Vor einem Jahr wurde zum Internationalen Tag gegen Gewalt in Chile die Performance Un violador en tu camino (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) von Aktivist*innen der Gruppe Las Tesis aufgeführt. Frauen überall auf der Welt übersetzten die Anklage der Aktivist*innen und adaptierten die Performance. In der Performance wird die strukturelle Verankerung von Gewalt gegen Frauen in Staat und Gesellschaft zum Thema gemacht – und die Verantwortung der Männer und der patriarchalen Strukturen für die Gewalt anprangert.
»Das Patriarchat ist ein Richter, der uns verurteilt von Geburt. Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du nicht siehst. (…) Und es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug. Der Vergewaltiger warst du! Der Vergewaltiger bist du!«
Gewalterfahrung ist die bittere Verbindung aller Frauen dieser Welt. Gewalt und Belästigungen gehören zum Alltag von Frauen. Frauen erleben Gewalt aufgrund ihres Frau-Seins. Die Gewalt ist Teil der patriarchalen Kultur unseres Zusammenlebens. Diese Kultur lässt Männer glauben, dass sie Zugriffsrechte auf den Körper von Frauen haben und Frauen der sexuellen Befriedigung des Mannes dienen. Frauen, die unabhängig sind, selbstbewusst auftreten, Entscheidungen treffen und ihr Leben gestalten, stellen diese Kultur in Frage. Und Männer reagieren auf sie mit Aggression und Gewalt. Von dieser patriarchalen Gewalt sind nicht ausschließlich Frauen betroffen, auch andere Personengruppen, die sich nicht dem Geschlechterverhältnis unterordnen beziehungsweise einordnen lassen, erleben diese Gewalt, so unter anderem queere Menschen, Trans- und nicht-binäre Personen sowie feminine Männer.
Die Gewalt hat unterschiedliche Erscheinungsformen und tritt als körperliche, psychische und strukturelle Gewalt auf, als sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt. Um Gewalt gegen Frauen und andere marginalisierte Gruppen zu beenden, müssen wir die herrschenden Machtstrukturen und Geschlechterverhältnisse verändern.
Zunächst einmal ist es wichtig, den strukturellen Charakter und die Funktion von Gewalt gegen Frauen zu erkennen und zu markieren.
116 Morde an Frauen in Deutschland hat die Wochenzeitung DIE ZEIT in der Dokumentation „Von ihren Männern getötet“ vor einem Jahr veröffentlicht. 116 Fälle, bei denen Männer ihre Frau, Freundin oder Ex-Partnerin getötet haben. Mit dieser spektakulären Dokumentation hat das Thema Frauenmorde in den deutschen Medien eine seltene Aufmerksamkeit erhalten. Denn nach wie vor wird über das Thema zu wenig berichtet. Und wenn es Artikel gibt, dann werden die Tötungsdelikte oft mit Begriffen wie „Beziehungsdrama“ oder „Familientragödie“ heruntergespielt. Dies suggeriert, dass es sich um schicksalhafte Einzelfälle handelt, die losgelöst von unseren gesellschaftlichen Strukturen passieren. Aber dem ist nicht so. Morde an Frauen sind oft das tödliche Resultat der Ungleichbehandlung von Frauen aufgrund hierarchischer Geschlechterverhältnisse.
Ich plädiere deshalb für die Verwendung des Begriffs Femizid für einen geschlechtsspezifischen Mord an Frauen. Ein Femizid liegt beispielsweise vor, wenn Frauen oder als Frau gelesene Personen vergewaltigt und anschließend umgebracht werden. Wenn Frauen von ihrem Partner getötet werden, weil sie ihn verlassen haben. Wenn Frauen getötet werden, weil sie öffentlich auftreten und ihre Meinung äußern. Wenn Familienmitglieder ihre Töchter umbringen, weil sie ihren eigenen Weg gehen wollten. Aber auch, wenn bei einem Attentat speziell Frauen getötet werden. Die 116 Frauen, über deren Schicksal DIE ZEIT 2019 berichtete, sind also nur ein Teil der Femizide in Deutschland und gehen weiter und werden sogar mehr. Jede Woche werden in Deutschland etwa drei Frauen von ihrem aktuellen oder früheren Partner getötet.
Es ist Zeit, dass wir auch in Deutschland über Femizide sprechen und Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen sichtbar machen.
Femizide, Tausende Opfer von Vergewaltigung, sexualisierter Nötigung oder schweren sexuellen Übergriffen sind keine einzelnen Gewaltakte – wir haben es mit einem gesellschaftlichen und strukturellen Problem zu tun. Die Täter sind meist Männer aus allen Berufen, Einkommensgruppen, aller Bildungshintergründe und Nationalitäten. Doch oft haben die Frauen keine Chance zu gehen. Eine fehlende eigenständige ökonomische Absicherung oder auch mangelnder Wohnraum erschweren die Flucht aus der gewalttätigen Situation. Es ist logisch, dass Frauen, denen es an finanziellen Ressourcen fehlt, einem höheren Risiko ausgesetzt sind, zumal die Plätze in Frauenhäusern und auch Beratungsangebote seit Jahren nicht ausreichen.
Die Betroffenen müssen ernst genommen werden, Unterstützungsangebote müssen schnell und unbürokratisch zur Verfügung stehen. Gewaltschutz darf nicht nur akut greifen. Frauen müssen in ihren Autonomiebestrebungen unterstützt werden, finanzielle Unabhängigkeit, Zugang zu Bildung und Wohnraum – all das sind wichtige Grundlagen für Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit und gegen die Fesseln des Patriarchats.
Aber: Gewalt gegen Frauen ist in unserem System tief verankert, wird von diesem gedeckt und befördert. Wir alle sind Komplizen, tragen Gewaltstrukturen mit, schauen weg, verharmlosen und schweigen. Wir müssen uns gegen Gewalt wehren, wenn wir es können. Und wir dürfen uns nicht die Schuld geben, wenn wir es nicht können. Sexistische Sprüche dürfen nicht weiter als witzig oder harmlos heruntergespielt werden. Die Schuld nie bei den Frauen oder ihrer Rocklänge gesucht werden. Die Geräusche aus der Nachbarwohnung nicht als Streit aus Leidenschaft abgetan oder die Isolation der ehemals besten Freundin als Verliebtheit hingenommen werden.
Ein Schutz vor Gewalt kann nur erreicht werden, wenn wir eine neue Kultur des Zusammenlebens entwickeln, die auf der einen Seite den Konflikt mit Gewalttätern und gewalttätigen Strukturen nicht scheut und auf der anderen Seite niemanden alleine lässt und Angriffe gegen Frauen nicht als individuelles Problem begreift. Und ein Schutz vor Gewalt kann nur erreicht werden, wenn wir nicht nur die physische Gewalt thematisieren, sondern auch die gewaltfördernden Bedingungen wie fehlender bezahlbarer Wohnraum, niedrige Löhne und eine Steuergesetzgebung, die mit dem Ehegattensplitting Abhängigkeitsverhältnisse fördert. Frauen, gegen die Gewalt ausgeübt wird, brauchen Schutz. Sie brauchen aber vor allem Gleichberechtigung und soziale Garantien, damit sie irgendwann keinen Schutz mehr brauchen.
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