Der Prager Frühling: Die Idee eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz

Die Erinnerung an den Frühling 1968 in Prag setzt hierzulande erst im Spätsommer ein, schrieb ich vor einem Jahr in Erinnerung an den Jahrestag des Manifests der 2000 Worte von Ludvík Vaculík. Gemeint war, dass – wenn überhaupt – die Niederschlagung eines keimenden demokratischen Sozialismus in der tschechoslowakischen Republik mit tausenden Panzern und hunderttausenden Soldaten erinnert wird, nicht aber seines Aufbaus Ende der 1960er Jahre.

In Texten konservativer Feuilletonhistoriker wird das Schlagwort vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ dieser Tage nicht zur Kennzeichnung eines Zitats in Anführungszeichen gesetzt, sondern zur maximalen Distanzierung. Und um jedes Missverständnis auszuschließen wird zuweilen noch in Klammern ergänzt, dass es sich beim demokratischen Sozialismus ohnehin nur um einen „natürlich utopischen Traum“ gehandelt habe.

Man kann sich fragen, warum es dann der Panzer und Soldaten bedurfte, um sich eines „natürlich“ doppelten Phantasiegebildes — Traum und (!) Utopie — zu entledigen. Aber statt Seelenforschung deutscher Geschichtsdeuter, erklärt die Lektüre der tschechischen Protagonisten eher, warum versucht wird, den Prager Frühling derart nachhaltig ins Reich der Fiktionen zu verbannen. Manche Trostlosigkeit der Gegenwart lässt sich offenbar mit der Fiktion ihrer Alternativlosigkeit besser ertragen.

Radikal war, dass die WegbereiterInnen des Prager Frühlings die Wirtschaftsordnungen sowohl des realexistierenden Sozialismus als auch des realexistierenden Kapitalismus zur Disposition stellten. Radovan Richta, auf den der Slogan vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zurückgeht, hatte in seinem als Richta-Report gewordenen Text zutreffend und früh erkannt, dass die Produktivkraftentwicklung in der beginnenden wissenschaftlich-technische Revolution in den 1960er Jahren beide obsolet machte.

Während die sozialistischen Ökonomien das Versprechen einer anderen Produktionsweise nicht einzulösen vermochten, würden auch die kapitalistisch wirtschaftenden Gesellschaften nicht in der Lage sein, sozialen Ausgleich und Demokratie herzustellen. Wer wollte dem heute, mehr als 50 Jahre später widersprechen? Sehen wir doch eine Entwicklung, die nicht mehr Teilhabe und Verfügungsmöglichkeit an Reichtum und Ressourcen für alle und individuelle Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen bedeutet. Stattdessen sind die Gesellschaften von zunehmenden Ressourcenkonflikten und die Durchdringung der Arbeitswelt mit engmaschigen Überwachungs- und Kontrollregimen geprägt. Wir erleben eine nicht gekannte soziale Spaltung zwischen Norden und Süden, Stadt und Land, arm und reich. Das trifft sowohl auf den autoritären Staatskapitalismus chinesischer Provenienz wie auch auf die westlichen Kapitalistischen Gesellschaften, die sich scheinbar nur noch zwischen überholtem Neoliberalismus und neurechtem Populismus entscheiden können.

Es ist dringlicher denn je den 1968 durch die Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten unter sowjetischer Führung gewaltsam durchtrennten Faden wieder aufzunehmen und an einer Demokratisierung der Wirtschaftsordnung weiterzuarbeiten, um individuelle und kollektive Freiheit zu verwirklichen.


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