Millionen sind jedes Wochenende zum Abschalten im Stadion – fernab von den Problemen der Welt. Daraus wird aber vorerst nichts. Ein Kommentar von Paul Georgi.
„Bakery, Bakery, Bakery“ hallt es Anfang September durchs Volksparkstadion des Hamburger SV. Ein Verein und seine Fans stellen sich hinter den jungen Fußballer, der in den letzten Wochen immer wieder Mittelpunkt von Schlagzeilen war, die mit dem Sport an sich eigentlich gar nichts zu tun haben. Was ist geschehen?
Im Sommer 2019 veröffentlicht die Sport-BILD eine vermeintlich sensationelle Entdeckung: Der beim HSV spielende Bakery Jatta sei in Wirklichkeit der zweieinhalb Jahre ältere Bakary Daffeh und habe seine Identität und sein wahres Alter verschleiert, um in Deutschland als Minderjähriger eine Duldung zu erhalten. Es folgt eine unerträgliche Posse, in der Vereine wie der Karlsruher SC und der 1. FC Nürnberg unter Berufung auf die Springerpresse Protest gegen die Wertung ihrer Niederlagen gegen den HSV einlegen. Das Bezirksamt Hamburg-Mitte ermittelt und stellt das Verfahren bald ein: Zweifel an der Richtigkeit der Angaben hätten sich nicht bestätigt. Bald darauf ziehen die Vereine ihre peinlichen Proteste zurück.
Das Problem heißt Rassismus
Für die Hamburger Kurve ist der Fall von Anfang an klar: „Ob SportBild, Tönnies oder Weidel – Das Problem: Rassismus“. Jatta wird in allen Partien demonstrativ beklatscht und nach Abpfiff gefeiert. Trotzdem würde wahrscheinlich in Hamburg wie auch in den meisten anderen Städten die Mehrheit der Stadiongängerinnen und Stadiongänger die These vertreten, dass Politik im Stadion nichts zu suchen hat. Wie passt das zusammen?
Spitzensport war historisch betrachtet schon immer eng mit Politik verwoben. Herrschende Politikerinnen und Politiker wollen von faszinierenden und zuschauerwirksamen Massenphänomenen profitieren. Von den Olympischen Spielen der Antike bis hin zu den auf die Spitze getriebenen Wettkämpfen zwischen Athletinnen und Athleten aus Ost und West während des Kalten Krieges. Auch Besuche von Regierungschefs auf Tribünen und in Kabinen, wie von Angela Merkel bei der letzten Weltmeisterschaft, zeigen, dass sich daran nicht viel geändert hat.
Stress in der Fankurve
Aber nicht nur oben, auch unten in der Kurve steckt die Politik im Sport drin. Wie wollen wir zusammenleben, wer kann sich wo ohne Probleme bewegen und wer wird gesellschaftlich ausgegrenzt und diskriminiert? Solche Fragen machen vor den Stadiontoren nicht halt. Können sich Frauen, migrantisch gelesene Menschen oder Transpersonen in deutschen Fußballstadien frei und ohne Angst bewegen? Können sie sich überhaupt den Eintritt leisten? Definitiv nicht. Und da wird es kompliziert mit der Aussage, Politik habe im Stadion nichts zu suchen. Denn jene, die sich für ausgegrenzte und diskriminierte Personen einsetzen, indem sie zum Beispiel eine Antirassismus-Kampagne initiieren, bringen nicht die Politik ins Stadion. Die war ganz ungefragt vorher schon da.
Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse auch im Stadion nicht von selbst verschwinden, stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Umgang damit. Was tun, wenn Geflüchtete ins Stadion wollen, aber Angst haben müssen, dumm angemacht oder körperlich angegriffen zu werden? Was tun, wenn Eintrittspreise für viele nicht mehr erschwinglich sind? Was tun, wenn der Schalker Aufsichtsratsvorsitzende Clemens Tönnies sich öffentlich in widerlichen rassistischen Äußerungen ergeht? Was tun, wenn die Sport-Bild Stimmung gegen Bakery Jatta macht?
Stillhalten? Sicher nicht.
Es gilt dann zu sagen: Refugees welcome! Fußball ist für alle da – unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Geldbeutel! Verzieht euch, Tönnies und Co., mit eurem plumpen Rassismus! Es gilt, hinter Spielern wie Bakery Jatta zu stehen und ihnen zu zeigen: Ihr gehört zu uns!
Das zu tun ist vielerorts leichter gesagt als getan. In Fußballstadien quer durch alle Ligen muss man sich vor rechten Schlägern in Acht nehmen. Es gibt Orte in Deutschland, an denen ziehst du nicht mal einfach eine Antirassismus-Initiative hoch und erntest dafür von allen Seiten Beifall. Aber es nützt ja nichts. Rund um das Massenphänomen professioneller Männerfußball sind politisch umkämpfte Räume entstanden, die tief in die Gesellschaft reichen und von denen wir uns nicht fernhalten dürfen. Wir müssen uns unsere Freundinnen und Freunden schnappen, uns organisieren und dann überlegen, was am jeweiligen Ort zu tun ist. Die Hamburger Kurve im Fall Jatta und auch die Forderung der Ultras Gelsenkirchen, Clemens Tönnies die oftmals symbolisierte und angesprochene „Rote Karte“ zu zeigen“, machen deutlich, dass dies keinesfalls ein hoffnungsloses Unterfangen ist.
Der Beitrag ist gedruckt erschienen in der Critica