Warum haben die Menschen Jesus, den Sohn Gottes, umgebracht, wenn sie doch jederzeit mit der fürchterlichen Rache des Herrn rechnen mussten? Wäre es nicht viel sinnvoller und (mit Blick auf eine etwaige Rückrunde des Diesseits) auch gesünder gewesen, sie hätten ihn seine Jünger terrorisieren lassen und ansonsten auf Durchzug geschaltet?
Womöglich. Wir wissen allerdings inzwischen, dass es ganz anders kam und die Treulosigkeit des damaligen Menschengeschlechts letztendlich der Grundpfeiler, für den in den nächsten Jahrhunderten aufkommenden Kult um den Mann aus Nazareth war. Wie so oft, wenn Dinge erst ganz furchtbar und verzwickt erscheinen, um letztendlich vielleicht nicht „gut“, aber immerhin unsere Normalität zu werden, bleibt wenig übrig von den besten Absichten. Von den schlechten häufig noch weniger und so sitzt der Mensch irgendwo zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auf einer Bank und schaut von der Spitze der Bedürfnispyramide auf alles andere (und alle anderen) herab. „Das ist doch einfachste Ökonomie!“, denkt sich – niemand. Und genau deshalb braucht es jemanden, der uns unsere Wirklichkeit in die Ecken und Winkel der Welt einsortiert. Der uns erklärt, warum Politik auf Pluralität von Menschen beruht, warum Pubertät der Wille zur Wahrheit ist und weshalb man in jungen Jahren irgendwann lieber aus dem See voller Kröten herauswaten sollte, möchte man nochmal richtig guten Sex erleben, ohne sich direkt verlieben zu müssen.
Sich die Welt erklären lassen? Wie unemanzipiert! In Ordnung, einverstanden. Doch es macht ungemein Spaß, ein ganzes AutorInnenkollektiv beim Beschreiben der großen und kleinen Wirrungen und Irrungen zu begleiten. Denn niemand sollte allein versuchen, Physik zu verstehen oder die nervtötenden Kaugeräusche der Person am Nachbartisch zu ignorieren. Und so hat der Maler, Musiker, Performer und Veranstalter Jim-Avignon einundzwanzig SchriftstellerInnen, JournalistInnen und „Kulturmenschen“ um sich geschart, die ihm bei der Kontextualisierung seiner Bilder halfen. Sie mögen es hingegen andersherum sehen und seine Kunst als visualisierte Essenz ihrer Gedanken und Beobachtungen verstehen, weshalb man sich entschied, die linke Buchseite mit der Überspitzung der Gegenwart zu bedrucken und die rechte mit der selbigen.
Immer noch nicht alles klar? Sehr gut, denn dann hilft, schnellstmöglich seine Nase in dieses Buch zu stecken und auf eigene Faust herauszufinden, wie das alles eigentlich so ganz genau läuft. Und wie nicht. Und warum MusikethnologInnen vor unlösbaren Problemen stehen, wenn sie ihre Wissenschaft hinüber ins 21. Jahrhundert retten wollen, ohne sich dabei selbst abzuschaffen. Dass die Realität der Wahrheit Tod ist und die Abbautage das Schönste an einer Galerie sind, überrascht bei dieser Reise durch unsere Umwelt noch am wenigsten. Fast ist man etwas traurig, dass die einzelnen Textbeiträge nur wenige Seiten lang sind, wären nicht direkt nebenan die pointierten und aufgrund der Potenz ihrer Analysen unschlagbar einleuchtenden Zeichnungen von Jim-Avignon. Denn ohne sie versteht man nur halb so viel. Andersrum ist es letztlich noch viel schlimmer, weshalb beides nicht nur nebeneinander, sondern auch zueinander gehört.
So wie Welt und Wirklichkeit.
Eine Antwort
Überaus gelungen macht dieser Artikel Lust auf ein aussergewöhnliches Buch aus einem ganz besonderen Verlag.