Die Linke: Verlust der Arbeiterklasse?

Nur alle 10 Jahre erscheint die deutsche Parteimitgliederstudie (PAMIS). Sie ist die umfassendste Mitgliederstudie ihrer Art. Von jeder Partei werden 2000 Mitglieder im Westen und nochmal 1000 Mitglieder im Osten befragt. Ihre Ergebnisse werden mit Spannung erwartet. Die Studie soll aufgrund des plötzliches Todes des Projektsleiter Tim Spier erst 2020 erscheinen. Die Ergebnisse der Sozialstrukturdaten wurden aber nun vorveröffentlicht. Sie widerlegen einige populäre Klischees in der Gesellschaft und in der Linken.

Vertreten die Parteien noch die Menschen?

Im Mittelpunkt der Sozialstrukturanalysen steht die Frage, ob die Parteien die Menschen noch vertreten und ob sie gesellschaftliche Gruppen repräsentieren. Seit 1991 ist die Zahl der Parteimitglieder immer weiter gesunken. Damit repräsentieren die Parteien immer weniger Menschen. Erst 2017 gab es nach fast 30 Jahren wieder eine leichte Steigerung der Parteimitgliederzahlen um 1,8%. Passend dazu steigt die Wahlbeteiligung seit ein paar Jahren wieder an. Einer der Gründe für den Anstieg der Wahlbeteiligung fehlt in der Studie leider: die AfD. Eine Untersuchung der AfD-Mitglieder wäre sicher spannend gewesen, fehlt aber weil nur Parteien im Bundestag untersucht wurden (2017).

Klischee: Überalterung und Defizite bei Frauen?

Stimmt. Ins Auge springt vor allem die rapide Überalterung der Parteien. Das betrifft vor allem CDU/CSU, SPD und DIE LINKE. Während 1998 der Anteil der über 65-jährigen noch ziemlich genau ihrem Anteil in der Bevölkerung entsprach, sieht es heute 20 Jahre später anders aus. Mittlerweile machen die über 65-jährigen die Hälfte aller Parteimitglieder aus, während ihr Anteil in der Bevölkerung nur um 2% auf 27% gestiegen ist. Doch zumindest für DIE LINKE gibt es Hoffnung. 2017 war sie die Partei mit dem höchsten Anteil an Jungen (U34), knapp gefolgt von den Grünen. Lange sah es so aus als würde DIE LINKE keine Zukunft haben. Das ist mittlerweile anders. Zwar lässt die Überalterung der Parteien erstmal weiter sinkende Mitgliedszahlen erwarten. Eine insgesamt ansteigende Politisierung und das Aufkommen der AfD zeigen aber, dass das kein Naturgesetz bleiben muss. Die Parteien sterben nicht aus wie es vielfach heißt. Das Parteiensystem und die Parteien verändern sich lediglich.

Weniger dramatisch, aber dennoch überraschend ist der geringe Anstieg beim Frauenanteil in den Parteien. Von 1998 bis 2017 ist der Frauenanteil um ganze 2% auf 28% angestiegen. Die Parteien haben hier ein großes Defizit – vor allem die CSU mit ganzen 19% Frauenanteil. Den höchsten Anteil haben Grüne und LINKE. Allerdings beruht der hohe Frauenanteil der LINKEN vor allem auf den ehemaligen PDS-Mitgliedern. Im Osten ist die Gleichberechtigung immer noch weiter als im Westen. Der Westen hinkt hinterher, aber auch hier gibt es Unterschiede: je südlicher das Bundesland desto schlechter ist der Frauenanteil in den Parteien.

Klischee: Nur noch AkademikerInnen in den Parteien?

Jein. Auf den ersten Blick scheint es so. Fast die Hälfte der Parteimitglieder sind mittlerweile studiert (44%). In der Gesamtbevölkerung haben aber weniger als ein Fünftel studiert (18%). Spitzenreiter sind die Grünen. Ganze 72% ihrer Mitglieder haben studiert und nur 13% haben mittlere Reife oder höchstens einen Hauptschulabschluss. Am langsamsten steigt der Anteil der AkademikerInnen in der CDU/CSU an. Auch bei der LINKEN steigt der Anteil an AkademikerInnen langsam an. Insgesamt geht der Anteil Hochgebildeter in den Parteien gegenüber der Bevölkerung aber sogar etwas zurück, weil die Gesellschaft sich schneller akademisiert als die Parteien.

Klischee: Verschwinden der ArbeiterInnen aus der Politik?

Stimmt. Auffällig ist der Rückgang der GewerkschafterInnen in den Parteien. Bei allen Parteien außer der LINKEN geht der Gewerkschafteranteil dramatisch zurück – besonders bei Grünen und SPD. Bei der SPD ist er in den letzten 20 Jahren um ganze 10% gesunken und liegt mit 35% nur noch knapp vor der LINKEN. Insgesamt sind nur noch 20% der Parteimitglieder auch Mitglieder in Gewerkschaften, gegenüber 27% 1998. Dabei ist der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder in den 20 Jahren nur um 2% auf 13% heute gesunken.

Foto: Jimmy Bulanik

Noch gravierender ist, dass in der Befragung 1998 noch 38% der Befragten selbst angaben, ArbeiterInnen zu sein. 2017 sagten das nur noch 9% der Befragten und damit weniger als ihr realer Anteil in der Bevölkerung. Ebenso sieht es bei der Selbsteinschätzung der Schichtzugehörigkeit aus. 1998 sagten noch 36% aller Befragten der Unterschicht anzugehören. 20 Jahre später war es fast nur noch die Hälfte. Dabei hat die gesellschaftliche Spaltung eher zu- als abgenommen. Gegen den realen Trend ordnen sich aber mehr Menschen der Mittel- oder Oberschicht zu. Dieses fehlende Bewusstsein dürfte vor allem den linken Parteien schaden.

Wenig überraschend rechneten sich vor allem FDP-Mitglieder – auch hier mit großem Abstand – zur Oberschicht. Das Klassenbewusstsein der Oberschicht ist also intakt.

Klischee: Vergrünung der LINKEN?

Falsch. DIE LINKE hat sowohl den höchsten Arbeiteranteil der Parteien, knapp vor der SPD. Als einzige Partei überhaupt und mit großem Abstand haben sie Mitglieder aus der Unterschicht (34%). Aber auch hier sinkt der Anteil beider Gruppen, wenn auch nur leicht. Bei den Grünen sinkt der Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern, ArbeiterInnen und Angehörigen der Unterschicht. LINKE und Grüne entwickeln sich also sozial weiter auseinander. Die in jüngster Zeit im Anschluss an Didier Eribon begonnene Klassendebatte findet in der Parteimitgliederstudie aber einige Bestätigung. Das „Verschwinden der Arbeiter aus der Politik“ beklagte der Historiker Lutz Raphael jüngst prominent und hat Recht. Diese Tendenz setzt sich fort und vor allem DIE LINKE steht hier in der Verantwortung.

Klischee: die Parteien sind bald am Ende?

Falsch. Die Überalterung der Parteien lässt zwar einen Rückgang der Parteimitgliederzahlen vermuten, aber das ist nicht das Ende der Parteien. Vor der Entstehung der großen Parteien kam bürgerliche Politik sehr gut mit kleinen Parteien zurecht, die nicht mehr als Elitezirkel waren. Rechte, konservative oder liberale Politik will nicht viel verändern, hat Geld, Lobbymacht und Einfluss in den Eliten. Linke Parteien sind im Gegensatz dazu auf massenhaftes Engagement und breite Unterstützung angewiesen.

Unsere Gesellschaft wird gerade wieder politischer. Die steigende Wahlbeteiligung zeigt das. Für die (linken) Parteien kann das eine Chance sein, denn Parteien leben vom politischen Konflikt. Die lähmende Merkel-Ära, die alle politischen Entscheidungen als Sachzwänge verkaufte, schüttete alle realen Widersprüche zu. Leidtragende dieser Politik waren, dass zeigt die Parteimitgliederstudie auch, vor allem ArbeiterInnen und Lohnabhängige, die sich nicht mehr vertreten sahen.

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Nachzulesen im ersten Heft der Zeitschrift für Parlamentsfragen 2019: Die Sozialstruktur der deutschen Parteimitgliedschaften. Empirische Befunde der Deutschen Parteimitgliederstudien 1998, 2009 und 2017. Von Markus Klein, Philipp Becker, Lisa Czeczinski, Yvonne Lüdecke, Bastian Schmidt und Frederik Springer


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3 Antworten

  1. Zur Altersstruktur der LINKEN: Der Anstieg des Anteils der unter 35-jährigen ist gut. Leider ist der Anteil der 35 bis 65-Jährigen ebenso stark gesunken seit 2009. Man müsste sich genauer angucken, welchen sozialen und Bildungs-Hintergrund sie familiär haben und welche fachlichen Ausbildungs- oder Berufsfelder sie haben. Dann würden – vermute ich – sehr starke Muster deutlich.
    Bildungsabschluss: Das ist m.E. der aussagekräftigere Indikator als die Fragen nach „Arbeiter“. DIE LINKE war schon immer und ist weiter überproportional akademisiert (weil die verbliebenen SED-Mitglieder im Osten nicht die Arbeiter, sondern in hohem Maße Akademiker waren), das hat allerdings nicht zugenommen. Darin ähnelt sie FDP und Grünen, bei denen sich das allerding noch weiter verstärkt hat. Mit Abstand am meisten dem Bild einer Arbeitnehmer- und Volkspartei, entspricht von ihrer Mitgliederstruktur in Bezug auf Bildungsabschlüsse her die CSU. Allerdings organisiert sie weit überproportional Selbstständige und Freiberufler, klassisches Kleinbürgertum. Dass das Ausmaß der Überrepräsentation der Akademiker in den Parteien insgesamt abgenommen hat, ist ein Stück weit zwingend verbunden mit dem wachsenden Akademikeranteil. Wäre dieses Maß konstant geblieben, dürfte es ab einem Akademikeranteil von 30 Prozent in der Bevölkerung in allen Parteien nur noch Akademiker als Mitglieder geben, was absurd ist.
    Deutlich ist allerdings, dass sich die Unterrepräsentanz derjenigen mit höchsten Hauptschulabschluss sogar noch verstärkt hat. DIE LINKE hat sehr stark zugelegt beim Mitgliederanteil mit (Fach)Abitur und auch mit mittlerer Reife. Sie hat am stärksten von allen Parteien am Anteil an Mitgliedern verloren, die nur maximal Hauptschulabschluss haben (um 57%, in der Bevölkerung ist der Anteil nur um ein Drittel zurückgegangen).
    DIE LINKE hat überdurchschnittlichen Anteil an Rentner*innen, Studierenden (Ausbildung) und Arbeitslosen, wobei sich gegenüber 2009 der Anteil der Arbeitslosen halbiert und der der Studierenden verdoppelt hat. Der relativ hohe und stabile Anteil der „Arbeiter“ erstaunt etwas vor dem Hintergrund der anderen Daten. Es wäre interessant zu wissen, wie diese Angaben mit anderen Merkmalen kombiniert sind, insbesondere wie viele der Älteren (die hier knapp 60 Prozent ausmachen) das angegeben haben, und wie viele der akademisch Gebildeten, die vielleicht (noch) unter ihrer Qualifikation oder nur als Nebenjob erwerbstätig sind, und wieweit sie durch eine vielleicht größere Bereitschaft von Linken als bei Mitgliedern anderer Parteien, sich als „Arbeiter“ zu bezeichnen, verzerrt sind.
    Uneingeschränkt positiv ist der gegen den Trend wachsende Anteil von Gewerkschaftsmitgliedern unter den LINKE-Mitgliedern. DIE LINKE organisiert anscheinend insbesondere einen hohen Anteil von gewerkschaftlich orientierten Höherqualifizierten. Das steht allerdings in einem starken Kontrast dazu, dass der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder, die DIE LINKE wählen, gegenüber 2009 massiv gesunken ist. Hier zeigt sich eine zunehmende Differenz zwischen den Orientierungen politisch aktiver bzw. organisierter Gewerkschaftsmitglieder und denen der breiten Masse der Gewerkschaftsmitglieder (und noch stärker gegenüber den nicht gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen). Aus diesem Spannungsverhältnis könnte sich perspektivisch ein erhebliches Problem für die Gewerkschaften und dann auch politisch ergeben.
    Spannend wäre wie gesagt vor allem sich die Mitglieder der LINKEN und insbesondere der Jüngeren nach ihren Fachrichtungen genauer anzugucken. Ich vermute, dass die Studierenden und Akademiker*innen sich sehr stark auf im weiteren Sinne geisteswissenschaftliche und pädagogische Felder konzentrieren und bei den Erwerbstätigen auf soziale Dienstleistungen im weitesten Sinne. Ich vermute, in naturwissenschaftlich-technischen sowie wirtschaftsbezogenen Bereichen sowie in handwerklichen und industriellen Sektoren ist DIE LINKE sehr schwach verankert. Diese Konzentration ist m.E. mit einer starken Überrepräsentation bestimmter politischer Einstellungen und sozialkultureller Verhaltensweisen verbunden, die die hohe Distanz zu den ohnehin in der LINKEN unterrepräsentierten und v.a. sie kaum wählenden Bevölkerungsgruppen noch verstärken dürften. Insgesamt sollte die Studie nicht irgendwie so ausgewertet werden, dass sie sozusagen Entwarnung signalisiert. Tiefergehende Untersuchungen sind notwendig, die neben den genannten Fragen auch unmittelbar und repräsentativ die Einstellung der Bevölkerung und der Mitglieder der LINKEN zu umstrittenen politischen Fragen und zu der offiziellen Position der Partei ermitteln sollten.

  2. Der Arbeiteranteil mag bei den Linken-Mitgliedern noch wahrnehmbar sein. Die tonangebenden Figuren in den Parlamenten sind jedoch andere: Gewerkschaftsfunktionäre, deren Werkbank-Zeit schon länger zurückliegt. Ansonsten: Eben doch Akademiker, Freiberufler, Beamte.
    Oder wie steht’s um den Arbeiteranteil in den Linksfraktionen?
    Und die Arbeitslosen?
    Ein einziges Mal (Elke Reinke 2005) wurde über die Landesliste Sachsen-Anhalts eine Hartz IV-Empfängerin in den Bundestag gewählt. Vier Jahre später warf Parteimanager Matthias Höhn ihr schneidig „Betroffenheitspolitik“ vor (https://tinyurl.com/y22owkva) und verhinderte einen erneuten Einzug.

  3. DIE LINKE sollte nicht nur den Anspruch tragen, eine “Arbeiterpartei“ zu sein, sondern für alle “sozial Abgehängten“ Partei ergreifen. Die Verselbständigung der Wirtschaft ist ja längst geschehen mit ihrer politischen Förderung, der Union.
    DIE LINKE muss modern, ökologisch, demokratisch und selbstbewusst sein.
    Und dabei sollte sie die Thematiken im Fokus haben, die “das Land“ bewegen.
    Kostenloser ÖPNV, günstige Bahntickets,
    Klimaschutz, Artenschutz, Psychiatrie- Kritik, um nur ein paar Felder zu nennen.
    Die Wähler*Innen wollen keine marxistische Theorie erklärt bekommen, sondern ein paar gescheite konkrete gute Ideen für unser Zusammenleben.
    Die politische O- Ton- Kultur sollte die LINKE nicht reproduzieren, sondern den Zugang zur Information verbessern.
    Ein verstaatlichter Flug- Konzern muss kein unrentables Unternehmen werden, aber da müsste B. Riexinger m. Verlaub sich schon besser erklären.
    Eine moderne LINKE setzt nicht nur auf Emanzipation vom Kapitalismus (sprich ich bin krank, ersticke in Bewerbungen oder in der Maßnahme) , sondern sie sieht wandlungsfähige Strukturen, die keinen Schrecken auslösen.
    Denn eine Akademiker- Partei ist für viele nicht attraktiv, die sich in der Theorie sonnt. Nur eine handlungsfähige Linke, mit ganz klaren sog. “Roten Halte- Linien“ kann politisch “konkurrenzfähig“ bleiben.

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