Am vergangenen Mittwochabend haben Mitglieder des Landesverbandes der LINKEn Berlin beim Landesvorstand einen Antrag eingereicht, der die „unverzügliche Einberufung eines außerordentlichen Landesparteitags zum Thema Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und DIE LINKE in Berlin“ fordert.
Die Sitzung wird am 04.Dezember stattfinden. Vorgelegt haben den Antrag Franziska Brychcy (Vorsitzende des Bezirksverbandes Steglitz-Zehlendorf/stellvertretende Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus), Ruben Lehnert (Bezirksverband Neukölln), Moritz Warnke (Mitglied des Landesvorstands/Bezirksverband Treptow-Köpenick) und Moritz Wittler (Mitglied des Landesvorstands/Bezirksverband Neukölln). 47 Genossinnen und Genossen aus dem Berliner Landesverband haben den Antrag unterstützt. Wir haben mit Ulas Tekin, Mitglied im Landesvorstand der Linken Berlin, über die Verhandlungen und eine mögliche Koalition gesprochen.
Die Freiheitsliebe: Du hast einen Antrag an den Landesvorstand unterstützt, der die unverzügliche Einberufung eines außerordentlichen Landesparteitags zu den aktuellen Koalitionsverhandlungen in Berlin fordert. Um überhaupt in Verhandlungen mit SPD und Grünen treten zu können, hatte die Berliner Linke zuvor auf ihrem Parteitag im Oktober zwei Hürden aus dem Weg geräumt: die zwingende Umsetzung des Volksentscheids DWE Enteignen und die Kommunalisierung der Berliner S-Bahn. Verkauft sich Die Linke hier zu billig oder wie erklärst du dir das?
Ulas Tekin: Es gibt zu beiden Themenfeldern eindeutige Parteitagsbeschlüsse pro Volksentscheid und S-Bahn Kommunalisierung. Der Volksentscheid wird nun bis 2023 in eine Expertenkommission verschoben, dort wird die Umsetzung, obwohl es dazu schon mehrere Rechtsgutachten gibt, rechtlich geprüft und hängt von sehr vielen Eventualitäten ab Ebenso fehlt eine deutliche Haltung gegen Räumungen von linken Wohn- und Kulturprojekten sowie knapp 5000 jährliche Zwangsräumungen im privaten Bereich, die zumeist sozial benachteiligte Menschen treffen. Außerdem gehört Berlin unter Rot-Rot-Grün zu den Bundesländern, die am meisten abschieben, übrigens auch nach Afghanistan. Bei diesen Themen vermisse ich jegliche Mindestkriterien für eine Regierungsbeteiligung. Insofern gibt es tatsächlich einen tiefen Gegensatz zwischen innerparteilichem Anspruch und gehorsamer Regierungswirklichkeit. Man muss das in aller Deutlichkeit sagen. Wenn es darauf ankommt, Rückgrat zu zeigen, fühlen sich unsere Senatsmitglieder nicht an Parteitagsbeschlüsse gebunden.
Die Freiheitsliebe: Die Berliner Parteispitze versprach den Mitgliedern, sie nach jeder Verhandlungsrunde „direkt und ungefiltert“ zu informieren. Stattdessen werden sie nun mit recht unkonkreten E-Mails abgefrühstückt. Erhältst du im Landesvorstand da mehr Informationen?
Ulas Tekin: Unter den Koalitionspartnern wurde Vertraulichkeit vereinbart, dementsprechend spärlich werden die Informationen gestreut. Als Vorstandsmitglied fühle ich mich nicht ausreichend informiert. Es gibt drei Basiskonferenzen dazu, auf denen haben die Mitglieder die Möglichkeit, genauere Informationen zu bekommen. Zwei davon haben bereits stattgefunden. Ob über alle Dissense ungefiltert berichtet wird, wage ich allerdings zu bezweifeln. Im Landesvorstand wurde bisher eher über die Stimmungen aus den Fachgruppen gesprochen, aber man kann aus einigen Aussagen schon herausziehen, dass wir in verschiedenen Bereichen wohl bittere Pillen schlucken werden, sollten wir in eine Koalition gehen.
Die Freiheitsliebe: Du hast Anfang 2021 für den Berliner Landesvorstand kandidiert. Was war deine Motivation dahinter?
Ulas Tekin: Ich fühle mich dem Erfurter Programm verpflichtet und sehe mich in der Rolle des kritischen Begleiters linker Regierungsbeteiligungen, in denen weiterhin eine neoliberale Politik betrieben, privatisiert und abgeschoben wird. Vor allem Abschiebungen stellen für mich persönlich eine humanistische Haltelinie dar. Wer offene Grenzen postuliert, jedoch in Regierungsbeteiligungen mit neoliberalen Parteien rassistische Asylgesetze umsetzt, handelt mit Doppelmoral.
Die Freiheitsliebe: Du bist 2013 laut eigener Aussage in die Partei eingetreten, weil Sie sicherstellen wollten, dass sie „die Stimme der Benachteiligten ist und keine Theaterbühne für profilierungssüchtige pseudo-sozialistische Politiker“. Wie stehst du heute zu dieser Aussage und wo steht DIE LINKE?
Ulas Tekin: Wir sind wohl nicht mehr an der Seite der vom Kapitalismus benachteiligten Menschen, sonst wären wir nicht so abgestraft worden. Seitdem ich 2013 in die Partei eintrat, haben wir bei jeder Wahl unter ArbeitnehmerInnen, RentnerInnen und Erwerbslosen Stimmen verloren. Bis heute wurden keine Konsequenzen gezogen. Aber ohne grundsätzliche Analyse gibt es keine erfolgreiche Strategie. Davor scheuen sich die regierungsaffinen GenossInnen, weil sie dann eigene Fehler eingestehen müssten. Letztendlich hat die Aufgabe unserer Prinzipien in Regierungsbeteiligungen die AfD gestärkt und uns geschwächt.
Die Freiheitsliebe: Mithilfe der Fraktion Die Linke wurde am 4. November ein AfD-Politiker ins Präsidium des Berliner Abgeordnetenhauses gewählt. Wie passt das mit dem antifaschistischen Selbstverständnis der Partei DIE LINKE zusammen?
Ulas Tekin: Dieses Vorgehen ist absolut inkompatibel mit dem antifaschistischen Grundsatz der Partei und hat für viel Unmut in der Basis gesorgt. Es ist schlichtweg bedauernswert, wie klar sich die Fraktion dem Parlamentsbetrieb gebeugt hat. Taktische Überlegungen dürfen niemals über unseren Antifaschismus gestellt werden. Zudem empfinde ich es als ein Affront gegenüber den Menschen, die sich in Gewerkschaften, Bewegungen oder anderen Gremien, entschlossen dafür einsetzen, der AfD keine Positionen zu ermöglichen. Deswegen bin ich auch froh darüber, dass gerade die migrantischen Abgeordneten meiner Partei diesem Tabubruch nicht zugestimmt haben.
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch