, dass eine solche Intervention aktuell gar nicht forciert wird.
Etablierte Parteien vergessen, dass die Menschen, die sie heute in Massen ignorieren und in die Ecke treiben, die WählerInnen von morgen sind.

Die Freiheitsliebe: Inwiefern hast du das Gefühl, dass die Politik sowohl in Österreich als auch in Deutschland zur Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen beigetragen hat? Was hätte man anders machen können?

Rami Ali: Man müsste wohl fragen, was in diesem Kontext überhaupt richtig gemacht wurde denn hier wäre die Antwort wesentlich kürzer: Gar nichts.
Außenpolitisch hat man sich, statt für Frieden und Waffenruhe einzusetzen, weiterhin für eine Bewaffnung Israels ausgesprochen, Sanktionen teilweise blockiert und sich selbst mit mahnenden Worten zurückgehalten. Man tritt als Unterstützer der rechtsextremen israelischen Regierung auf – trotz gravierender Menschenrechts – und Völkerrechtsbrüche. Damit zerschießt man sich nicht nur jegliche Glaubwürdigkeit, je wieder über diese Themen zu sprechen, sondern signalisiert auch direkt, dass man keine Einwände gegen die tausenden ermordeten palästinensischen ZivilistInnen hat. Dass dieses Verhalten nicht nur international für Aufsehen sorgt, sondern auch in Deutschland und Österreich Menschen verärgert sollte eigentlich niemanden überraschen. Aber statt zumindest – wie in einem demokratischen Rechtsstaat üblich – Raum zu geben, um diese angestaute Wut zu artikulieren, wurden und werden in Deutschland und Österreich pro-palästinensische Demonstrationen verboten und teilweise mit brutalster Polizeigewalt aufgelöst. Das verstärkt natürlich die verspürte Ohnmacht. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit kann dann dazu führen, dass sie nach radikaleren Mitteln suchen, um Gehör zu finden oder sich an dem Kampf zu beteiligen. Extremistische Gruppen bieten hier dann einfach „effektivere“ Wege an, um sich Gehör zu verschaffen.
Darüber hinaus spielten und spielen Medien eine wichtige Rolle. Während Menschen in Zeiten von Instagram, X und TikTok quasi Tag für Tag das Leid der palästinensischen Menschen beobachten können, teilweise mit Bildern, die man nicht länger als wenige Sekunden ansehen kann und parallel dazu die deutsche Berichterstattung verfolgen, die oft unüberprüft Meldung der israelischen Armee – wohlgemerkt einer Kriegspartei – übernimmt, dann zerschießt das ebenso das Vertrauen in Medien. Kurz-, mittel- und langfristig ist das demokratiepolitisch eine große Gefahr.

Die Freiheitsliebe: Insbesondere den wachsenden Unmut unter Jugendlichen (mit und ohne Migrationshintergrund) über die europäische Unterstützung für Israels Krieg in Gaza benennst du. Inwiefern trägt dies zu einer Radikalisierung bei?

Rami Ali: Es ist längst kein Geheimnis, dass das Gefühl der Ungerechtigkeit ein Nährboden für extremistische Gruppen sein kann. Viele Jugendliche, insbesondere solche mit familiären oder kulturellen Verbindungen zur arabischen Welt oder zu muslimischen Gemeinschaften, sehen die militärischen Auseinandersetzungen in Gaza als Teil eines größeren Musters westlicher Ungerechtigkeit. Sie nehmen die Unterstützung Europas (oder des Westens allgemein) für Israel als ungerecht wahr, vor allem in Anbetracht der Opferzahlen und beispiellosen Zerstörung auf palästinensischer Seite, und empfinden dies als Ausdruck von Doppelmoral. Während Menschenrechte in Europa hochgehalten werden, wird in ihren Augen Palästinensern dieses Recht verweigert.
Das Narrativ des „heuchlerischen Westens“, der in mehrheitlich muslimischen Ländern sein Unheil treibt ist essentieller Bestandteil im Online content von neo-salafitischen AkteurInnen, auch lange vor dem Krieg. Dass Menschen diese Form der Doppelmoral nun faktisch live beobachten können verstärkt natürlich die Position extremistischer Agitatoren, die durch eine besondere Glaubwürdigkeit erhalten. Jugendliche, die sich ohnehin ausgegrenzt oder diskriminiert fühlen, könnten durch diese globale Dimension der Ungerechtigkeit zusätzliche Bestätigung darin finden, dass der Westen nicht nur ihre eigenen Lebensrealitäten, sondern auch ihre kulturellen oder religiösen Identitäten unterdrückt. Das wird dadurch verstärkt, dass für viele junge Menschen das Thema Israel/Palästina schlicht eine identitässtiftende Funktion hat, die nicht nur ein geopolitisches Problem darstellt sondern eben auch Teil der eigenen Identität und Zugehörigkeit ist und das wird durch die bedingungslose Unterstützung der rechtsextremen israelischen Regierung und ihrer Kriegsführung natürlich torpediert. Damit wären wir wieder bei Zugehörigkeit/Identität als Einfallstor für Extremisten, die hier dann ein alternatives (Zugehörigkeits-)angebot offerieren.

Die Freiheitsliebe: In Deutschland wurde an Schulen zurecht über die Gewalt und Verbrechen am 07.10 gesprochen, doch das Leid der Palästinenser in den letzten Monaten, wie auch ihre Geschichte von Vertreibung und Leid wird nicht thematisiert. Wie nehmen junge Menschen dies wahr? Wie hätten Schulen stattdessen agieren sollen?

Rami Ali: Schulen müssen Räume sein, die Dialog, kritisches Denken und Empathie fördern – schon alleine deshalb sollte eine einseitige Darstellung nicht im Sinne einer Bildungsinstitution sein. Schlussendlich führen simplifizierende Darstellungen des Konflikts zu mehr Polarisierung und sie werden bei denen, die sich mit dem palästinensischen Leid verbunden fühlen, Gefühle von Ungerechtigkeit, Entfremdung und Misstrauen hervorrufen.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

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