Deutschlands eigennützige Komplizenschaft

„NATO-Aufmarsch gegen Russland oder wie ein neuer Kalter Krieg entfacht wird“ hat Jürgen Wagner sein brennend aktuelles Buch genannt, doch dieser Titel führt den Leser in die Irre. Denn das Buch geht weit über die Darstellung der militärischen Konfrontation des Westens mit Russland hinaus. Tatsächlich ist es eine brillante Analyse des langfristig konzipierten Aufstiegs Deutschlands und der Europäischen Union zu einem relativ eigenständigen geopolitischen Machtblock. Wagner ordnet den NATO-Aufmarsch gegen Russland in das geostrategische Konzept des Westens insgesamt ein, er beschreibt die gegenwärtige Konfrontation mit Russland aber nicht als Problem an sich, sondern als Vehikel einer umfassenden geopolitischen Stärkung des transatlantischen Europas in ökonomischer, politischer und insbesondere militärischer Hinsicht. Dieser neue Machtblock soll weltweit handlungsfähiger gemacht werden.
Die ersten beiden Kapitel beschäftigen sich mit der Rolle der USA nach dem Ende des Kalten Krieges. Die USA, waren zunächst bestrebt, ihre alleinige Führungsrolle in der Welt mit Hilfe der NATO abzusichern und die NATO zur „Schutzmacht der neoliberalen Globalisierung“ zu machen. Dazu war es notwendig, den Militärpakt von einem Verteidigungs- zu einem Interventionsbündnis umzufunktionieren. Wagner analysiert die antirussische Orientierung der NATO-Osterweiterung wie auch die Erfolglosigkeit der US-geführten Kriege sowie die „erhebliche machtpolitische Schwächung der USA“ durch diese Kriege und durch den Aufstieg neuer Mächte. Das veranlasste die USA bereits vor mehr als 15 Jahren zu einem „Transatlantischen New Deal“ mit Westeuropa, bei dem „Macht und Einfluss im Bündnis analog zu den Lasten fairer zu verteilen“ seien. Der Gedanke einer transatlantischen Macht- und Lastenteilung – wie auch einer partiellen Emanzipation von den USA – ist also viel älter als es die aufgeregte Diskussion darüber seit Beginn der Präsidentschaft Donald Trumps vermuten lässt.
Der Kern des Buches – und sein originärer Neuwert – sind vor allem im dritten Kapitel enthalten, das unter der Überschrift „EUropas komplementäre Expansionsstrategie“ steht. Kronzeuge des Autors ist der damalige Präsident des Europäischen Parlaments und gegenwärtige Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, der sein eigenes und das geopolitische Credo der EU so formulierte: „Globale wirtschaftliche Macht geht Hand in Hand mit weltpolitischer Verantwortung – diesem Auftrag kann sich Europa nicht entziehen. Europas Partner erwarten – zu Recht -, dass Europa sich dieser Verantwortung stellt und aus der Wirtschaftssupermacht auch eine weltpolitische Supermacht wird.“
Wagner weist nach, dass dieses Konzept langfristig angelegt ist und durch zahlreiche politische, militärische, ökonomische und juristische Schritte abgesichert wird. Er betont besonders die geistige Vorarbeit der „Group on Grand Strategy“ (GoGS), eines „zunehmend einflussreichen Zusammenschluss[es] von EU-Geopolitikern“. Wagner beschreibt die Position dieser Gruppe mit den Worten: „Um den EU-Aufstieg zur Weltmacht zu bewerkstelligen, sind […] vor allem zwei Dinge erforderlich: die Herausbildung eines veritablen Militärapparates und die Expansion in den Nachbarschaftsraum, also die Schaffung einer neoliberalen großeuropäischen Einflusszone. Beide Aspekte fließen […] zu einem imperialen Raumkonzept zusammen, das der real verfolgten EU-Globalstrategie recht nahe kommt“.
Zwar ist dieses Ziel noch nicht vollständig erreicht, aber wichtige Voraussetzungen dafür wurden bereits geschaffen. Dazu gehören insbesondere die EU-Osterweiterung und eine geografisch darüber hinausgehende Expansionsstrategie in Gestalt der „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ (ENP). Osterweiterung und ENP verfolgen nach Wagner dieselben Ziele: „Ungeachtet aller hehren Absichten liegt die Priorität eindeutig auf dem neoliberalen Umbau und der – peripheren – Einbindung der Nachbarländer in die großeuropäische Wirtschafts- und Einflusszone“.
Die größten Defizite dieser Politik werden nach Wagner bei den militärischen Fähigkeiten der EU ausgemacht, die als eine Art Eintrittskarte verstanden werden, um im Konzert der Globalmächte mitspielen zu können. Zu den ersten Ansätzen einer europäischen Militärunion zählt Wagner die Entscheidung des EU-Ratsgipfels vom Juni 1999 zur Schaffung einer EU-Eingreiftruppe im Rahmen der NATO sowie die Bildung einer Reihe militärischer Stabsinstitutionen der EU. Für eine durchgreifende Militarisierung der Union fehlte aber noch eine handfeste Begründung. Die lieferte erst die Ukrainekrise im Frühjahr 2014.
Im vierten Kapitel weist Wagner nach, dass diese Krise vor allem das Ergebnis der westlichen Geopolitik ist und weitgehend in der NATO-Osterweiterung wurzelt. Wagner bewertet die aktive Rolle des Westens beim Sturz des ukrainischen Janukowitsch-Regimes als Umsetzung langfristiger Überlegungen solcher Geopolitiker wie Zbigniew Brzezinski, George Friedman oder Michael Stürmer. Auf die Gegenmaßnahmen Russlands, die dem Putsch gegen Viktor Janukowitsch folgten, reagierte die NATO mit einer bis dahin nie dagewesenen militärischen Konfrontation, wobei Deutschland erstmals eine Führungsrolle übernahm. Den eigentlichen Coup des Westens sieht Wagner aber darin, den Russen durch eine konzertierte Aktion der Mainstreammedien die Alleinschuld an dieser Krise anzulasten. Wagners Verdienst besteht hier vor allem darin, das Lügengebäude um die Konfrontation der NATO gegen Russland eingerissen zu haben.
Das logische Pendant zu den in den Kapiteln eins bis sechs dargestellten neuen geostrategischen Aktivitäten der EU und der NATO findet sich in dem speziell Deutschland gewidmeten Kapitel sieben, das unter dem Motto der „eigennützigen Komplizenschaft“ Deutschlands für die Stärkung der weltpolitischen Rolle Europas steht. Wagner analysiert die Entwicklung dieser politischen Umorientierung ausgehend von der 2013 publizierten Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit dem German Marshall Fonds (GMF) „Neue Macht – neue Verantwortung“, über den nachfolgenden Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD und das „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ von 2016 bis in die jüngste Gegenwart.
Im Kern geht es dabei um den Paradigmenwechsel von einer Außenpolitik der militärischen Zurückhaltung zu einer Außenpolitik der Durchsetzung geopolitischer Interessen Deutschlands in Europa und der Welt. Wichtig ist die Feststellung, dass der Ausgangspunkt dieser Umorientierung deutlich vor der Ukraine-Krise und vor der Amtsübernahme Donald Trumps als Präsident der USA liegt. War die SWP/GMF-Studie von 2013 noch als Grundsatzdokument zur parteiübergreifenden Begründung der geopolitischen Rolle Deutschlands gedacht, so ist das Weißbuch 2016 bereits die reale Umsetzung der Studie in Regierungspolitik und macht den weltpolitischen Machtanspruch Deutschlands geltend. Wagner verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass der entsprechende Tarnbegriff der „Verantwortung“ im Weißbuch allein 72 Mal gebraucht wird. Insofern ist es auch kein Zufall, dass die Veröffentlichung des Weißbuchs zeitgleich mit dem NATO-Gipfel vom Juli 2016 zusammenfiel, den die Bundeskanzlerin mit einer „flammenden Liebeserklärung an die 360-Grad-NATO begrüßte“.
Diese ganze Entwicklung hat Wagner faktenreich. Insofern ist das Buch kein ideologisches Meinungspapier, sondern wissenschaftliche Analyse. Ob sich der geopolitische Anspruch Deutschlands angesichts der vielen Krisenerscheinungen innerhalb der EU und um sie herum weiter durchsetzen lässt, muss noch als offen betrachtet werden. Nicht zuletzt hängt das auch davon ab, ob dieser außenpolitische Kurs von der Bevölkerung getragen wird. Das wird sich spätestens bei der Bundestagswahl im September 2017 zeigen.

Jürgen Wagner: NATO-Aufmarsch gegen Russland oder wie ein neuer Kalter Krieg entfacht wird. edition berolina, Berlin 1916, 208 Seiten, 9,99 Euro.

Ein Beitrag von Wilfried Schreiber

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der soeben erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden.
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