Tsipras, Erdogan, und Anastasiadis reden miteinander, aber sie drohen auch einander, immer bezüglich Lausanne, Zürich und Genf. Panos Garganas betrachtet dieses Dreieck vor dem Hintergrund der imperialistischen Gegensätze und der Krise.
„Der Pumphosenträgerverein Kretas wählte eine Mantinada mit Anspielungen auf den türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan, um den Präsidenten zu ehren.
‚Der Präsident des Nachbarlandes hat uns verrückt gemacht/ Und er bewegt den Finger zeigend auf Lausanne/Aber er muss eine klare Antwort erhalten/Wie die griechischen Soldaten die Ägäis halten‘, lautete die Mantinada, die der Vorsitzende der Pumphosenträger dem Präsidenten aufsagte.“ (Nach der Reportage von in.gr)
Um die Kampagne zu unterstützen, die er gestartet hatte, um „die Nation gegen die neuen türkischen Provokationen zu vereinigen“, griff der Präsident Prokopis Pavlopoulos auch auf Weihnachtslieder zurück. In den letzten Monaten häufen sich dauernd die Anzeichen erhöhter (glücklicherweise soweit verbaler) Spannungen bei den griechisch-türkischen Beziehungen.
Gemäß der Zeitung Hürriyet sagte der türkische Präsident Erdogan auf einer Versammlung der lokalen Selbstverwaltung:
„1920 zeigten sie uns den Vertrag von Sevres, um uns 1923 vom Vertrag von Lausanne zu überzeugen. Und man versuchte uns das als Sieg zu verkaufen. Mit dem Vertrag von Lausanne gaben wir den Griechen die Inseln, auf denen man gehört wird, wenn man von der Küste der Ägäis ruft. Ist das ein Sieg?“(1)
Von jenem Moment an und danach treibt sich der griechische Präsident auf verschiedenen Feierlichkeiten herum und wiederholt wo er steht und wo er sich findet, dass der Vertrag von Lausanne Teil des Völkerrechts sei und dass, wer ihn verletze, Sanktionen erleiden werde. Er schloss damit ab, „molon labe“ zu rufen.
Panos Kammenos, Vorsitzender der „Unabhängigen Griechen“ und Alexis Tsipras‘ Verteidigungsminister, beeilte sich, den Präsidenten zu überbieten. Ein erster Schritt war, zu erklären, dass man bei der Auflösung des Vertrages von Lausanne zu dem Vertrag von Sevres zurückkehren würde. Wie bekannt, wurden Griechenland mit dem Vertrag von Sevres die Inseln Ibros und Tenedos und Ostthrakien bis zu der Linie von Tsataltsa nahe Konstantinopolis überlassen. Das Gebiet von Smyrni blieb unter der nominellen Oberhoheit des Sultans, wurde aber von einem griechischen Gouverneur als Beauftragtem der
Entente-Gewinner des Ersten Weltkrieges verwaltet und hätte Griechenland nach fünf Jahren über ein Referendum angegliedert werden können.
Eine solche Drohung ist seit 20 Jahren nicht offiziell formuliert worden. Nur bei der Imiakrise 1996 kamen Pläne des damaligen Generalstabschefs Admiral Lymberis einer Bombardierung Izmirs ans Licht. Es gibt natürlich sehr viele, die Kammenos nicht für eine ernstzunehmende Persönlichkeit halten. Aber das widerlegt nicht die Tatsache, dass er der Verteidigungsminister des Landes ist und auch Außenminister Kotzias eine entsprechende Äußerung machte (dabei sprach er, wie er sagte, als Kopf der
Bewegung „Tun“, und nicht als Außenminister). Der nächste Schritt Kammenos‘ war, einen Besuch einer Parlamentsdelegation mit Beteiligung von Parlamentariern der Goldenen Morgenröte auf den Grenzinseln Ro und Kastellorizo zu organisieren. Die Botschaft, die er abgeben wollte, war deutlich: Die nationale Geschlossenheit gegenüber der türkischen Provokation ist so dringend, also hat er sogar Nachsicht mit den neonazistischen Mördern. Kammenos kann genau das Gegenteil erreicht haben, zumal sein Vorstoß auch innerhalb der Parlamentsfraktion von Syriza Reaktionen provozierte. Dafür schaffte er es, den Teufelsreis der provokativen Erklärungen am gegenüberliegenden Ufer zu nähren. Die türkische Opposition beschuldigte die Erdogan-Regierung, dass sie die türkischen Zyprioten verrate und dass sie davon abgelassen habe, 18 Inseln in der Ägäis zu beanspruchen!
Warum gibt es diese Entwicklung? Geht es um Manöver von taktischem Patriotismus aus innenpolitischen Gründen? Wo können solche Abenteuer enden? Was ist der Hintergrund des starken Anstiegs solcher Vorkommnisse?
Die Krise in der Türkei
Der erste Faktor, auf den wir Bezug nehmen müssen, ist die heftige Verschärfung der Krise in der Türkei. In den Massenmedien (und nicht nur da) herrscht das Klischee, dass Erdogan nach dem gescheiterten Putsch gegen ihn allmächtig sei: Er macht weiter mit massiven Säuberungen in der Armee, in der Justiz, im Erziehungswesen, nutzt den Ausnahmezustand, um jede Opposition zu unterdrücken und pflastert sich den Weg, um die Präsidialvollmachten zu bekommen die er beanspruchte- ein heutiger „Sultan“.
Eine dramatische Richtigstellung dieses Bildes kam mit der Ermordung des russischen Botschafters in Ankara durch einen Polizisten der Spezialkräfte. Nicht einmal den engen Kern des Repressionsapparats kontrolliert der „Sultan“. Die Theorien von einer organisierten Provokation mit dem Ziel der Verhinderung einer Annäherung zwischen der Türkei und Russland können nicht die Tatsache verbergen, dass der Mörder den Botschafter vor den Kameras erschoss und erklärte, dass er das täte, um die Verantwortlichen für das Massaker in Aleppo zu bestrafen, bevor er durch die Kugeln seiner Kollegen tot umfiel. Dieses Ereignis fasst die Widersprüche zusammen, die die türkische Gesellschaft erschüttern und alle ihre herkömmlichen Institutionen destabilisieren.
Der erste destabilisierende Faktor ist der Krieg in Syrien und im Irak. Der Sieg Assads in Aleppo ist ein schwerer Schlag für Erdogan, der sich als Beschützer der sunnitischen Bevölkerung Syriens und Kraft der Demokratisierung der Regime im mittleren Osten inszeniert hatte. Der Schlag ist ein doppelter: Er hemmt die Ambitionen der herrschenden Klasse der Türkei, eine bedeutender Faktor in der Region zu werden, und verärgert gleichzeitig die Basen der Parteien, besonders die der Erdogans, die sieht, wie ihre Geschwister hilflos abgeschlachtet werden von denen, die versprachen, sie zu retten. Der türkische Kapitalismus hatte endlose Absichten, in die Lücken einzudringen, die die Misserfolge des US-Imperialismus hinterließen. Im Irak hatte er die von Barzani kontrollierten kurdischen Gebiete in ein wirtschaftliches Protektorat verwandelt. Als die Welle der Aufstände losbrach, die Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten stürzte, gab es Demonstrationen in der arabischen Welt, auf denen Transparente mit dem Bild Erdogans auftauchten. Um diesen Einfluss voranzutreiben hatte Erdogan 2010 nicht gezögert, den Beschützer der „Freedom Flotilla“ zu spielen, die die Gaza-Blockade zu brechen versuchte
und von Israel tödlich getroffen wurde. Er geriet 2013 mit Al-Sisi aneinander, der den gewählten Präsidenten von der Muslimbruderschaft in Ägypten Mursi durch einen Staatsstreich stürzte. Und er befürwortete von Anfang an den Rücktritt Assads in Syrien. Das waren Schritte der durchdringenden Diplomatie einer ökonomisch aufsteigenden Macht. Die Türkei unter Erdogan hatte sich von einem Land, das die Kredite des IWF benötigte, zu einem Mitgliedsstaat der G20-Gruppe und zu einem potenziellen Teil der BRICS-Staaten, der Schwellenländer wie Brasilien, Südafrika und Indien, gewandelt. Dieser Aufwärtskurs ist wirtschaftlich wie geopolitisch zum Stillstand gekommen.
Die Wirtschaft flaute das erste Mal nach sieben Jahren im dritten Viertel des Jahres 2016 um 1,8 % auf Jahresbasis ab.(2) Der Absturz ist besonders schmerzhaft nach Wachstumsraten, die die 10 Prozent übertrafen, und hat Aussicht auf weitere Verschlechterung, zumal die türkische Lira ins Stocken gerät. Die Währung hat 2016 fast 20 % ihres Wertes gegenüber dem Dollar und dem Euro verloren und es flammen Unruhen auf, dass die Unternehmen die Darlehen, die sie in Fremdwährungen aufgenommen haben, nicht würden bezahlen können.
Die Regierung war dazu gezwungen, Apelle an den Patriotismus der Einleger zu richten, damit sie ihre Dollars in Gold oder Lire umtauschten. In ökonomischer Hinsicht haben solche Apelle keinerlei Aussicht, zumal die Zentralbank der USA den Leitzins erhöht und der Dollar steigt. Nach November verhalfen die ausländischen Kapitalanleger Kapital im Wert von 2,6 Milliarden Dollar zur Flucht, und die türkischen Einleger wandten sich mit dem Betrag von einer Milliarde in der letzten Woche des selben Monats dem Dollar zu.(3) In politischer Hinsicht verpflichtet eine solche Patriotismus-Kampagne natürlich Regierung und Opposition, nationalistische Töne in einer Zeit geostrategischer Niederlage anzuschlagen.
Nach den Misserfolgen George W. Bushs, der die Kriege in Afghanistan und Irak führte und den US-Imperialismus in Besatzungen verwickelte, die Blutopfer forderten, um gehalten zu werden, stand die Präsidentschaft Obamas für eine Wende, die spöttisch „soft power“ statt „hard power“ genannt wurde.
Dabei wird angenommen, dass die Stabilisierung der Situation statt durch neue Militärinterventionen über Diplomatie und lokale Allianzen geschehen wird. Die acht Jahre Obama endeten mit einem vollständigen Misserfolg auch dieser Entscheidung. Stabilität ist das einzige Wort, das weder zum Bild in Libyen noch zu dem in Syrien und im Irak passt. Die schlechten Auswirkungen für alle Mächte der Region, die auf diese Pläne gesetzt haben, sind unmittelbar, besonders für Erdogan.
Statt eine „friedliche“ wirtschaftlichen und diplomatischen Durchdringung der Region aufzufinden befindet er sich in einem Krieg, den er nicht gewinnen kann. Das türkische Militär ist nicht, wie es sich seine politischen und militärischen Führungen vorstellten, als Befreier und Beschützer der Bevölkerung nach Syrien marschiert, sondern in ein verzweifeltes Abenteuer, um die Vereinigung der kurdischen Gebiete entlang der türkischen Grenze zu verhindern. Es ist eine Intervention, die dauerhaft die Notwendigkeit eines Kompromisses gleichzeitig mit den USA und mit Russland offenbart, trotz der Versuche Erdogans, seine Rhetorik als „antiimperialistisch“ zu verkleiden. Er kann Gezeter gegen die US-amerikanische „Leitzinslobby“ hervorbringen, aber er gehorcht den US-amerikanischen Ermahnungen, dass das türkische Militär nicht in das Gebiet östlich des Euphrat vordringen soll. Er könnte, die Kontrolle über den Luftraum Nordsyriens beanspruchend, vor einem Jahr ein russisches
Kampfflugzeug abgeschossen haben, arbeitete aber schließlich zu der Stunde, in der Aleppo fiel, mit Putin zusammen. Im Irak belagern die USA und ihre Verbündeten Mossul, halten aber die Armee Erdogans auf Distanz.
In politischer Hinsicht ist der Preis dieses schmutzigen Krieges ungeheuerlich. Die Politik der Inkorporation der türkischen Kurden, die der „demokratische Schmuck“ Erdogans war, ist zusammengebrochen. Jede Woche gibt es Bestattungen von Soldaten, die ihr Leben in den Kämpfen sowohl in Syrien als auch in den kurdischen Gebieten in der Türkei verloren haben. Mit zunehmender Häufigkeit gibt es Tote durch die Bombenattentate in den großen Städten, auch in Istanbul. Die Flüchtlinge und ihre Helfer, die in der Nacht des Putsches auf die Straße gegangen waren, fühlen sich nun verraten und verkauft. Das Sisi-Regime, dessen Zeitungen den Putsch in der Türkei gefeiert hatten, feiert nun den Sieg Assads in Aleppo.
Die ganze Welt, die glaubte, Erdogan schränke die Möglichkeiten der Armee ein, um in das politische Leben des Landes einzugreifen, sieht ihn nun die Junta-Befürworter von Ergenekon und des „Vorschlaghammers“ reinwaschen und bei den Massensäuberungen des Staatsapparats mit ihnen kooperieren. So viele Verfolgungen Erdogan den Abgeordneten der HDP auch antut, er kann den Widerhall der Demonstrationen nicht ausschalten, die HDP-Chef Demirtas organisiert hatte, der sich an denselben mit den Worten richtete: “ Die Kommandeure der Panzer und der Geschütze, die Sie [gegen die Kurden] nach Cizre geschickt haben, erwiesen sich alle als Putschisten. Sie nahmen uns fest, und jene bereiteten einen Putsch gegen Sie vor.“(4)
Die Gegensätze
Die Reaktionen der Regierung Alexis Tsipras‘ gegenüber dem verrückten Kurs Erdogans in seiner Krise sind indiskutabel. Er hat es geschafft, mit der türkischen Regierung auf Kosten der Flüchtlinge zusammenzuarbeiten und gleichzeitig durch das Wetteifern mit ihr in der Ägäis und auf Zypern das Thermometer der Spannung nach oben zu bringen.
Offiziell trägt die Außenpolitik der SYRIZA/ANEL-Regierung den Mantel der „Verantwortung“, die zu einer „kleinen Insel der Normalität im bewegten Dreieck Ukraine/Libyen/Naher Osten“ passt. Im Wesentlichen nimmt sie an allen reaktionären Unternehmungen der imperialistischen Konsolidierung der Region teil, während sie Gegenwerte für den griechischen Kapitalismus einfordert.
Tsipras, Kotsias und Mouzalas beanspruchen die Urheberschaft des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei, das Merkel mit Erdogan durchsetzte. Das offizielle Ziel dieser Regelung ist offen rassistisch, zumal sie danach strebt, die „Flüchtlingsströme“ zu begrenzen. Statt Empfangs-, Hilfs- und Aufnahmeverfahren für die Flüchtlinge sieht sie Abschottungs-, Kontroll- und Einlieferungsverfahren vor. Sie gibt allen islamfeindlichen Stereotypen nach und führt allen rechtsextremen Kampagnen in Europa Luft zu. Das ist nunmehr die lebendige Erfahrung, nicht nur in Griechenland, sondern auch in den anderen Ländern.
Aber das Problem beschränkt sich nicht darauf. Der andere Aspekt der „friedlichen Zusammenarbeit“ zwischen den Regierungen der EU und der Türkei ist die Toleranz (um nicht zu sagen Unterstützung) der Manöver der türkischen Armee an der Grenze zu Syrien. Formal sind die Gegenleistungen, die Erdogan gegen die EU absicherte, einige Milliarden als unmittelbare Finanzierung der Betreuung der Flüchtlinge und einige Versprechen für die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU. In der Praxis gab die EU ihren Segen für die Invasion der türkischen Armee in Syrien. Frankreich, Großbritannien und Dänemark sind EU-Mitgliedsstaaten, die an der Seite der USA bei den Bombardierungen im Irak und in Syrien mitmachen. Deutschland und Polen stellen Militärdienste wie die Luftbetankung der Bomber dieser Länder zur Verfügung. (5)
Offiziell verlangt die griechische Regierung nur, dass die „Kreditgeberpartner“ der Europäischen Union Verständnis für die Lasten zeigen, die sie in diesem Rahmen um „ganz Europa“ willen auf sich nimmt. Das an sich ist schon problematisch. Es macht die Flüchtlinge zu Schachfiguren bei den Memorandumsverhandlungen der Regierung mit der Troika. Aber auch dieses Problem beschränkt sich nicht darauf. Die Forderung von Gegenleistungen dehnt sich auch auf Bereiche aus, die mit den griechisch-türkischen Antagonismen zu tun haben und sie zuspitzen.
Ein solches Feld betrifft die Ägäis. Wie bekannt, strebt der griechische Kapitalismus seit 1973, als unter der Militärjunta Versuche stattfanden, die Ägäis im Einklang mit dem Seevölkerrecht zum „Archipel“ auszurufen und ihre Seedurchgänge mit einem erstickenden Kontrollregime wie bei den Meerengen des Bosporus und der Dardanellen zu schließen, danach, eine ähnliche Kontrolle über den ganzen Westen des FIR Athen zu etablieren- im Luftraum, auf dem Meer und auf dem Festlandsockel.(6)
Im Sommer 1974 erklärte die damalige türkische Ecevit-Regierung, dass eine etwaige Ausdehnung des griechischen Landesgewässers in der Ägäis auf zwölf Meilen für einen casus belli gehalten werden würde. Denn nach Schätzungen (7) hätte ein solcher Schritt bedeutet, dass die internationalen Gewässer in der Ägäis von 49 % der Fläche auf 19 % begrenzt worden wären, während der griechische Anteil von 43% auf 71,5% gestiegen wäre. Seitdem hat es trotz gelegentlicher Ausfälle weder eine türkische noch eine griechische Regierung geschafft, dieses Seil an den Enden zu ziehen.
Heute glaubt die Tsipras-Regierung, dass es eine pazifistische Forderung sei, die Aufhebung des casus belli auf den Verhandlungstisch zu legen. Ist es wohl Sicherung des Friedens und der Völkerfreundschaft, wenn sich die Hände dieser oder einer zukünftigen Regierung lösen, damit sie die Hoheitsgewässer auf 12 Meilen vergrößert? In einer Zeit, in der sich die Marinen der stärksten imperialistischen Staaten im östlichen Mittelmehr versammeln, ist eine verstärkte Kontrolle der Durchgänge der Ägäis ein starker Beleg für ihre Verwicklung in die kriegerischen Spiele und die Forderung nach Gegenleistungen.
Schon wegen der NATO-Patrouillen an den Seegrenzen zur Türkei zur Verstärkung von Frontex haben Streitigkeiten begonnen. Die Regierung Tsipras befürwortet auf dem NATO-Treffen die Fortsetzung der Patrouillen, die Erdogan-Regierung stellt sich dagegen. Die griechische Diplomatie rechnet damit, dass die NATO-Patrouillen vorhergehende Kontrolle darüber schaffen, wer in die Ägäis westlich der griechisch-türkischen Seegrenzen kommt, die türkische Diplomatie will solche Vorentscheidungen vermeiden. Beide spielen mit den Gegensätzen der USA und Russlands (die eine Macht, die USA, sind daran interessiert, Kriegsschiffe unkontrolliert in das Schwarze Meer zu schicken, die andere Russland, in das westliche Mittelmeer) und mit dem Feuer. Es sind nicht nur innenpolitische Gründe, die die türkischen Politiker dazu bringen, sich wieder an Felseninseln zu erinnern, und die Kammenos, die Kasidiaristen bei ihrer Verteidigung zu umarmen.
Ein noch akuteres Spannungsfeld hat sich im östlichen Mittelmeer eröffnet. Hier ist der Streitpunkt die Festlegung der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) der jeweiligen Länder. Also das Seegebiet, in dem jedes Land das ausschließliche Recht zur Ressourcennutzung hat, ob es nun die Fischerei oder unterseeische Erdgas-oder Öllagerstätten betrifft. Indem sie die Verschlechterung der Beziehungen der Türkei mit Ägypten und Israel ausnutzt, versucht sich die griechische Diplomatie eine riesige AWZ zu sichern, die östlich an Zypern und südlich an Ägypten grenzt, während sie die Türkei auf einen kleinen Streifen nahe an ihrer Küste beschränkt. Zugunsten dieses Vorhabens hat Alexis Tsipras immer wieder die Hand des Marschalls Al-Sisi geschüttelt.
Dieser Gegensatz ist seit vielen Jahren angelaufen, aber heute hat er größere Dimensionen angenommen. Das Seegebiet südlich von Kastellorizo ist wegen der entscheidenden geographischen Lage, das es für die Bestimmung der AWZ besitzt, zu einem Feld der Kraftdemonstrationen der Luftstreitkräfte geworden, bei denen die Generalstäbe abwechselnd die Region für „Forschungs-und Rettungsmanöver“ und andere ähnliche Dinge „verpflichten“. Der Streit drängt Griechenland tiefer in die reaktionäre Allianz mit Israel und verwandelt Zypern ein weiteres Mal in ein Gelände griechisch-türkischer Konfrontation.
Zypern
Vom 8. bis zum 12. Januar ist ein Treffen in Genf mit der Zukunft Zyperns als Gegenstand geplant. Zu Beginn werden sich die Regierungschefs der beiden Seiten, Anastasiadis und Acinci, treffen, um die Verhandlungen an dem Punkt weiterzuführen, wo sie sie beim letzten Treffen beim Mont Pelerin in der Schweiz beließen. Und anschließend werden sie sich zusammen mit anderen Regierungschefs bei einem Treffen einfinden, bei dem es die türkisch-zypriotische Seite damit hält, dass es ein fünfteiliges Treffen sein soll (mit Teilnahme der „Garantiemächte“ Griechenland, Türkei und Großbritannien), während die griechisch-zypriotische Seite es mehrteilig haben möchte (mit Teilnahme der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und der Europäischen Union). Wenn die Positionen ausreichend überbrückt werden, also die Möglichkeit einer Vereinbarung sichtbar wird, ist vorgesehen, dass diese bei einem vorausgehenden Treffen zwischen Tsipras und Erdogan beurteilt wird. Im Falle einer Vereinbarung werden sowohl im Norden als auch im Süden Zyperns Volksabstimmungen folgen.
Und allein diese Verfahrenskulisse ist genug, die Behauptungen zu entkräften, dass es diesmal um etwas Verschiedenes vom Annan-Plan ginge, der mit dem Referendum der griechischen Zyprioten 2004 zurückgewiesen wurde. Formal wird der Wiedervereinigungsplan dieses Mal von den Führungen beider Staaten geprägt. In der Praxis wollen alle großen imperialistischen Mächte bei der „Lösung“ des zypriotischen Konflikts noch einmal das Sagen haben in Verhältnissen, in denen die Umgebung Zyperns noch einmal in Flammen steht.
Damals schrieb Nikos Lountos: „In den entscheidenden Tagen vor den Referenden auf Zypern konnte niemand mehr verbergen, dass die Bedeutung, soweit sie den Annan-Plan betraf, die 9250 Quadratkilometer der Insel bei weitem überflügelte: Colin Powell in täglicher Kommunikation mit Christofias, scharfe Bekanntmachungen des Weißen Hauses, Druck des europäischen Kommissars Günter Verheugen, Drohungen Javier Solanas, bis hin zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates, wo sich das Interesse auf die Haltung Russlands und Chinas konzentrierte. Die Lösung des Problems, das 800000 Menschen auf einer kleinen Insel des Mittelmeers betrifft, schaffte es, alle Großmächte des Planeten zu mobilisieren.“(8) Und zur Bestätigung sei aus einem Artikel von Carl Bildt, damals EU-Sonderkommissar für die Balkanländer, zitiert:
„Der Annan-Plan betrifft nicht nur eine geteilte Insel im östlichen Mittelmeer, oder die Beziehungen zwischen zwei bedeutenden Ländern, die die Grenzen zwischen Europa und Vorderasien bilden. Er ist von entscheidender Bedeutung für die Suche nach Frieden und nach Stabilität im ganzen postosmanischen Raum, der sich von Bihac in Bosnien nordwestlich bis nach Basra am Persischen Golf im Südosten ausdehnt.“
Dieser „postosmanische Raum“ findet sich heute noch destabilisierter als er war, als der Feldzug Bushs gegen den Irak enthüllt wurde. Damals gab es keinen Zweifel an den Grenzen, die die Siegermächte des Ersten Weltkriegs mit den Sykes-Picot-Linien gezogen hatten, wie es ihn heute gibt. Und natürlich hatte
Russland nicht die Gegenwart, die es heute in Syrien hat. Die imperialistischen Einmischungen sind heute bedeutender und gegensätzlicher.
Wie beeinflusst das Zypern? Wie immer sehr direkt, wegen der britischen Basen. Nach dem weiter oben erwähnten Bericht des britischen Parlaments „erbringt das Vereinigte Königreich den zweitgrößten Beitrag bei den Luftbombardements im Irak und in Syrien. Britische Flugzeuge haben über 3000 Missionen im Rahmen des Unternehmens Shader ausgeführt, und bis Anfang November 2016 haben sie Ziele von ISIS im Irak und in Syrien 1115 Mal (1048 bzw. 67) getroffen.[…] Die Basis der RAF in Akrotiri (in Zypern) stellt den wichtigsten Stützpunkt für die Flugzeuge in der Region dar.“
Der „unsinkbare Flugzeugträger“ ist also in voller Aktion, und alle großen „Spieler“ auf dem Schachbrett des Nahen Ostens wollen bei der Gestaltung seines zukünftigen Regierens das Sagen haben. Die beiden „Mutterländer“ sehen diese Entwicklung wie immer als Gelegenheit, um ihre Interessen auf den Rücken der einfachen griechischen und türkischen Zyprioten voranzutreiben, die auf ihrer Insel friedlich miteinander leben wollen.
Die SYRIZA/ANEL-Regierung hat die herkömmliche griechische Diplomatie nicht ein Stückchen nach links, in eine pazifistische Richtung, verschoben. Sie arbeitet mit dem rechten griechischen Zyprioten Anastasiadis bei der Unterhaltung der Allianz mit Israel und bei der Kooperation mit Al-Sisis Ägypten zusammen. Sie unterstützt die Logik „territorialer Zugeständnisse seitens der türkischen Zyprioten als Gegenleistung für ihre Beteiligung an einem zypriotischen Bundesstaat“, eine Logik, die die türkischen Zyprioten ohne irgendeine Anerkennung ihrer Existenz jahrzehntelang als Geisel nimmt. Es ist beeindruckend heuchlerisch, dass politische Mächte, die den „europäischen Besitzstand“ und die
„politische Kultur“ der EU verehren und in Ekstase darüber geraten, wie Frankreich und Deutschland „die Kriege zurückließen“ und das „vereinigte Europa“ schufen, eine Vielzahl geopolitischer Regelungen als Voraussetzungen für das Zusammenleben der beiden Völker auf der selben Insel fordern, wenn sie auf Zypern zu sprechen kommen.
Die gewichtigste Forderung Tsipras‘ und Anastasiadis‘ ist derzeit der Abzug der türkischen Truppen aus dem türkisch-zypriotischen Norden. Weder Erdogan noch Acinci akzeptieren diese Position. Eine große Mehrheit der türkischen Zyprioten lehnt sie nach Umfragen ebenfalls ab.
Soweit es die einfachen türkischen Zyprioten betrifft ist das verständlich: Warum sollten sie sich sicher fühlen, wenn sie Jahrzehnte von Angriffen staatlicher und nichtstaatlicher griechisch-zypriotischer Banden hinter sich haben, vor allem heute, wo die Umgebung in blutigen Konflikten versinkt? Warum sollten irgendwelche Verfassungsregelungen ein besseres Los als die Garantien der Abkommen von London und Zürich haben, die in Konflikten endeten? (9)
Aber natürlich machen sich die Mächte, die sich um den Tisch von Genf setzen werden, nicht Sorgen wegen der einfachen Leute Zyperns. Sie machen sich Sorgen wegen der geopolitischen Gleichgewichte in der Region und jede Macht strebt danach, ihren Einfluss zu erhöhen. Ein Nachgeben der Türkei auf Zypern wird als Aufwertung der griechischen Bestrebungen im östlichen Mittelmeer verstanden, mit dem, was das für seine Erdgaslagerstätten und seine strategische Rolle mit sich bringt. Diese Faktoren beherrschen den Prozess, und die Regierung des „ersten Mals links“ findet sich bis zum Hals begraben.
Gibt es eine Alternative? Die revolutionäre Linke lehnt die Verwicklung in die imperialistischen Interventionen und den gefährlichen Teufelskreis des griechisch-türkischen Gegensatzes ab. Als der
Annan-Plan diskutiert wurde, hatten wir, die Socialist Workers Party aus Großbritannien, die Devrimci Sosyalist Isci Partisi aus der Türkei, die Organisation Arbeiterdemokratie aus Zypern und die Sozialistische Arbeiterpartei aus Griechenland, mit einer gemeinsamen Erklärung interveniert, um ihn abzulehnen und uns dem Aufbau der Antikriegs- und der antikapitalistischen Bewegungen in unseren Ländern und international zu verpflichten, während wir „Unterstützung für die griechischen und türkischen Zyprioten, die sich vereinen, um für eine gemeinsame Zukunft ohne Erpressungen von außen und innere nationale Antagonismen zu kämpfen“ forderten.(10)
Es ist ein Konflikt, der heute vollkommen aktuell bleibt. Unser Platz ist an der Seite der Linken in der Türkei, die gegen den Krieg Erdogans in Syrien, im Irak und in den kurdischen Gebieten aufbegehrt und auf der Seite der griechisch-zypriotischen und türkisch-zypriotischen Demonstranten, die zusammen kämpfen. (11)
Vor allem ist es unerlässlich, dass wir uns in unserem eigenen Land den taktisch-patriotischen Kräften und der Anpassung der Regierung Tsipras’/Kammenos‘ an ihre Politik widersetzen. Das Nein zum Krieg ist die unentbehrliche Ergänzung des Widerstands der Arbeiter gegen die Memoranden und den Rassismus. Die Menschen, die die Kriegsflüchtlinge trotz der imperialistischen Interventionen in unserer Region mit offenen Armen empfangen haben, werden nicht losziehen, um dafür zu kämpfen, dass die Bosse in Athen und Ankara darum wetteifern können, wer besser in der Lage sein wird, den gegensätzlichen Interessen der USA, der EU und Russlands in der Ägäis und im Mittelmeer zu dienen. Wir wollen weder ihren Krieg noch die „Gegenleistungen“, die nur Särge und Flucht (neben den Memoranden) bringen können.
Dieser Artikel erschien am 19. Januar 2017 in der griechischen Zeitschrift „Sozialismus von unten“ (http://socialismfrombelow.gr/article.php?id=939). Der Autor ist Panos Garganas, übersetzt wurde er von Angelo.
Fußnoten:
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Siehe der Artikel „Unser Banner ist nicht der Vertrag von Lausanne, sondern der gemeinsame Kampf mit den Arbeitern der Türkei“ in der “Arbeitersolidarität” vom 11.10.16, auf http://ergatiki.gr/article.php?issue=1244&id=14485.
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Financial Times vom 13 Dezember 2016.
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Financial Times vom 7. Dezember 2016.
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mehr dazu siehe im Artikel von Nikos Lountos „Die Türkei nach der Abwendung des Putsches“ in der Zeitschrift “Sozialismus von unten” Nr. 118 vom September/Oktober 2016 und die Zeitung Arbeitersolidarität vom 27. Juli.
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Bzgl. des Berichts des britischen Parlaments siehe http://researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/SN06995. Bzgl. der griechischen Verwicklung in die Gewährung von Militärhilfe für die Koalition von 67 Ländern unter Führung der USA zur Bekämpfung von ISIS/ISIL siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Military_intervention_against_ISIL#Involvement_by_countr.
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siehe in diesem Zusammenhang den Artikel „Der griechisch-türkische Krieg von 1974″ im Buch „Wie wir die Kriegsbedrohung stoppen können“, Ausgabe der marxistischen Buchhandlung von 1996 und das Magazin “Sozialismus von unten” Nr. 12, Juni/Juli 1994, http://socialismfrombelow.gr/pdf/12.pdf.
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Siehe das Buch „Die griechisch-türkischen Beziehungen 1923-1987“-Th. Veremis et. al.
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Siehe die Zeitschrift “Sozialismus von unten” Nr. 49, Mai/Juni 2004.
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Siehe in diesem Zusammenhang den Artikel von Leandros Bolaris „Zürich/ der vorangehende Annan-Plan“in der Zeitschrift “Sozialismus von unten”, Nr. 49.
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Die gesamte Erklärung findet sich hier: http://socialismfrombelow.gr/pdf/49.pdf, Seite 28/29.
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Siehe dazu die Ausgaben der “Arbeitersolidarität” vom 17.8.16 und vom 7.12.16.