Arbeitszeitverkürzung: Es geht um mehr als um Arbeit

Angesichts der tiefgreifenden Transformationsprozesse in der Arbeitswelt, nicht zuletzt im Kontext der Digitalisierung etlicher Bereiche mit enormen Produktivitätsfortschritten auf der einen und Knochenjobs auf der anderen Seite dieser Welt, aber auch angesichts der katastrophalen Veränderung des Klimas nimmt die Notwendigkeit einer Veränderung unserer Arbeits- und Lebensweise zu. Ein zentrales Vehikel ist hier die Zeit – oder besser gesagt: Der Kampf um Zeit als Eigentumsfrage. Damit werden die Fragen aufgemacht: Wer verfügt über unsere Zeit? Wofür produzieren, wofür arbeiten wir? Was ist gesellschaftlich notwendig, wofür muss mehr Zeit aufgewandt werden? Was ist nicht notwendig?

Im Frühjahr zu Beginn der Corona-Pandemie wurde deutlich, was eine Binse ist: Diese Gesellschaft basiert auf Arbeit. Menschen müssen von anderen Menschen gepflegt werden, Kinder von Menschen betreut, Pakete von Menschen geliefert werden. In jeder Rolle Klopapier steckt menschliche Arbeit. Eine weitere Banalität wurde sichtbar: Ein enorm großer Anteil der notwendigen Arbeit wird nicht bezahlt, wird zu Hause geleistet und wenn dieser Anteil durch Schließungen von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen wächst, ist er kaum mehr vereinbar mit der bezahlten Arbeit.

Mit der von Katja Kipping aufgenommenen Debatte um eine 4-Tage-Woche wurde endlich wieder die Frage der Arbeitszeit von links auf die Agenda einer breiteren Öffentlichkeit gesetzt. Für eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit aus feministischer Sicht sind zwei Kriterien zentral:

Eine Arbeitszeitverkürzung alleine reicht nicht – die 4-Tage-Woche ist gerade für Frauen als Teilzeitbeschäftigte jetzt schon Realität. Eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit auf eine 4-Tage-Woche muss mit einem vollen Lohnausgleich einhergehen – und mit Lohnerhöhungen für bereits existierende 30-Stunden-Arbeitsverhältnisse. Wir brauchen ein neues Normalarbeitsverhältnis – und das nicht nur für die bezahlte Arbeit. Für viele Frauen endet der Arbeitstag nicht mit Betriebsschluss. Nach einer kurzen Verschnaufpause während der Fahrt von Erwerbsarbeit nach Hause geht die Arbeit weiter: Essen kochen, bei Hausaufgaben helfen, die kranke Schwiegermutter waschen. Diese Arbeit lässt sich in vielen Beziehungen sicherlich partnerschaftlicher aufteilen, wenn die äußeren Rahmenbedingungen das auch eher zulassen. Aber: Zentral für Entlastung in diesem Bereich sind öffentliche Infrastrukturen.

In der öffentlichen Debatte ist meist von zwei Bereichen die Rede, die miteinander vereinbart werden müssten: Arbeit und Leben – unter letzteres fällt dann Familie und Pflege. Diese Zweiteilung suggeriert nicht nur, dass das Leben mit Arbeit wenig zu tun habe. Sie verwischt auch das hierarchische Verhältnis, in dem „das Leben“ der Arbeit untergeordnet wird. „Das Leben“ fasst meist all das zusammen, was nicht erwerbsarbeitsförmig organisiert ist: unbezahlte Sorgearbeit, gesellschaftliche und/oder politische Teilhabe, Bildung und Kultur, Muße und Spaß. Und wofür es nur so viel Zeit gibt, wie es die Erfordernisse der Erwerbsarbeit zulassen.

Um also mehr Zeitsouveränität zu erlangen, also mehr Zeit jenseits eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses, in dem letztlich immer jemand anderes über die eigene Zeit verfügt, muss sich die Erwerbsarbeit den sonstigen Erfordernissen anpassen – nicht andersrum. Das, was aktuell als Normalarbeitsverhältnis gilt, die 40-Stunden-Woche, ist zum einen schlicht und ergreifend nicht kompatibel mit einem Leben, in dem die Sorge um andere, Bildung, gesellschaftliche Teilhabe und Erholung gleichermaßen Platz haben. Zum anderen ist es genau deswegen für viele eben auch keine Normalität.

Ungefähr die Hälfte der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen arbeitet in Teilzeit. 61 Prozent der knapp fünf Millionen ausschließlich geringfügig Beschäftigten sind Frauen. Nach Gründen befragt, ist die Antwort häufig: wegen familiärer Verpflichtungen. Das ist das andere Normalarbeitsverhältnis: Teilzeit oder Minijob und unbezahlte Arbeit. Beides zusammen gerechnet ergibt mindestens eine 40-Stunden-Woche. Um diese zu verkürzen, muss aber an mehr Stellschrauben gedreht werden als nur an der Erwerbsarbeitszeit.

Frauen arbeiten häufig nicht nur in Teilzeit, sie arbeiten oft auch in Berufen mit niedrigen Gehältern. Von einer generellen Arbeitszeitverkürzung würden sie nur profitieren, wenn diese mit einem Lohnausgleich und einer Lohnanhebung für bereits existierende Teilzeitstellen einhergehen würde. Bei einer gesamtgesellschaftlichen Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit würde sich zwar die Perspektive einer gerechteren Verteilung der unbezahlten Arbeit im Privaten zwischen den Geschlechtern ergeben. Das erfordert aber auch die Aufweichung geschlechtsspezifischer Rollenbilder und gesellschaftlich zugewiesener Zuständigkeiten, nach denen es eben meist doch noch Frauen sind, die primär verantwortlich für die Organisation der Haus-, Betreuungs- und Pflegearbeit sind.

Eine gesamtgesellschaftliche Verkürzung der Arbeitszeit für unbezahlte Arbeit und damit die Freisetzung von mehr Zeit für gesellschaftliche und politische Teilhabe, Bildung, Kultur und Muße ist vor allem dann denkbar, wenn diese Arbeit stärker gesellschaftlich organisiert wird: Durch den Ausbau von Kindertagesstätten, Ganztagsschulen und einem besseren Angebot von professionellen Pflege- und Unterstützungsleistungen und zwar infrastrukturell, vor allem aber auch personell. Dadurch würde sich nicht nur für viele Menschen das Hamsterrad langsamer drehen, es würde auch Zeit freigesetzt werden, die nicht von Arbeit dominiert wäre.

Gleichstellungspolitische Instrumente wie Quoten sind in Wirtschaft und Politik notwendig. Damit diese aber nicht nur von wenigen Frauen genutzt werden können, sondern auch von Pflegekräften, Alleinerziehenden, Gebäudereinigerinnen, Kassiererinnen und den vielen anderen, braucht es Arbeits- und Lebensbedingungen, die nicht nur aus Arbeiten und sich für den nächsten Tag regenerieren bestehen.

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