Palästina Foto: Felix Jaschick

Gazaproteste: Der Mythos des linken Antisemitismus

In der Bundestagsdebatte zum 07. Oktober, die vor wenigen Tagen stattfand, erklärte Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU), dass der Antisemitismus in Deutschland nicht nur ein rechtes, sondern vor allem auch ein linkes Problem sei, und brachte ihn in Verbindung mit der Palästina-Solidaritätsbewegung und linken Protesten. Merz‘ Aussagen mögen ihm realistisch erscheinen, mit Fakten haben sie wenig zu tun, wie eine aktuelle Studie zeigt.

Während die Bundesregierung weiterhin die israelische Regierung verteidigt, das Leid in Gaza verharmlost und neuerdings gar ankündigt, wieder Waffen nach Israel zu schicken, empören sich Vertreter der Bundesregierung wie auch der konservativen und rechten Oppositionsparteien über den vermeintlichen Antisemitismus von Menschen, die gegen den Krieg in Gaza protestieren. Professor Marc Helbing und Professor Richard Traunmüller haben sich der Frage des linken Antisemitismus angenommen und aus den Daten des „German Internet Panel“, die Antworten von 3.702 Personen ausgewertet, die zwischen dem 1. und 31. Januar 2024 befragt wurden.

Antisemitismus in Deutschland

Zu Beginn haben die Forscher „traditionell antisemitische Einstellung“ ausgewertet und kommen dabei zu beunruhigenden Ergebnissen: „So sind rund acht Prozent der deutschen Bevölkerung (eher) der
Meinung, dass Juden ‚mehr hinter Geld her‘ seien als andere Menschen. Weitere 13 Prozent stimmen außerdem der Aussage (eher) zu, dass Juden ‚zu viel Einfluss in der Welt‘ hätten. Noch höher ist der Anteil derjenigen, die die Ansicht vertreten, Juden sprächen ’nur über den Holocaust, um ihre politische Agenda voranzutreiben‘ (18 Prozent).“ Sie gehen aufgrund derjenigen, die Fragen mit „teils/teils“ beantwortet haben, sowie der gesellschaftlichen Ächtung sogar von einer höheren Dunkelziffer aus.

Den Zahlen gegenübersteht der „große gesellschaftliche Konsens darüber, dass Israel das Recht hat, ‚als Heimatland für das jüdische Volk zu existieren‘ (82 Prozent) und dass Israel das Recht hat, ’sich gegen diejenigen zu verteidigen, die es zerstören wollen‘ (86 Prozent).“ Problematisch in dem Kontext ist eine Verharmlosung des Holocausts, die von fast einem Viertel der Bevölkerung geteilt wird: „Rund 22 Prozent der Befragten (stimmen) der Aussage (eher) zu, Israel behandele die Palästinenser ’so, wie die Nazis die Juden behandelt haben’“. Die Antworten wurden dem Block „Antizionismus/antizionistischer Antisemitismus“ zugeordnet.

Palästinasolidarität und Israelkritik

Das Panel beinhaltete jedoch nicht nur Fragen zu Israel und Antisemitismus, sondern auch zu Fragen der Solidarität mit Palästina: „Eine deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist der Ansicht, dass die Palästinenser „ein Recht auf einen eigenen Staat“ haben (85 Prozent). In geringerem Maße ist auch die Meinung mehrheitsfähig, die Palästinenser würden „von den Israelis seit Jahrzehnten unterdrückt“ (62 Prozent). Diese Einschätzung gilt jedoch nicht als Freibrief für Gewalt gegen Israel. Der Vorstellung, palästinensische Terroristen seien als „Freiheitskämpfer“ zu verstehen, wird von der deutschen Bevölkerung eine klare Absage erteilt. Nur rund sechs Prozent würde einer solchen Interpretation (eher) zustimmen. Es zeigt sich in der Bevölkerung somit eine klare Haltung zum Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat, wie auch eine breite Anerkennung der Unterdrückung der Palästinenser durch Israel, militärische Gewalt gegen Israel wird jedoch deutlich abgelehnt.

Linker Antisemitismus?

Die Werte wurden von den Verfassern der Studie auch nach politischen Einstellungen und Alterskohorten ausgewertet, um den an junge linke Menschen, die gegen den israelischen Krieg protestieren, gerichteten Vorwurf des Antisemitismus zu überprüfen. Das Ergebnis der Studie ist deutlich: „Junge Menschen unter 35, die sich politisch links verorten, sind mit einem Mittelwert von 1,4 die am wenigsten antisemitisch eingestellte Gruppe in unserem Vergleich. Tatsächlich ist der traditionelle Antisemitismus sowohl in älteren Alterskohorten als im rechten politischen Spektrum deutlich verbreiteter.“ Der Wert liegt somit nahe am niedrigstmöglichen Wert von 1,0, unter jungen rechten Menschen liegt er mit 2,5 dagegen deutlich höher. Unter jungen Menschen mit Hochschulabschluss ist der Wert mit 1,5 am geringsten, betrachtet man alle Gruppen, die ohne die Einbeziehung der politischen Präferenz gebildet wurden, unter älteren Menschen ohne Hochschulabschluss mit 2,7 am höchsten. Etwas höher sind die Werte unter Studierenden mit Blick auf die Fragengruppe „Antizionismus/antizionistischen Antisemitismus“, allerdings könnten jene, die die erste Frage des Blocks verneinen, dies auch wegen der Befürwortung einer demokratischen „Ein-Staaten-Lösung“ tun, die in progressiven Kreisen immer stärker diskutiert wird.

Darauf könnte auch die Auswertung des Blocks der Palästina-Solidarität hindeuten: „Was junge, linksorientierte Menschen in Deutschland tatsächlich auszeichnet und von anderen gesellschaftlichen Gruppen unterscheidet, ist eine ausgeprägte pro-palästinensische Haltung. Befragte unter 35 Jahren, die sich politisch links verorten, weisen auf der Skala pro-palästinensischer Einstellung mit einem
Mittelwert von 3,3 den höchsten Wert auf. Bei älteren linken Befragten über 65 liegt dieser Wert leicht darunter bei durchschnittlich 3,1 Punkten.“

Palästina-Solidarität und Antisemitismus

In Äußerungen von Politikern und konservativen Medien wird suggeriert, dass es sich bei der pro-palästinensischen Haltung von jungen Aktivisten eigentlich um Antisemitismus handle. Zur Beantwortung dieser Fragen wurde die Korrelation zwischen den drei Fragenblöcken ausgewertet. „Hängen diese eng zusammen, ist dies ein Hinweis auf eine problematische Nähe zu antisemitischen Vorstellungen. Lassen sich umgekehrte, nur geringe oder gar keine Korrelationen feststellen, spricht dies dafür, dass Antizionismus und Solidarität mit Palästina weitestgehend unabhängig von traditionellem
Antisemitismus sind“, so die Verfasser der Studie.

Die Auswertung der Korrelation ergibt starke Unterschiede zwischen Gesamtbevölkerung und (jungen) linken Menschen. In der Gesamtbevölkerung gibt es insbesondere zwischen den beiden Antisemitismuskategorien eine starke Korrelation: „Betrachtet man die deutsche Bevölkerung als Ganzes, so besteht mit einem Korrelationskoeffizienten von 0,52 ein starker Zusammenhang zwischen traditionellem, Antisemitismus und antizionistischem Antisemitismus. Antizionismus und eine pro-palästinensische Haltung hängen ebenfalls zusammen, wobei der Zusammenhang mit einer Korrelation von 0,33 als mittelstark bezeichnet werden kann.“ Zwischen traditionellem Antisemitismus und Palästina-Solidarität gibt es jedoch mit 0,07 einen äußert geringen Wert. Die Verfasser kommen daher für die Gesamtbevölkerung zu dem Fazit: „In der deutschen Gesamtbevölkerung sind propalästinensische Einstellungen weitestgehend frei von traditionellem Antisemitismus.“

Bei jungen linken Menschen ist der Wert mit -0,06 sogar negativ. „Dies ist ein weiterer Hinweis dafür, dass es in diesem Milieu zwar große Sympathien für die palästinensische Sache gibt, sich diese aber
nicht in antijüdischen Ressentiments ausdrückt“, so die Verfasser. Den höchsten Zusammenhang zwischen beiden Werten gibt es bei älteren rechten Menschen. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man den Bildungsabschluss betrachtet. „Für Personen, die sich politisch links verorten und über einen Universitätsabschluss verfügen, gibt es zwischen propalästinensischer Haltung und Judenfeindlichkeit überhaupt keinen statistischen Zusammenhang (Korrelation von -0,04).“

Pro-Palästina ist nicht antisemitisch

Die Studie widerspricht somit deutlich dem von Merz, AfD und Teilen der FDP suggerierten Bild des (jungen) linken Antisemitismus. Im Gegenteil, es ist eben diese Gruppe, die mit Abstand die geringste Zustimmung zu antisemitischen Äußerungen aufweist und gleichzeitig die höchste Zustimmung zu propalästinensischen Aussagen. Dies deutet darauf hin, dass die Solidarität mit Palästina und die Ablehnung des Antisemitismus einen gemeinsamen Ursprung hat: nämlich den Einsatz für Menschenrechte und gegen Diskriminierung und Unterdrückung.

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