Am Donnerstagabend füllen sich spontan die Plätze und Hauptstraßen in den Städten Chiles. In der Hauptstadt Santiago versammeln sich spontan mehrere Zehntausend Personen auf dem sogenannten Platz der Würde im Zentrum der Stadt, der seit der antineoliberalen Protestbewegung im Volksmund nicht mehr den Namen eines Generals trägt. Es herrscht Feierstimmung, die Leute skandieren: „Die alte Hexe ist tot!“, sie jubeln und feiern als gäbe es kein Morgen. Einige Minuten vorher verbreiteten Nachrichtenportale die Meldung über den Tod von Lucía Hiriart de Pinochet, die mittlerweile 99-jährige Witwe des chilenischen Diktators Augusto Pinochet.
Während der 17-jährigen Militärdiktatur hatte sie eine besondere Rolle inne, sie riet ihrem Mann zum Verrat gegen den demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende und zum Putsch gegen die Demokratische Republik. Sie füllte in diesen 17 Jahren die Rolle der ersten Dame Chiles aus, war Komplizen des Terrorregimes und half dabei die Staatskasse zu plündern. Als 1986 drei Jugendliche von Militärs bei lebendigem Leibe verbrannt worden und eine Überlebende über ihr Schicksal berichtete, sagte Lucia Hiriat: „Warum beschwert sich dieses Mädchen so sehr, wenn sie so wenig verbrannt wurde.“ 1984 ließ sie öffentlich verkünden, dass sie als Regierungschefin um einiges härter handeln würde als ihr Ehemann und hätte in allen Regionen Chiles den Ausnahmezustand ausgerufen.
Rechtsaußen oder Links
Der Tod dieser Persönlichkeit des Militärregimes platzt in eine historische Wahlkampagne und kann an Symbolik kaum zu übertreffen sein. Am Sonntag, den 19. Dezember findet in Chile die zweite Präsidentschaftswahlrunde zwischen dem linken Gabriel Boric und dem extremrechten Kandidaten José Antonio Kast statt. In der ersten Runde am 21. November hatte noch der rechtsextreme Kandidat mit 27,91 % gewonnen, während der linke Boric 25,82% erhielt. Über 54% der Menschen gingen gar nicht wählen, 25,59% der abgegebenen Stimmen gingen an weitere Kandidaten des rechten Lagers, 9,08% an weitere linke Kandidaten und 11,61% an die Christdemokratin Yasna Provoste.
Der rechtsextreme José Antonio Kast, Sohn eines deutschen Wehrmachtsoffiziers und NSDAP-Mitglieds, stellt sich ähnlich wie Bolsonaro und Trump als Gegner des Establishments dar, steht dennoch durch die Unterstützung seiner Kampagne durch die rechte Regierung, seine eigene Unterstützung der Militärdiktatur und seine antikommunistische Angstkampagne in der Kontinuität des reaktionären Establishments. Sein Programm liest sich wie Pamphlet aus den 30ern des letzten Jahrhunderts, er möchte das Frauenministerium abschaffen, die neue Verfassung doch noch verhindern, ist gegen jede Art der Abtreibung, leugnet den Klimawandel, Familien sollen nur noch unterstützt werden, wenn die Eltern verheiratet sind, und er unterstützt die Freilassung der Verbrecher von Punta Peuco, dem Gefängnis für die Folterknechte und Mörder des Pinochetsregimes.
Seine Partei steht ihm im Übrigen in Nichts nach, seine republikanische Partei ist eine Abspaltung der Pinochet-Partei UDI, die Kast und seinen Anhängern aber zu lasch wurde. Als Beispiel ihrer Radikalität ist Johannes Kaiser zu nennen, der im November neu ins Parlament gewählt wurde und Kast, der sich nach der ersten Wahl als moderat darzustellen versuchte, einige Kopfschmerzen bereitete. Auf seinem YouTube-Kanal, auf dem auch Kast einige Mal eingeladen war, unterstützte er die Erschießung politischer Gegner während der Diktatur und stellte das Wahlrecht für Frauen in Frage, was natürlich nach seiner Wahl einen landesweiten Skandal auslöste.
Mobilisierung von links
Dieser Umstand führte dazu, dass sich die Dynamik während des Wahlkampfs veränderte. Nach der Schockstarre, in der sich die gesellschaftliche Linke kurz befand, setzte eine enorme Mobilisierung im sonst sehr trägen Wahlkampf für Gabriel Boric ein. Im ganzen Land gründeten sich neue Wahlkampfkomitees, die sozialen Bewegungen suchten Möglichkeiten für ihren Kandidaten Partei zu ergreifen und Kommunisten, Humanisten, über Sozialdemokraten, bis Christdemokraten und sogar Rechtskonservative sprachen sich für Boric aus. Ebenso regierte die Welt der Künstler, wo namenhafte Journalisten, Musiker, Schauspieler und Komödianten ihre Präferenz für den Politiker aus der südlichen Region des Landes Magallanes bekundeten.
Die Beziehung von Gabriel Boric zu anderen Linken und sozialen Bewegungen war jedoch nicht immer einfach. Der kroatisch-stämmige Abgeordnete des Parteienbündnis Frente Amplio startete als einer der Anführer der Schüler- und Studentenbewegung von 2011 und entschied sich aber im Gegensatz zur heutigen Fraktionsvorsitzenden der kommunistischen Partei Camila Vallejo nicht für eine Mitgliedschaft in der KP. Zwischen seinem Frente Amplio und der KP gab es ohnehin eine lange Zeit eine bittere Konkurrenz und tiefe inhaltliche Differenzen, vor allem nach dem überraschenden Sieg Boric´ gegen den beliebten kommunistischen Bürgermeister Daniel Jadue bei den Vorwahlen im Juli. Das gemeinsame Programm zwischen Kommunisten und Frente Amplio sieht jedoch eine grundlegende Reform des Neoliberalismus zu einer sozialen Marktwirtschaft vor, in der das private Rentensystem ersetzt, der Mindestlohn stark angehoben und das Gesundheitssystem reformiert werden soll. Es ist eine tiefgreifende soziale Reformoffensive, die das Potential hat das Leben von Millionen arbeitenden Chilenen zu verbessern.
Auch die Protestbewegung betrachtete ihn trotzdem nie als Wunschkandidaten, sondern als einen weiteren Mann des Establishments. Sein Image hat sich niemals von seiner Unterstützung des „Pakts für den Frieden“, ein Abkommen zwischen Teilen der Opposition und der rechten Regierung während der Proteste 2019, erholt, die viele Menschen als Verrat gesehen haben. Im Zuge dessen wurde er von Demonstranten auf einem Protest geboxt, getreten und mit Bier übergossen und während dieses Wahlkampfs von einer linken Demonstrantin sogar angespuckt. Vor allem seine Unterstützung für ein Gesetzespaket der rechten Regierung im Parlament, das weitere Repressionsmöglichkeiten des Staates gegen Demonstranten vorsah, brachte ihm viel Hass von Seiten der antineoliberalen Bewegung ein. Seit der ersten Präsidentschaftswahlrunde und der Bedrohung durch ein Sieg Kasts steht aber ohne Frage die gesellschaftliche Linke wie eine eins hinter ihrem Kandidaten.
Sieg in der Mitte?
Boric sieht sich trotz des Versuchs Kasts sich moderater zu präsentieren weiter mit einer Schmutzkampagne konfrontiert. Der rechtsextreme Kandidat will zwar die Mitte erreichen, seine Anhänger wissen aber, dass sie weiter Angst vor dem Kommunismus, des Chaos und einer Rückkehr Allendes schüren müssen. Auch Boric hat seine Wahlstrategie verändert, statt einer grundlegenden Reform des Wirtschaftsmodell ist seine Botschaft nun die Versöhnung der Nation und der Dialog zwischen verschiedenen politischen Lagern, während er versucht ohne eigene Mehrheit im Parlament sein noch immer linkes Programm durchzusetzen.
Der Aufstieg Kasts wird von der kommunistischen Partei mit der klassischen Faschismustheorie erklärt. Als bei der gescheiterten Revolution 2019 endgültig Sozialdemokratie, Christdemokraten, sowie Rechtskonservative gescheitert waren die politischen Verhältnisse stabil zu halten, musste die Oligarchie sich an den extremrechten Kast für Stabilität wenden. Er fordert die Verfolgung Linker, er möchte die Militärs zur Aufstandsbekämpfung auf die Straße schicken und alle Errungenschaften der Proteste abschaffen und liefert somit die Lösungen, die die herrschende Klasse nun 2021 sucht.
Am Sonntag gilt es nach dem Tod der Witwe Pinochets den Pinochetismus und sein Vermächtnis, das noch immer in Chile lebendig ist, endgültig zu begraben. Die gesellschaftliche Linke hat selbst, wenn sie einen Sieg am Sonntag einstreicht, enorme Herausforderungen vor sich. Lateinamerika befindet sich nach den 2000ern nun in den 2020ern wieder in einem progressiven Zyklus, wo die Region fast überall von Linken regiert wird oder linke Siege bevorstehen, der Gewinn Chiles könnte ein weiterer Meilenstein für die Integration der Region und das Ende des Neoliberalismus sein, den es zu erreichen gilt.
Eine Antwort
Super Artikel. Zu den engen Beziehungen zwischen Pinochet und den deutschen Nazis gibt es die bewegende und sehr detailreiche ZDF Doku Colonia Dignidad.