Die Bezahlkarte oder das Sommerloch, das keines ist

Wenn etwas nicht zusammenpasst dieser Tage, dann sind es die Bundesregierung und das Sommerloch. Die sensationsarme Zeit zwischen Juli und September scheint für die Ampel in diesem Jahr auszufallen. Nicht nur, dass der Bundesfinanzminister zwei Gutachten zur Bewertung des Haushaltsentwurfs bestellt hat, um den Koalitionsstreit erneut zu entfachen. In der selben Woche haben auch noch zwei Sozialgerichte den ersten Klagen gegen eines der diskriminierungsträchtigsten Projekte der Politik stattgegeben: Die Bezahlkarte für Menschen, die Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Zwar beanstandeten die Gerichte nicht die Karte selbst, sondern allenfalls die Höhe, die als Bargeld abgehoben werden kann. Aber beide Urteile forderten, dass die persönlichen Lebensumstände der Betroffenen stärker berücksichtigt werden müssten. 

Natürlich: Die Bezahlkarte fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundesregierung. Vielmehr waren es die Ministerpräsidenten, die sich von der unterkühlten Novembertristesse des auslaufenden Jahres 2023 inspirieren und diese in die Ausgestaltung einer Bezahlkarte einfließen ließen: Mit dem Stempel der juristischen Revidierung gehen jedoch die Regierungsebenen in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger mehr und mehr ineinander über – auch weil die Bezahlkarte von der Bundesregierung wohlwollend begleitet, stets politisch begründet und am Ende auch gemeinsam verabredet worden war.

Dabei ist es nicht die Bezahlkarte selbst, die diskriminierend wirkt. Gute Gründe sprechen dafür, die Auszahlung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bargeldlos vorzunehmen. Die Auszahlung wohlgemerkt, nicht ihre Verwendung. Doch einmal mehr greifen staatliche Strukturen in das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ein und unterbinden das Bedürfnis nach sozialer und kultureller Teilhabe. Denn: Die Bezahlkarte ist eine Debitkarte ohne Kontobindung. Nicht nur ihre Nutzung im Ausland ist gesperrt, sondern auch die Karte-zu-Karte-Überweisung. In vielen Bundesländern können Geflüchtete zudem maximal 50 Euro Bargeld pro Monat abheben, womit der Betrag deutlich unter dem gesetzlich festgelegten Betrag für den notwendigen persönlichen Bedarf für Erwachsene (184 Euro) und Kinder (137) liegt.

« Mit der Einführung der Bezahlkarte unterbinden wir die Möglichkeit, Geld aus staatlicher Unterstützung in die Herkunftsländer zu überweisen und bekämpfen dadurch die menschenverachtende Schlepperkriminalität », hatte der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Boris Rhein, zur Begründung verkündet. Doch nicht nur die Union hatte die Umsetzung des Modells mit fragwürdigen Argumenten vorangetrieben. Gleiches galt für die FDP. « Wir müssen die Pull-Wirkung unseres Sozialstaats für Asylsuchende nachhaltig abbauen », war der Kommentar des stellvertretenden Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion, Christoph Meyer.

So weit, so schlecht. Richtig kritisch wurde es, als auch diejenigen in den Diskriminierungschor einstimmten, die traditionell für den Schutz der Schutzlosen standen, für diejenigen, die sich nicht mit hohen Vermögen gegen die Unwägbarkeiten des Lebens absichern können. « Wir haben die Einführung der Bezahlkarte vorangetrieben, weil wir erstens Missbrauch von Geld aus dem deutschen Sozialsystem verhindern müssen und zweitens dazu beitragen wollen, dass Menschen, die zu uns kommen, möglichst schnell in Beschäftigung kommen », lautete beispielsweise der Kommentar des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke. Man mag kaum glauben, dass gerade seine Partei  über Jahrzehnte durch die Fluchtgeschichte des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt geprägt worden war.

Fragt man nach, wie belastbar die Grundlage ist, auf der die Ministerpräsidenten ihre Entscheidung vorangetrieben haben, kommt man schnell ins Staunen: So lässt sich das zentrale Argument, man müsse den Abfluss von sozialstaatlichen Leistungen verhindern, durch keine einzige Statistik untermauern. Die Bundesbank kann die Zahl der Rücküberweisungen aus Deutschland nur schätzen und kam für das vergangene Jahr auf 7,1 Milliarden Euro. Dass dieser Betrag aus gezahlten Sozialleistungen stammt, kann aus diesen Schätzzahlen jedoch nicht abgeleitet werden. Im Gegenteil: Bei der Bundesbank geht man davon aus, dass ein Großteil aus dem Arbeitslohn stammen dürfte. Denn: Die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind mit 460 Euro noch geringer als das Bürgergeld, das für die Deckung der Grundbedürfnisse bereits auf Kante genäht ist.

Auch ein Blick auf die Empfängerländer legt die Vermutung nahe, dass der Großteil der Überweisungen nicht aus den Sozialleistungen für Asylbewerber kommt. So fließen etwa drei Milliarden Euro in andere EU-Länder, an der Spitze Rumänien und Polen. Außerhalb der EU ist die Türkei mit 848 Millionen Euro ein wichtiges Zielland. Erst danach kommen Syrien mit geschätzten 407 Millionen Euro und Afghanistan mit 162 Millionen Euro. Allein die Rücküberweisungen nach Syrien sind höher als die an den gesamten afrikanischen Kontinent. 

Es bleibt also festzuhalten: Die Bezahlkarte macht aus dem Konflikt zwischen oben und unten einen Konflikt zwischen drinnen und draußen – damit alles bleiben kann, wie es ist. Während es weder die Bundesregierung noch die Ministerpräsidenten zu stören scheint, dass sich der wirtschaftlichen Schaden durch Tarifflucht auf 130 Milliarden Euro jährlich beläuft und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil auch weiterhin konkrete Massnahmen zur Stärkung der Tarifbindung verschleppen darf, entwickeln die genannten Protagonisten beim angeblichen Sozialmissbrauch von Geflüchteten einen Tätigkeitseifer, der nachdenklich stimmen sollte. 

Die Urteile der beiden Sozialgerichte zeigen, dass ein klassenneutrales Regieren nicht möglich ist. Eine Regierung, die sich weigert, den Unternehmen im Interesse der Beschäftigten Schranken zu setzen und den Vermögenden um des Erhaltes der Daseinsvorsorge willen steuerpolitisch in die Tasche zu greifen, kann diesen Zustand irgendwann nur durch eine bevormundende, wenn nicht autoritäre, durch eine diskriminierende, wenn nicht zuweilen rassistische Gesetzgebung aufrechterhalten. Weitere Klagen und Urteile werden folgen. Auf die Reaktionen dürfen wir gespannt sein.

Widerspruch und Widersprüche – eine Kolumne von Ulrike Eifler

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