Das 55-Punkte-Abkommen, das die am Libyen-Krieg beteiligten Regionalmächte am 19. Januar in Berlin vereinbart haben, ist als erster Schritt zur Beendigung dieses Krieges zu begrüßen, auch wenn leider nicht alle dschihadistischen Gruppen darin einbezogen wurden. Diese Konferenz war der dritte Versuch nach gescheiterten Anläufen Italiens und Frankreichs.
Die dringende – und komplizierte – Aufgabe lautet nun, die vereinbarte Waffenruhe zwischen den Milizen und Truppen des im Osten Libyens residierenden, 76 Jahre alten Generals Chalifa Haftar und den Regierungssoldaten des Ministerpräsidenten Fajez Sarradsch zu konsolidieren und in einen belastbaren Waffenstillstand zu überführen. Verantwortlich dafür ist ein Militärkomitee, zu dem je fünf Vertreter dieser libyschen Konfliktparteien unter UN-Moderation gehören, die seit dem 3. Februar in Genf miteinander verhandeln. Dieses Komitee soll auch Schritte ergreifen, um alle nicht-libyschen Kämpfer zu demobilisieren. Unklar ist, ob Russland und die Türkei dem Folge leisten werden, da sie mit Söldnern in Libyen präsent sind (mindestens 1.400 aus Russland, höchstens 2.000 aus der Türkei und Syrien) und sich durch deren Einsatz politische Mitsprache gesichert haben. In Haftars Reihen kämpfen auch Tausende Söldner aus dem Tschad und Sudan.
Auf Haftars Seite sind die Vereinigten Arabischen Emirate, Russland, Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien und Frankreich am Krieg beteiligt, auf Sarradschs Seite die Türkei, Katar und Italien.
Ohne die finanzielle und militärische Unterstützung aus den Emiraten durch Bombardements, Angriffe mit Kampfdrohnen chinesischer Bauart und Luftabwehrsysteme (aus russischer Herstellung) hätte es Haftar mit seinen Truppen nicht bis vor die Tore der Hauptstadt Tripolis geschafft.
Die Teilnehmer von Berlin haben sich dazu bekannt, dass es keine militärische Lösung für den Konflikt gebe und solche Versuche das Leid der Menschen nur vergrößern würden. Ihren Handlungen nach der Konferenz zufolge sehen einzelne von ihnen das in Wirklichkeit anders, denn die UN-Mission in Libyen hat Verstöße gegen das Waffenembargo festgestellt und scharf kritisiert. Am 26. Januar schlugen Raketen auf dem Gelände des Mitiga-Flughafens in Tripolis ein. Außerdem starteten Milizionäre unter Haftars Kommando eine Offensive aus der Küstenstadt Sirte und rückten an die Stadt Misrata heran, deren Hafen und Flughafen strategische Bedeutung haben und deren kampfstarke Milizen wichtig für die Verteidigung von Tripolis sind. (Haftar hat weder ein Abkommen für eine Waffenruhe noch das 55-Punkte-Abkommen unterzeichnet, Außenminister Heiko Maas gegenüber jedoch zugesagt, die Waffenruhe einzuhalten.) Diese Verstöße gegen die Waffenruhe drohten laut UN-Mission „das Land in eine neue und verschärfte Runde von Kämpfen zu stürzen“. Haftars Sprecher antwortete, es handele sich um eine begrenzte Operation, und machte den türkischen Präsidenten Erdoğan für die Eskalation verantwortlich. Dieser habe Truppen zur Verteidigung von Tripolis entsandt. Sarradschs Regierung hat die Waffenruhevereinbarung bereits für sinnlos erklärt und angekündigt, sie sehe sich gezwungen, ihre Beteiligung an künftigen Dialogen zu überdenken – was sie nicht von der Teilnahme an den erwähnten Genfer Verhandlungen abhält.
Am Wochenende der Konferenz blockierten mit Haftar verbündete Milizen die wichtigsten Ölhäfen des Landes. Die Produktion fiel damit von etwa 1,2 Millionen Barrel pro Tag auf weniger als 100.000, den niedrigsten Stand seit dem Sturz des Herrschers Muammar al-Gaddafis 2011. Dem Land entgingen damit Einnahmen von etwa 55 Millionen Dollar pro Tag. Haftar versuchte damit, die wichtigste Geldquelle der Regierung auszutrocknen, die mit den Einnahmen auch ihre Kriegsführung finanziert und Waffen gekauft hat.
Ausländische Akteure halten sich ebenfalls nicht an die in Berlin verkündeten Selbstverpflichtungen. Am 25. Januar kritisierte die UN-Mission, dass die Waffenruhe durch den andauernden Zustrom („mehrere Flugzeugladungen“) von ausländischen Kämpfern, Beratern, Waffen, Munition und modernen Waffensystemen bedroht sei. Allein aus den Vereinigten Arabischen Emiraten sind mehr als 20 Flüge mit schweren Transportmaschinen nach Libyen dokumentiert. Das gilt auch für Flüge aus der Türkei. Frankreich will vor kurzem türkische Fregatten beobachtet haben, die Söldner aus Syrien nach Libyen begleiteten.
Außenminister Heiko Maas forderte eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, die die Beschlüsse der Libyen-Konferenz absichert. Sie müsse bei Verstößen gegen das Waffenembargo, das schon seit 2011 besteht, Sanktionen beinhalten. Solche Sanktionen fehlen in der Berliner Vereinbarung.
Zu unterstützen ist auch die schon ältere Forderung des UN-Sondergesandten für Libyen, Ghassan Salamé, dass der UN-Sanktionsausschuss, dessen Vorsitz Deutschland innehat, all jene bestraft, die Waffen nach Libyen liefern. Das könnte bedeuten, dass Deutschland auch gegen deutsche, französische oder italienische Rüstungsexporteure vorgeht. Deutsche Firmen haben zumindest vor Gaddafis Sturz beide Seiten im damaligen Libyenkrieg mit Rüstungsgütern beliefert, die anschließend in den Norden Malis gelangt sind, wo die größte und gefährlichste, labile UN-Peacekeeping-Mission stattfindet. Deutschland zählt leider zu den vier größten Rüstungsexporteuren weltweit, mit einem Drittel seiner Exporte in die Krisenregion Nahost/Nordafrika.
Die Bundesregierung sollte Rüstungsexporte an alle am Libyen-Krieg beteiligten Länder beenden.
Ghassan Salamé war der maßgebliche Initiator der Berliner Konferenz. All jenen ins Stammbuch geschrieben, die auch in Libyen die Herstellung von Sicherheit mit der Entsendung europäischer Truppen gleichsetzen, sei seine bemerkenswerte Stellungnahme unmittelbar nach der Berliner Konferenz. Demnach sei eine internationale Friedenstruppe zur Sicherung eines Waffenstillstands in Libyen nicht sinnvoll. Je besser ein politisches Abkommen über die Einhaltung eines Waffenstillstands sei, desto weniger Soldaten seien nötig, um es zu schützen. Statt einer Blauhelm-Mission mit Soldaten sei die Entsendung „einer kleinen Zahl von internationalen Beobachtern“ wichtig, die in der Lage sein müsse, künftig einen Waffenstillstand zu überwachen. Diese Aussagen sind für die Beurteilung jeglicher Militäreinsätze von herausragender Bedeutung.
In Libyen gebe es „keine Akzeptanz für ausländische Truppen“. Das liegt wohl nicht zuletzt am Misstrauen der Bevölkerung, die es leid ist, von außen gesteuert zu werden, und es gilt auch für viele andere Staaten der Afrikanischen Union, die in Berlin mit am Tisch saß und Verantwortung für Libyen übernehmen möchte.
Deutschland tat gut daran, sich 2011 nicht am von Frankreich und den USA angeführten Kriegseinsatz zu beteiligen, mit dem Gaddafi gestürzt wurde und Libyen anschließend ins Chaos abglitt.
Libyen verfügt über die größten Ölvorkommen und die viertgrößten Gasvorkommen Afrikas; das ist relevant für die Interessenslage einzelner Mächte. Italien hat 2008 mit Gaddafi einen Freundschaftsvertrag abgeschlossen und 2018 bekräftigt, der italienische Investitionen in Milliardenhöhe als Entschädigung für die Ausbeutung des Landes während der Kolonialzeit vorsieht. Und der halbstaatliche Öl- und Gaskonzern Eni ist schon seit 1959 in Libyen tätig und der größte ausländische Öl- und Gasförderer dort: Rund 45 Prozent der Öl- und Gasförderung gehen auf das Konto von Eni. Ein wichtiger Konkurrent ist der französische Konzern Total.
Frankreich entsendet Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer und will damit Griechenland im Streit mit der Türkei stärken. Es kritisierte das Seeabkommen, das die Türkei im Dezember mit der Regierung Sarradschs geschlossen hatte und das die türkische Ausbeutung von Bodenschätzen im Mittelmeer nach Südwesten hin stark ausweitet, ohne Griechenlands Inseln zu berücksichtigen.
Die Türkei wurde bisher im Mittelmeer durch Zypern, Ägypten, Griechenland und Israel isoliert. Diese vier Länder wollen durch eine Unterwasser-Pipeline Gas nach Europa exportieren.
Das Überleben der Regierung Sarradschs und eine Rückkehr zur relativen Stabilität würden türkischen Unternehmen die Chance geben, die Arbeit an Bauprojekten im Wert von rund 20 Milliarden US-Dollar wiederaufzunehmen, die seit dem Sturz Gaddafis eingefroren sind. Die Türkei und Russland bauen in Libyen ihre Verhandlungsposition gegenüber Europa als Schleusenwärter aus, die Druck durch neue Flüchtlingsbewegungen nach Europa aus Libyen ausüben könnten.
Das Beispiel Libyen zeigt: Frieden und Sicherheit lassen sich nicht mit militärischen Mitteln herstellen. Nötig ist ein Umstieg auf eine zivile Sicherheitspolitik ohne Militär, die nicht mehr auf Gewalt und Krieg beruht. Eine positive Vision, wie diese Politik aussehen kann, mit konkreten Schritten ist in dem Konzept „Sicherheit neu denken“ dargelegt, kostenlos hier herunterzuladen.
Thomas Carl Schwoerer ist Verleger, Autor und Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, www.dfg-vk.de. Zu seiner Person siehe den Beitrag in Wikipedia.
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