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Es ist unsere Revolution.

Die Schnelllebigkeit der sozialen Netzwerke öffnet Tür und Tor für Dummheit und Propaganda. Wir als User, als Journalisten, als Politikinteressierte haben die Macht, Qualität einzufordern und sie zu verbreiten. Wir sollten wieder weniger Objekt mehr Subjekt werden.


„Wir formen unser Werkzeug und danach formt unser Werkzeug uns.“

Dieser Ausspruch eines der großen Denker des 20. Jahrhunderts, Marshall McLuhan – den Die Zeit den „einflussreichsten Medientheoretiker aller Zeiten“ nennt –, ist ein halbes Jahrhundert alt und könnte heute angesichts der Erfolgsstory der sozialen Medien kaum aktueller sein. Wir sind gleichzeitig Subjekt und Objekt einer Medienrevolution, deren Auswirkungen so einschneidend sein werden, wie wir es seit Gutenbergs Druckerpresse vor über 500 Jahren nicht erlebt haben. McLuhans „globales Dorf“ ist durch die sozialen Netzwerke omnipräsent geworden.

Im Jahre 2020 werden weltweit über 6 Milliarden Smartphones im Einsatz sein – und ein Großteil dieser Einsatzzeit wird mit dem Hin-und-her-Wischen auf Twitter, Facebook & Co. ausgefüllt sein. An deren rasantem Aufstieg hätte McLuhan sicher seine helle Freude gehabt, ist ihr Siegeszug doch geradezu die Inkarnation seiner zentralen These: Das Medium ist die Botschaft. Die sozialen Netzwerke haben sich längst von ihrer Rolle als bloßes von uns kontrolliertes Werkzeug emanzipiert.

Klicks, Likes und Shares vs. journalistisches Handwerk

McLuhan erkannte wie kein anderer die außerordentliche Wichtigkeit einer der zentralen Erkenntnisse der Medientheorie: Inhalt und Wirkung sind zwei voneinander getrennte Sphären. Diese in ihrer Einfachheit bahnbrechende Erkenntnis erfährt durch Twitter und Facebook eine Bedeutungsrenaissance exorbitanten Ausmaßes – und das im besonderen Maße auf dem weiten Feld der Politik.

Im Eigenleben der sozialen Netzwerke driften diese beiden Sphären immer weiter auseinander, was den politischen Diskurs oft in eine ungesunde Richtung lenkt: Klicks, Likes und Shares – die quantisierte Wirkung also – haben sich im Politjournalismus zur alles bestimmenden Währung entwickelt, zum Selbstzweck, auf der Jagd danach wird politischer Inhalt mehr und mehr zweitrangig. Denn das Tool zur Anhäufung der digitalen Währung ist nicht das journalistische Handwerk selbst, sondern die von einer Schlagzeile erzeugte Emotion der User. Mit ihr steht und fällt alles. Wie im Alten Rom: Daumen hoch oder Daumen runter.

Vor einigen Wochen ging in den US-Medien die Story viral, dass „russische Hacker“ – gerne auch Putin höchstpersönlich – in feindlicher Absicht das US-amerikanische Stromnetz infiltriert hätten. Diese äußerst schwerwiegende Anschuldigung – ein Akt der Cyber-Kriegsführung – wurde über die einschlägigen Twitter-Accounts des vermeintlich liberalen Mediennetzwerks aus CNN, New York Times & Co. unaufhörlich verbreitet und erreichte über zigtausende Tweets und Re-Tweets innerhalb von Stunden ein Millionenpublikum. Als sich kurze Zeit später jedoch herausstellte, dass die Geschichte schlicht falsch war – klassische Fake News also – hielt es die Mehrheit der eifrigen Twitterer an den Schreibtischen der großen Medienhäuser nicht für nötig, den Fehler einzugestehen. Entsprechende Richtigstellungen waren rar gesät und erreichten in Summe nur einen winzigen Bruchteil der Twitter-Reichweiten der ursprünglichen Falschmeldung.

Es ging nicht um Inhalt, sondern um Wirkung, nicht um Wahrheit, sondern um Reichweiten, nicht einmal wirklich um Politik, sondern um emotionale Erregung und die Bestätigung ohnehin gefestigter Ansichten. Unter den US-Demokraten, ihren Anhängern sowie ihren Schreiberlingen bricht sich mehr und mehr eine McCarthyeske Russlandfeindlichkeit Bahn, in deren Konsequenz auch auf der vermeintlich vernünftigeren Seite der bipolaren US-Politlandschaft intellektuelle, journalistische Standards begraben werden. So wird die Forderung nach verifizierbaren Beweisen obsolet, solange Geschichten vom neuen alten Feind das russophobe Ego streicheln – und Twitter ist der Katalysator für diesen höchst emotionalisierten Wohlfühljournalismus.

Diese Funktion der sozialen Netzwerke wird selbstredend von der „Gegenseite“ noch weitaus exzessiver ausgenutzt. Doch in die Absurditäten des Trump’schen Twitter-Paralleluniversums aus Lügen und Hass hinabzusteigen, möchte ich mir und Dir an dieser Stelle ersparen – was gibt es auch ernsthaft zu diskutieren, wenn eigentlich alles als Fake News geschmäht wird, was nicht auf Trumps Twitter-Account oder den rechtsaußen Fox News läuft? Das Russland-Beispiel illustriert vielmehr, dass es sich über die Politlager hinweg um ein allgemeingültiges Prinzip handelt: Twitter als revolutionäres Instrument zur Emotionalisierung der politischen Kommunikation. Und damit eine Revolution auch der politischen Propaganda, denn für das Vertrauen in eine bestimmte Nachrichtenmeldung ist es für User von sozialen Medien wichtiger, wer die Nachricht in den Netzwerken teilt, als die Glaubwürdigkeit der eigentlichen Nachrichtenseite selbst, wie Forscher der University of Chicago herausfanden. Oprah hat mehr Credibility als CNN. Die im Sekundentakt laufende Manipulation von Millionen von Followern ist so einfach wie nie zuvor in der Geschichte. Musste Goebbels seine Follower noch in die Kinos bekommen, erzielen die Trumps und Le Pens und Wilders‘ dieser Welt mit 140 in ihr Smartphone gehauenen Zeichen heute ähnliche Effekte.

Die erwähnte Story des angeblich infiltrierten US-Stromnetzes steht sinnbildlich auch für eine weitere zentrale Fehlentwicklung im Politjournalismus, die durch den enormen Zeitdruck der sozialen Medien dramatisch verschärft wird: das Absinken der Qualität journalistischer Recherche. Die Ultraschnelllebigkeit des Internets verschiebt die Bedeutung des Faktors Zeit auf eine derart fundamentale Weise, dass sich selbst die renommiertesten Medienhäuser am zeit- und damit kostenintensivsten Posten – und nichts Anderes scheint Recherche mehr zu sein: ein Kostenfaktor – vergreifen und so aus dem „Twitter-Zwang“ heraus sehenden Auges ihre journalistische Integrität beschneiden. Eine Story zehn Minuten vor oder aber zehn Minuten nach der Konkurrenz zu bringen, spiegelt sich in Klickzahlen wider – und in einer höchst durchrationalisierten und profitgeleiteten Medienwelt damit in trockenen Businesszahlen. Das journalistische Schwergewicht der Washington Post, in der die Story vom infiltrierten Stromnetz als erstes erschien, nahm sich nicht einmal die Zeit, das vermeintlich gehackte Kraftwerk in Vermont anzurufen, was in einer nicht von Twitter vorangepeitschten Medienwelt gewiss der allererste Schritt gewesen wäre.

Wir sollten wieder weniger Objekt mehr Subjekt werden. By JusticeNow!, licensed under CC BY-SA 4.0.

Jeder gehört zur Besatzung

Um dem vermutlich entstandenen Eindruck entgegenzutreten: Ich bin ein ausgesprochen großer Fan von Facebook und Twitter – insbesondere auf dem Gebiet der Politik. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte war es derart leicht, sich Gehör zu verschaffen und ein globales Publikum für die eigene Sache zu begeistern. Wir leben in extrem spannenden Zeiten des medialen Aufbruchs, Machtgleichgewichte verschieben sich, die sozialen Netzwerke sind ein mächtiges Tool zur globalen Demokratisierung der Information, die Grenze zwischen Medienproduzent und -konsument weicht auf. Und wie bei jeder Revolution ist es daher an uns allen, sie in die Richtung zu lenken, in der wir sie gerne haben wollen, und uns nicht von ihr bevormunden zu lassen. Wir als User, als Journalisten, als Politikinteressierte haben die Macht, Qualität einzufordern und sie zu verbreiten.

Marshall McLuhan wird oft ein gewisser Determinismus oder gar Kulturpessimismus unterstellt. Doch damit wird ihm Unrecht getan, denn eine Eindimensionalität von Entwicklungen hat er stets abgelehnt und sich vehement gegen ein Denken der Zwangsläufigkeit ausgesprochen – und für eine bewusste Eigenverantwortung von uns allen:

„Es gibt keine Passagiere auf dem Raumschiff Erde, jeder gehört zur Besatzung.“

Wir sollten wieder weniger Objekt mehr Subjekt werden. Es ist unsere Revolution.


Dieser Artikel vom Freiheitsliebe-Autor Jakob Reimann entstand in Kooperation mit dem neu an den Start gebrachten Medienmagazin The Type Writer der Universität Potsdam unter Leitung von Prof. Sven Völker. Die Freiheitsliebe sendet die besten Grüße nach Potsdam und sagt DANKE an Johanna Olm für die tolle Zusammenarbeit – connect critical journalism!

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