Corbyns Wahlerfolg – Wie hat er das gemacht?

In Großbritannien hat Jeremy Corbyn einen riesigen Wahlerfolg erzielt und beinahe die regierende Konservative Partei eingeholt, obwohl er bis kurz vor der Wahl als Chancenlos galt. Doch wie hat er das angestellt? Was hat seinen Wahlkampf so anders gemacht als die Wahlkämpfe von Labour bis zu diesem Zeitpunkt? David Peanson sprach in London mit Tony Phillips, Aktivist und Feuerwehrmann aus der britischen Hauptstadt.

David Peanson: In Deutschland finden Bundestagswahlen am 24. September diesen Jahres statt. Der Anführer der SPD, Martin Schulz, versprach vor einigen Monaten mehr soziale Gerechtigkeit, blieb aber ziemlich vage, so dass sein Popularitätsaufschwung nur kurzlebig war. Währenddessen kann Die Linke mit etwa 10 Prozent der Stimmen rechnen. Daher würden wir gerne mehr wissen, wie Corbyn und seine Unterstützer die Wahlkampagne von Labour im vergangenen Juni organisierten. Kannst du uns was erzählen über den Enthusiasmus für Corbyn und darüber, wie es ihm gelang, den Rückstand von 25 Punkten zu den Konservativen in nur wenigen Wochen wettzumachen? Was waren die wichtigsen Themen der Kampagne und wie spiegelten sie die wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung wider? Wurde die Kampagne als Klassenauseinandersetzung geführt, oder war es mehr: Wir sind alle im gleichen Boot?

Tony Phillips: Nun, es gibt eine enorme Verbitterung wegen der Kürzungspolitik. Der allgemeine Lebensstandard ist noch nie so stark gefallen, seitdem es überhaupt Aufzeichnungen gibt. Seit zehn Jahren folgt eine Kürzung auf die andere. Das staatliche Gesundheitswesen wird zurückgefahren und privatisiert, öffentliche Dienstleistungen werden privatisiert und erhöhen zugleich die Gebühren, der zunehmend ineffiziente öffentliche Verkehr ist von Konzernen dominiert – überall sinkt der Lebensstandard der Arbeiterklasse und die Lebensqualität wird zerstört.

Dabei nahmen die Menschen wahr, dass die beiden Hauptparteien, Labour und die konservativen Tories fast identisch waren, sie waren beide neoliberal. Das drückte sich auf verschiedene Weise aus. Ich würde behaupten, dass die Abstimmung für einen Austritt aus der EU ein verzerrter Ausdruck davon war, auch wenn andere Menschen das Referendumsergebnis anders interpretieren.

Vielleicht zum ersten Mal in der britischen Geschichte gibt es jetzt auf einmal einen realen Unterschied zwischen Labour und Tory, Labour wird jetzt als wirkliche Alternative gesehen. Ihr Wahlprogramm war zwar nach historischen Maßstäben nicht besonders radikal, aber verglichen mit dem, was Labour seit zehn oder zwanzig Jahren vertritt, sprach es reale Sorgen der Bevölkerung an. Das, zusammen mit der Inkompetenz der Tory-Kampagne, die ihre Verachtung für die Menschen offen zu Tage trug, hat zu einem Labour-Sieg geführt. Labour verfehlte zwar die absolute Mehrheit, der moralische Sieg ist aber eindeutig. Es zeigt, wie eine weit verbreitete Stimmung der Verbitterung, die Sozialisten schon lange feststellten, sich auf einmal in einem linken Wahlergebniss für eine Partei, die bisher als zum Mitte-Links Mainstream gehörig gesehen wurde, Ausdruck verschaffte.

In Der Linken herrscht vielerorts die Ansicht, solche kontroversen Themen wie Flüchtlinge oder den anti-muslimischen Rassismus lieber aus dem Wahlkampf rauszuhalten und stattdessen besser auf Butter-und-Brot-Fragen sich zu konzentrieren. Wie hat sich Labour zu diesen Fragen verhalten?

Nun, seitdem Jeremy Corbyn zum Parteiführer gewählt wurde, hat er sich sehr eindeutig auf der Seite der Flüchtenden positioniert. Seine erste Tat nach seinem Wahlsieg war eine Rede auf einer großen Demonstration in London zur Unterstüzung von Migranten und aus Protest gegen den Dschungelcamp in Calais.

Ein Großteil der Labour-Parlamentsfraktion steht aber rechts und glaubt, man müsse eine migrationsfeindliche Haltung einnehmen, um Arbeiterstimmen zu gewinnen, daher hat es in dieser Frage während der Wahlkampagne ein gewisses Schwanken gegeben. Zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass Corbyn eindeutig dafür eingetreten ist, dass EU-Bürger in Großbritannien auch nach einem EU-Austritt mit vollen Rechten im Land bleiben dürfen. Er meinte, ein solches Gesetz wäre sogar eine seiner ersten Prioritäten als Premierminister.

Während der Wahlkampagne gab es zwei terroristische Anschläge. Der Attentat in Manchester, bei dem 22 Menschen ums Leben kamen, und die Messerattacken in London, die für sich genommen grausam genug waren, zusätzlich aber noch das ungute Gefühl aufkommen ließen, sie böten für die Tories als Partei für Recht und Ordnung die beste Gelegenheit, sich zu profilieren. Aber Jeremy Corbyn stimmte nicht in das übliche Chor von Labour-Führern, die sich beim Katastrophenschutz bedanken und den Familien der Opfer ihr Beileid aussprechen. Nach dem Attentat in Manchester wurde eine dreitägige Pause in der Wahlkampagne verhängt. Nachdem diese vorbei war, hielt Corbyn eine Rede, in der er die Gründe für die terroristischen Angriffe gegen Großbritannien nannte, nämlich die britische Außenpolitik – dass die Toten von Manchester die bittere Frucht von Großbritanniens unkritischer Unterstützung für Amerikas Angriffe auf den Mittleren Osten seien, und will man, dass Großbritannien nicht mehr Ziel solcher Attacken sein, müsse es aufhören, sich als 51. Staat der USA zu verhalten. Jeremy’s Stellungnahme war sehr mutig und zahlte sich auch aus, weil die Menschen ihn dafür respektierten, dass er eine von vielen geteilte Wahrheit offen sagt. Wir hatten eine riesige Bewegung gegen den Irakkrieg und Corbyn war vor seiner Nominierung zum Labour-Leader Präsident des Stoppt-den-Krieg-Bündnisses, er hat also eine tadellose Bilanz als Gegner der britischen imperalistischen Abenteuer im Ausland.

Corbyn erhielt daher für seine Positionierung breite Unterstützung, 53 prozent der Bevölkerung stimmten ihm laut einer Umfrage voll und ganz zu, was für die Tories ein echtes Problem war. Denn Theresa May konnte sich nicht mehr als Premierministerin zuständig für alles darstellen. Corbyn zog ihr mit seiner Prinzipienfestigkeit den Teppich unter den Füßen weg, während May als nur daran interessiert schien, die terroristischen Attacken für sich auszuschlachten. Sie beschränkte sich auf das Übliche: Ich werde die Sicherheitsmaßnahmen verschärfen, was nicht besonders glaubwürdig war, da sie die letzten sechs Jahre als Innenministerin für die Sicherheit verantwortlich war und als solche für die Reduzierung der Zahl der Polizeibeamten zeichnete, denen sie vorwarf, Angstpropaganda zu betreiben, wenn sie über mangelnde Ressourcen klagten. Als Sozialist bin ich natürlich gegen eine Stärkung des staatlichen Gewaltapparats, aber es war interessant zu sehen, wie May sich sogar auf ihrem ureigensten Terrain bloßstellte.

Kannst du uns was sagen, wie die Wahlkampagne selbst organisiert wurde? In Deutschland sind Hausbesuche unüblich, wie war es bei dieser Runde bei euch? Hat Labour während der Kampagne weitere Mitglieder gewonnen?

Seit der Nominierung Jeremy Corbyn’s zum Parteivorsitzenden sind die Mitgliedszahlen sprunghaft gestiegen. Labour hat mittlerweile um die 800.000 Mitglieder, was sie soweit ich weiß zur größten politischen Partei Westeuropas macht. Die meisten Mitglieder, eine Million, hatte Labour in den frühen 1950er Jahren. Seitdem hat sie kontinuierlich und massiv Mitglieder verloren, bis sie unter Blair nur noch ein paar Hunderttausend zählte. Es ist also eine richtige Kehrtwende unter Corbyn. Soweit ich weiß hält dieser Trend noch an.

Was die eigentliche Wahlkampagne betrifft, ist die traditionelle Methode aller Parteien tatsächlich Hausbesuche. Auch diesmal wollte Labour das so handhaben. Das Problem war, dass viele rechten Labour-Abgeordneten Jeremy Corbyn als Wahlhindernis betrachteten, sodass viel Wahlmaterial produziert wurde, auf dem nicht einmal der Name Jeremy Corbyn erschien und sogar überhaupt ein Hinweis auf die Labour Party fehlte. Das war so in meinem Wahlbezirk. Das ist natürlich etwas verblendet, denn sie bekommen ihre Stimmen, gerade weil sie in der Labour Party sind.

Was das alles änderte, waren die ersten Kundgebungen, die ziemlich im alten Stil abgehalten wurden, aber schnell zu Massenveranstaltungen wuchsen. Ich glaube, es war Liverpool, wo Corbyn vor tausenden Menschen mit nur zwei Stunden Vorankündigung sprach, noch dazu an einem Arbeitstag. Da erst begriffen sie, dass sie sich auf der Überholspur befanden, und organisierten dann systematisch eine ganze Serie von Kundgebungen. So die Kundgebung in Gateshead im Nordosten, die von zehntausend Menschen besucht wurde.

Am Abend vor seiner Ansprache in seinem eigenen Wahlbezirk in Islington, in Nordlondon, säumten tausende Menschen die Straßen, man hätte denken können, die Königin höchstpersönlich oder ein Rockstar hätte sich angekündigt. So was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Vielleicht verliefen Wahlkampagnen im frühen 20. Jahrhundert so, aber in jüngster Vergangenheit hatte man einen solchen Grad an Mobilisierung nicht mehr erlebt.

Und das änderte auch die Routine der Tür-zu-Tür-Wahlwerbung. Denn es gibt eine Organisation, Momentum, die zur Unterstützung Corbyn’s ins Leben gerufen wurde. Momentum hatte viele Probleme, es spaltete sich, man stritt sich über die Frage, ob es allen Linken offen stehen sollte oder nur für Mitglieder der Labour Partei, ob es sich auf die Rolle einer internen Lobby beschränken oder sich aktiv an Kampagnen beteiligen sollte. Ich selber, als revolutionärer Sozialist, trug mich in Momentum ein und kam so auf der Mailingliste. Ich bekam Berge von Emails, in denen auf Aktivitäten an diesem oder jenem Ort verwiesen wurde, mit der Bitte um Hilfe.

Eine andere Hürde, die überwunden werden musste, war die lange Tradition der Labour-Rechten, die die Parteimaschine kontrollieren, den Schwerpunkt ihrer Kampagnen immer auf jene konservativeren Bezirke zu konzentrieren, in denen Labour nur eine hauchdünne Mehrheit besitzt. Es stellte sich aber bald heraus, viel erfolgversprechender ist es, sich auf jene Bezirke zu konzentrieren, in denen die Tories nur eine hauchdünne Mehrheit haben.

So setzte sich Momentum über die offizielle Kampagnenstrategie hinweg und mobilisierte tausende Menschen an Orten wie Croydon, wo der konservative Wohnungsbauminister eine hauchdünne Mehrheit besaß, die sich in eine Mehrheit für Labour verwandelte. Bei ihren Hausbesuchen sagten die Momentum-Mitglieder nicht: Ich gebe Labour meine Stimme, sondern: Ich stimme für Corbyn. Das Ganze bekam vielmehr Züge einer lebendigen Kampagne.

Für mich als revolutionären Sozialisten ist es nicht die Art Aktivität, in die ich mich engagiere, aber so war es. Es war eine Corbyn-Kampagne, und nicht eine nach dem Motto, lieber Corbyn gar nicht erwähnen, ich bin dein Abgeordneter, wähle mich, Corbyn ist nur eine Bürde. Das hat die Wende gebracht.

In Canterbury beispielsweise, wo Labour seit der Gründung des Wahlbezirks im Jahr 1918 noch nie den Abgeordneten stellte und die Tories schon immer eine konfortable Mehrheit hatten, habe ich einen studentischen Freund, der mir sagte, es habe unter Studierenden eine massive Mobilisierung um Corbyn gegeben, mit dem Ergebnis, dass Labour mit 10.000 Stimmen Vorsprung den Sitz gewann.

Ähnlich in Portsmouth Süd, eine Marinebasis, mit Soldaten und ihren Familien, ein traditionell konservativer Bezirk, in dem Labour noch nie eine Wahl gewonnen hatte, und noch überraschender vielleicht im Londoner Bezirk von Kensington, wahrscheinlich einem der teuersten Pflaster auf der ganzen Welt, wo die Tories sozusagen vor der eigenen Tür geschlagen wurden. Das alles ist weitgehend der Art und Weise, wie die Kampagne organisiert wurde, geschuldet, und mit jedem Tag schien Corbyn an Größe zu gewinnen. Das radikale Wahlprogramm spielte eine wichtige Rolle, aber die Mobilisierung an der Basis war ebenfalls entscheidend.

Sind Corbyns rechte Feinde innerhalb der Parlamentsfraktion und der Labour Party-Strukturen glücklich mit dem Ergebnis? Werden sie nun ihre Angriffe gegen ihn jetzt einstellen?

Nun, ich denke, es gibt zwei Sorten von Gegnern Corbyns, die hard-core Blairisten, die mit dem neoliberalen Programm vermählt sind und fest daran glauben und die Corbyns verstärkte Position um ein in ihren Augen unakzeptabel radikales Programm mit Grauen erfüllt, und jene Gruppe von Abgeordneten, die Corbyn für ein Wahlhindernis hielten und sich Sorgen machten, wegen eines zu erwartenden Wahldebakels ihre Parlamentssitze zu verlieren. Zwischen beiden Gruppen gibt es Überlappungen, aber letztere Gruppierung wird im Großen und Ganzen sich um Corbyn scharen, nachdem sie erleben konnte, nicht nur ihre Sitze behalten zu können, sondern ihre Parlamentsfraktion gerade wegen Corbyn, dem Manifesto und der Kampagne um 33 weitere Sitze wachsen zu sehen.

Ich hoffe, sie sehen auch ein, dass sie ihre Mandate nicht zuletzt der Politik Corbyns schulden. Derzeit üben sich viele in Bescheidenheit, viele beteuern, sie hätten sich in ihren Prognosen vollkommen geirrt, darunter sind auch manche, die sich erst vor kurzem Corbyn gegenüber verräterisch und verabscheuungswürdig verhalten haben.

Dennoch sah sich Corbyn erst letzte Woche gezwungen, vier Mitglieder seines Schattenkabinetts zu entlassen, die für eine eine Parlementsresolution zur Annulierung des Brexit-Rerendums gestimmt hatten. Das hätte ich vielleicht früher erwähnen sollen: Einer von Corbyns klugen Schachzügen während der Wahlkampagne war seine Weigerung, in die von Theresa May gestellte Falle zu tapern, die Wahlen würden sich um Brexit drehen, weil Millionen Labour-Wähler trotz Labours offizieller Haltung für einen Verbleib in der EU für Brexit gestimmt hatten. Corbyn selbst ist ein Euro-Skeptiker, der sich aber gezwungen sah, für einen Verbleib einzutreten.

Dennoch hatten Millionen Menschen aus der Arbeiterklasse für Brexit gestimmt, vor allem in den wirtschaftlich abgehängten Gegenden wie den ehemaligen Industriezentren von Südwales, dem Südosten, Yorkshire und anderen. Hier wurde ihnen erzählt, sie müssten für einen Verbleib in der EU stimmen, weil das den Aufschwung bringen würde, und ihre Antwort war, wo bleibt euer verdammter Aufschwung? wir haben unsere wichtigsten Industrieen verloren, Stahl, Kohle, die Metallindustrie, und was hat die EU getan, um die Lage zu verbessern? Es ist also Corbyn gelungen, diese Falle zu vermeiden, wonach sich alles um Brexit drehen würde, und er konnte unzweideutig klarstellen, dass Labour das Rerendum respektieren würde.

Denn es gibt auch hier Bestrebungen, wie damals in Irland, Frankreich und Dänemark, wo das Referendum nicht im Sinne der pro-EU herrschenden Klasse ausging und sie das Referendum einfach wiederholten. Corbyn hat also diese Falle vermieden, daher konnte keiner ihm vorwerfen, er wolle den allgemeinen Willen untergraben. So konnte er sich voll und ganz auf eine Kampagne gegen die Austerität konzentrieren, einem Gebiet, auf dem die Tories nicht gerade glänzen. Das war die richtige Entscheidung.

Dennoch unterstützt wahrscheinlich eine Mehrheit der Labourabgeordneten einen Verbleib in der EU. Chuka Umunna, einer jener hundertpro-Blairisten, beantragte im Parlament sogar eine Abstimmung mit der Forderung im Wesentlichen, Großbritannien solle im EU-Binnenmarkt verbleiben und erhielt etwa 50 Stimmen dafür. Corbyn entließ alle vier Mitglieder seines Schattenkabinetts, die dafür stimmten. Das zeigt Corbyns Bereitschaft durchzugreifen.

Dennoch bedindet sich nach wie vor eine Minderheit, die bereit ist, gegen Corbyn zu rebellieren, auch wenn es wesentlich weniger sind als zuvor, denn nichts ist verlockender als Wahlerfolge für eine parlamentarische Partei, die ihren Erfolg in Stimmen zählt, sodass Menschen ihm wohl ihre Treue halten werden, auch wenn sie Vorbehalte gegen seine Politik haben.

Und in der Tat, noch vor wenigen Monaten hinkte Labour in den Meinungsumfragen um 25 Prozentpunkte den Tories hinterher, auch Corbyn als Person hinter May, und Labour schnitt relativ schlecht ab in den Nachwahlen vor einigen Monaten. Es war also nicht bloß ihre Einbildung, die Zahlen selbst sprachen für die mangelnde Popularität Corbyns.

Und das ist eben das bemerkenswerte an dieser Wahlkampagne. Die allgemein akzeptierte Meinung ist, dass Wahlkampagnen nichts ändern, sondern lediglich die vorhandenen Konstellationen zementieren. Diesmal war es aber das Gegenteil. Schon zu Beginn sagte ich all den Pessimisten, die meinten, Corbyn würde haushoch verlieren: Schaut doch auf das EU-Referendum, schaut auf das schottische Referendum über die Trennung Schottlands. In diesen Kampagnen verkehrte sich alles.

Ich selbst war nicht überzeugt, dass das diesmal tatsächlich passieren würde, aber ich war dennoch zuversichtlich, dass die Chance bestand. Natürlich war das Ausmaß für mich echt überraschend. Das zeigt aber, wie schnell sich die Sachen während einer Kampagne ändern können, es ist nicht alles vorbestimmt. Und genau so geschah es.

Es geht aber meiner Meinung nach tiefer. Es gab eine grundlegende Verbitterung wegen der Austerität, das Gefühl, die Menschen würden ignoriert und zertreten. Was so fantastisch ist, ist, dass dieser Hass und diese Angst nicht negativ in Fremdenhass und Feindlichkeit gegenüber Migranten umschlug, sondern auf positive Weise in einer politischen Bewegung sich Bahn schlug, die von Hoffnung getragen ist, dass die Dinge für alle zum Besseren gewendet werden, statt des üblichen Spalten und Herrschen.

Was kann Labour tun um zu vermeiden, dass sich der aufgetanen Hoffnung und den vielen Aktivitäten nicht die Luft ausgeht und unter Theresa Mays fortgesetzter Amtszeit in Passivität umschlagen?

Nun, zunächst ist die Situation für die herrschende Klasse sehr schwierig, denn die Tories haben innerhalb von drei Jahren drei Referenden durchgeführt: das desaströse Unabhängigkeitsreferendum in Schottland, das um eine Haaresbreite beinahe eine Mehrheit für die Lostrennung brachte, dann das vollkommen überflüssige Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens, das eigentlich nur dazu dienen sollte, Spaltungen innerhalb der Tory-Partei zu kitten aber nun in diesem Debakel für eine Partei mündet, dessen Aufgabe es doch ist, die Interessen des britischen Kapitalismus und der Großkonzerne zu vertreten und nicht mit ihrem Brexit die eigene soziale Basis vor den Kopf zu stoßen, und zur Krönung des Ganzen allgemeine Wahlen, wo Theresa May doch die Brexit-Verhandlungen mit ihrer parlamentarischen Mehrheit einfach hätte aussitzen können, ohne sich besonders zu gefährden.

Stattdessen hat sie sich nun vollkommen diskreditiert, sie hat ihre Parlamentsmehrheit in den Wind geschlagen, sich als Premierministerin vollkommen unglaubwürdig gezeigt, die vorhandenen Spaltungslinien wegen Brexit in der eigenen Partei weiter verschärft und sich selbst als Führungskraft untergraben. Die Tories haben sich daher in eine extrem schierige Lage hineinmanövriert.

Jetzt sind sie im Parlament auf die Stimmen der nordirischen DUP angewiesen, einer ultr-rechten pro-britischen Partei mit paramilitärischen Verbindungen, eine vollkommen lächerliche Konstellation, wenn man bedenkt, wie Corbyn dafür gescholten wurde, überhaupt mit Vertretern von Sinn Féin gesprochen zu haben, wo doch jede britische Regierung seit den 1970er Jahren entweder direkt oder indirekt mit der IRA gesprochen hat. Das ist sowieso vollkommen heuchlerisch, und jetzt, nach diesem Wahlpakt mit einer Partei, die in meinen Augen zehnmal schlimmer ist als Sinn Féin, dreifach heuchlerisch.

Ihre Lage ist also sehr schwierig, denke ich. Wir in der SWP, argumentieren, dass Corbyn seinen Wahlerfolg den Massenmobilisierungen verdankt, der tiefsitzenden Wut über massive Kürzungen im Bildungsbereich, die Schließungen und Privatisierungen von Schulen, gegen die landauf, landab demonstriert wurde, den Kampagnen und Demonstrationen zur Verteidigung des öffentlichen Gesundheitswesens, den stattfindenden Streiks, auch wenn diese eher beschränkt blieben … Ich denke, dass das alles zusammengenommen in Corbyns Kampagne einfloss und ihr zum Erfolg verhalf.

Nun geht es darum, die Bewegung am Leben zu erhalten. Die May-Regierung könnte jederzeit fallen, daher müssen wir weiter mobilisieren, damit Corbyn Premierminister wird. John McDonald, Schattenfinanzminister, rief dazu auf, in Millionenstärke zu demonstrieren. Das ist genau der richtige Weg. Corbyn sollte sich diesem Aufruf anschließen.

Erst letzten Samstag gab es in London eine Großdemonstration gegen Austerität, an der nach Angaben der Veranstalter 120.000 teilnahmen, wobei ich selber 50.000 schätze. Sie wurde erst sehr kurzfristig geplant, die Stimmung war gut, kämpferisch.

Ich war auch Delegierter zu unserer Gewerkschaftskonferenz, Unison, die größte oder zweitgrößte Gewerkschaft des Landes, auf der Corbyn eine Rede hielt. Er sprach auch zu der spontan sich versammelten Menge auf dem Platz vor dem Konferenzsaal – es waren mindesten tausend Menschen, die herbeigekommen waren, als sie hörten, dass Corbyn kommen würde. Und die ganze Woche über herrschte eine tolle Stimmung auf der Konferenz, wir hatten das Gefühl, die Tories sind bald Vergangenheit und die Austerität könnte eine Ende haben.

Die Tories sind tatsächlich in der Frage von Kürzungen gespalten. Sogar Teile der Führung fordern ein Ende der Deckelung von Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst von nur 1 Prozent. Darüber wird heftigst gestritten.

Und dann hat die Feuersbrunst von Grenfell, ein weiteres Desaster, die verheerenden Auswirkungen jahrelanger Austerität, Privatisierungen, Herunterfahrens des öffentlichen Wohnungsbaus, Outsourcens, Kürzungen in der Feuerwehr, im Rettungswesen, der systematischen Deregulierung, all jene Grundprinzipien der Tories, die mindestens 80 Menschen, wahrscheinlich weitaus mehr, das Leben gekostet haben, offengelegt. Auch das hat die Wut der Menschen angefacht und bereitet den Tories ebenfalls enorme Probleme. Es ist unerlässlich, dass wir sie nicht unbestraft davon lassen, wir müssen die Mobiliserungen und Solidaritätsbewegungen fortsetzen. Es gibt keine Garantie, dass das auch passieren muss, aber das sind unsere Aufgaben. Es könnte sein, dass sich alles wieder legt, vielleicht gewinnt die Müdigkeit die Oberhand, aber zur Zeit sieht es nicht danach aus, im Gegenteil, es sieht für die Linke in Großbritannien sehr gut aus.

Vielleicht eine letzte Frage. Könntest du uns was über deine Person, deine Aktivitäten sagen … Du bist Mitglied der Socialist Workers Party. Welche Beziehung siehst du zwischen dir und der Labour Party?

Ja, ich bin schon seit vielen Jahren Mitglied der SWP und zugleich Sekretär für unsere Faktion innerhalb meiner Gewerkschaft Unison. Ich habe daher eine wichtige Rolle in der Gewerkschaftsarbeit. Ich bin auch Sekretär des Ortsverbands von Unison und Unison-Delegierter im Londoner gewerkschaftlichen Regionalrat.

Als revolutionärer Sozialist kann man über die Gewerkschaft Mitgliedsbeiträge an die Labour Party entrichten, was ich auch tue, weil ich der Meinung bin, dass Gewerkschaften sich auch politisch organisieren sollten.

Aber ich denke, es gibt in der Gesellschaft insgesamt eine Bewegung nach links, die der gesamten Linken zugute kommt. Dabei dürfen wir die Erfahrungen von Syriza nicht aus den Augen verlieren. Ich meine, Corbyn wurde bereits von führenden Mitgliedern der Militärführung ins Visier genommen, als sie ihm verhohlen mit Staatsstreich drohten, sollte er Premierminister werden, und dafür wurden sie nicht zur Rechenschaft gezogen, obwohl man hier berechtigterweise von Hochverrat reden könnte.

Und sollte Corbyn tatsächlich Premierminister werden, wird die Heftigkeit der Angriffe zehn Mal schlimmer sein. Ich denke daher, es ist wichtig eine unabhängige Organisation aufrechtzuerhalten, basiert auf den Straßenmobilisierungen und mit dem Ziel, Streikaktivitäten zu steigern, denn genau das werden wir brauchen, sollte Corbyn als Premier nicht gebrochen werden wie Syriza gebrochen wurde – durch den kapitalistischen Staat und die Organisationen des internationalen Kapitals, die alles unternehmen werden um sicherzustellen, dass eine Corbyn-Regierung ihre Versprechen nicht einhält.

Kannst du uns etwas über deine Arbeit sagen?

Ich arbeite in der Feuerwehr, im Bereich Sicherheitsvorkehrungen. Daher habe ich viel zu tun mit dem Grenfell-Feuer. Ich bin selbst nicht als Feuerwehrmann tätig, auch nicht vor Ort bei den Sicherheitsüberprüfungen selbst, meine Verantwortung liegt im administrativen Bereich für die Planungsabteilung der Feuerwehr.

Mitglieder unserer Gewerkschaftsgruppe waren damit zugange, Atmungs- und andere Gerätschaften an die Feuerwehrleute während des Grenfell-Feuers zu verteilen, sie beantworten Notrufe und leiten diese an die Brandwachen weiter. Meine Hauptverantwortung ist die Unterstützung für die Menschen, die die Sicherheitsüberprüfungen durchführen, also sicherstellen, dass sie die Gebäude inspizieren, und der anschließende Briefverkehr mit den Gebäudeverantwortlichen, denen ich sagen muss, was sie zu tun haben, um ihre Anlagen sicher zu machen. Es ist also viel Bürokratie dabei.

Nun doch eine anschließende Frage: Wenn ein solches Gebäude wie Grenfells erneuert wird, oder wie man es halt nennen mag, wieso wird die Feuerwehr nicht einbezogen um ihr OK zu geben oder gegebenenfalls ihr Veto einzulegen?

Das ist eine ziemlich komplizierte Frage. Zur Zeit arbeitet meine Abteilung 24 Stunden täglich sieben Tage die Woche, um jedes einzelne Hochhaus in London zu überprüfen, auch Schulen und Krankenhäuser, die mit dieser entzündlichen Ummantelung versehen wurde, die für das schreckliche Desaster verantwortlich ist.

Das führt uns zurück zum Thema Deregulierung, die ich vorhin ansprach. Denn die Sicherheitsvorschriften wurden bereits unter der Labour-Regierung von Tony Blair untergraben. Davor hatte es sehr strenge und festgelegte Vorschriften gegeben. Die Feuerwehr würde dein Gebäude inspizieren und sagen, das musst machen, und das, und das alles wurde schriftlich festgehalten, und es musste ein Gebäudeplan her, in dem alle Feueralarme eingezeichnet sind, auch die gesicherten Fluchtwege, die Schlauchleitungen usw.

Unter der neuen Gesetzgebung ist nur der Eigentümer verantwortlich. Dieser muss zwar eine Sicherheitsüberprüfung veranlassen, die dann ihrerseits von der Feuerwehr gegengeprüft wird. Diese kann den Eigentümer zu Anpassungen zwingen und im Fall der Nichterfüllung Rechtsmittel androhen.

Aber das Ganze ist mit wesentlich weniger klaren Vorschriften versehen als früher. Die alte Gesetzgebung betraf allerdings lediglich Arbeitsstätten, während auch Wohnhäuser unter die neuen Gesetze fallen. Das ist ein gewisser Fortschritt, allerdings ist uns nur gestattet, die gemeinsamen Räume, Treppenhäuser und Hallen innerhalb des Gebäudes zu überprüfen, nicht die Außenwände. Und außerdem basiert das Ganze auf Risikoeinschätzungen, sodass Gebäude, die als risikoarm eingestuft werden ganz selten wenn überhaupt überprüft werden, und Gebäude, die einer hohen Risikostufe zugerechnet werden, öfter.

Damit könnte man leben. Aber die ganzen präzisen Vorschriften sind ad acta gelegt worden, und außerdem, wenn einem die Ressourcen fehlen, um die Sicherheitschecks durchzuführen, nützen die schönsten Gesetze nichts. Es hat unter dem Tory-Oberbürgermeister Londons, Boris Johnson, derzeit Außenminister, massive Kürzungen im Bereich der Feuerwehr gegeben. Zehn Feuerwehrwachen wurden geshlossen, 500 Feuerwehrleute verloren ihren Job, ferner wurden von den 1300 Stellen im administrativen Bereich 500 Stellen gestrichen. Mit verminderter Mannschaft wird erwartet, dass wir mehr Inspektionen durchführen. Qualität wird der Quantität geopfert. Das ist ein Frage, um die wir als Gewerkschaftsaktivisten kämpfen.

Vielen vielen Dank Tony für deine Zeit. Das Gespräch führte David Peanson am 07. Juli diesen Jahres am Rande des „Marxism“ Festivals.

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