Wie sich junge Menschen der Bürgerlichkeit unserer Gesellschaft annähern, obwohl sie, dem Anschein nach, ihr gleichzeitig fernbleiben wollen.
Bei meiner Arbeit in einem soziokulturellen Zentrum treffe ich täglich Menschen, mit abweichenden Meinungen, Lebensläufen und Lebensentwürfen, doch in letzter Zeit nutzt eine ganz bestimmte Gruppe das Gelände des Zentrums: Menschen Anfang 20 mit Kind. Ihre äußerliche Staffage ist fair produzierte, alternative Kleidung, angelehnt an den Stil der Hippies. Sie engagieren sich oft an unterschiedlichen Hausprojekten. Das sind allerdings keine Hausbesetzungen, sondern gemietete Bruchbuden, mit der Auflage, sie wohnlich zu sanieren.
Je näher wir uns kommen, desto mehr habe ich die Vermutung, dass das alternative Äußerliche nicht zur sozialen Einstellung passt und es sich hier um eine neue Generation von Bürgerlichen handelt: die neuen deutschen Spießer.
Das gemachte Nest
Das Aufkommen von jungen Familien, in denen beide Elternteile Anfang 20 sind, kenne ich nur aus Erzählungen meiner in der DDR sozialisierten Lehrer. Doch es scheint gerade eine Renaissance, ein Wiederaufkommen dieses jungen Familienentwurfes zu geben. Doch nicht nur die Familienplanung fängt früh an, sondern auch der Wunsch nach Sicherheit: Nach Eigenheim.
Aus diesem Grund engagieren sie sich, oft in einer Gruppe von Menschen mit ähnlichen Lebensentwürfen, gemeinschaftlich in Wohnprojekten. Das gemeinsame Ziel: So schnell wie möglich ein Eigenheim für sich und seine Familie zu schaffen. Mit dem Besitz des Eigenheims kommt dann auch die Zufriedenheit.
Das alles scheint sehr, eine ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen zu sein. Es klingt spießig – und das ist es auch. Nichts mehr hinterfragen, nicht mehr auf der Suche nach dem Sinn, nicht mehr der jugendliche Nomade, sondern der jugendliche Sesshafte.
In Gesprächen habe ich erlebt, dass diese jungen Sesshaften darüber reden, dass man nicht aufbegehren müsse, da es einem ja gut geht. Sie müssen sich nicht aufregen über den autoritären Staat (auch in Coronazeiten), denn sie sind privilegiert und haben die Menschen aus ihrer Wohngemeinschaft um sich.
Neben dieser Reflektion der eigenen Privilegien und des eigenen sicheren Status folgte im Gespräch ein schnell hinterhergeschobenes „Aber trotzdem mache ich mir Gedanken um die Flüchtlingslager.“
Was bedeutet diese verbale Kundgebung? Was fühlen diese privilegierten Menschen, die ihre Privilegien wohl kaum mit den eigenen Händen, neben Studium und Arbeit, erschaffen haben? Die Vermutung liegt nahe, bloß nicht unsensibel und egoistisch erscheinen zu wollen, sondern zu zeigen, dass man aktiv an der politischen Diskussion teilnimmt.
Doch welche Rolle spielen die neuen Spießer als Teil des politischen Diskurses?
Der Kapitalismus kann auf zwei Art und Weisen enden: entweder durch die Krise oder durch die Revolution, sagt Marx.
Das antikapitalistische Unternehmen ist vergleichbar mit dem Begehen eines Tunnels. Das Licht am Ende dieses Tunnels ist entweder die lang ersehnte und erträumte Revolution oder, wie Slavoj Žižek anmerkte, einfach nur ein Zug.
Diese ständige Hoffnung am Ende des langen Ganges, auf die strahlende Revolution oder die lichterlohe antikapitalistische Krise zu stoßen, ist verbunden mit der Angst vor dem Zug der Zeit.
Sind die jungen Sesshaften auch ein Teil jener, die im Tunnel auf das Licht zugehen? Oder haben sie erst gar nicht die Absicht, zum Licht zu streben? Haben die ihnen in Schoß gefallenen Privilegien sie satt und blind gemacht? Sodass sie eine Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung pflegen?
Spießertum und Eskapismus
„Ich hatte irgendwie keine Lust, mich mit all diesem Zeugs zu beschäftigen – ich wollte lieber an den See fahren, oder irgendwo rumliegen, oder rumsitzen, oder rumhängen, also irgendwas mit rum. [Das] wäre mir lieber gewesen, als mich mit all diesem widerlichen Zeugs zu beschäftigen – rumliegen, rumsitzen, rumhängen in der Sonne rummachen, rumknutschen und Musik hören – so mit anderen – irgendwo auf einer Dachterrasse […] wo man auf die Stadt guckt und alles ganz weit weg ist – also all diese Menschen und ihre Probleme und was die sagen und wie die sprechen und was die posten auf Kommentarspalten und auf YouTube – einfach alles ganz weit weg ist und man das Gefühl hat: ‚das lass ich jetzt lieber alles bei euch‘.“ Aus: FEAR (Theaterstück, Text und Regie: Falk Richter).
Der Ausschnitt aus dem Theaterstück „FEAR“ beschreibt den eskapistischen Ansatz des neuen deutschen Spießertums sehr gut. Die jungen Familien wollen nicht mehr teilnehmen am Leid der Menschen, lieber vom Dach des selbst sanierten Hauses herabschauen und die emotionale Arbeit nicht mehr in die Änderung des Systems stecken, sondern mehr in die lokale Gemeinschaft und die Familie. Das Leid teilt man nur noch symbolisch, indem man öffentlich verlauten lässt, dass man ja noch an die Ausgebeuteten denken würde. Die Sonne auf seiner Dachterrasse verbreitet nicht nur wohlige Wärme. Sie blendet zugleich und alle lästigen Probleme sind aus der Sicht und aus dem Sinn. Der Rückzug ins vertraute bürgerliche Leben scheint ein Schutzmechanismus zu sein. Die Globalisierung scheint unübersichtlich, das überschaubare Lokale bietet eher das Gefühl, hier heimisch zu sein. Es ist eine bewusste Verweigerung gesellschaftlicher Zielsetzungen und Handlungsvorstellungen. Politische Verantwortung und gesellschaftliche Veränderungen werden ersetzt durch Verantwortung für die Kinder der häuslichen Gemeinschaft und dem gesellschaftlichen Wandel wird mit dem eigenen Haus eine Wertanlage entgegengesetzt.
Hinter Altbaumauern versteckt sich soziale Passivität
Doch was, wenn es drauf ankommt? Wenn man konfrontiert wird von „all diesen Menschen und ihre[n] Probleme[n]“? Um der Kritik der Peergroup zu entweichen, einigt man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: „Alternativität“, gezeigt durch Hippiekleidung und den Kaufentscheidungen im Biomarkt, denn als Konsument*in trage man schließlich Verantwortung. Gegen Nazis ist der neue deutsche Jungspießer auch und gegen Sexismus sowieso.
Nur handeln sie nicht dagegen, da sich die jungen Familien ohnmächtig fühlen. Lieber zieht man sich zurück, liegt auf seiner Dachterrasse rum und ist weit weg von den Problemen.
Ist die neue Sesshaftigkeit Verweigerung?
Doch was, wenn der neue Spießer gar nicht vor den Problemen unserer Zeit die Augen verschließt, sondern nur auf andere Art und Weise gegen sie angeht? Antikapitalistisch zu denken und trotzdem am Kapitalismus teilzunehmen, ist kein Widerspruch – die erzwungene Teilnahme am System ist Teil der Kritik. Es gibt schließlich kein Richtiges im Falschen – oder so!?
Im globalen Kapitalismus, in dem das Anhäufen von Reichtum und der Egoismus streng die Richtung vorgeben, scheint die Rückbesinnung auf kleine Gemeinschaften, die gemeinsam einen Lebensraum aufbauen und gemeinsam ihre Kinder erziehen, ein Gegenentwurf. Ein Protest im Kleinen. Das Konzept der Mietshaus-Syndikate kommt schließlich aus der 68er-Bewegung heraus.
In einem Gespräch mit einem jungen Sesshaften aus einem Wohnprojekt meinte er: „Ich als prekär Beschäftigter bin auf der Suche nach Sicherheit, ein Haus bedeutet auch immer Wertsteigerung. Das, was ich mache, ist kein Protest: Ich nehme mir nur diesen Raum, weil ich ihn nicht den Investoren und dem Finanzkapital gönnen möchte. Ich will meine Straße mitgestalten und mein Viertel auch.“
Die Rückeroberung des öffentlichen Raumes, also die Entreißung aus seiner Kommerzialisierung, sollte es denn tatsächlich städtischen Leerstand beleben und für Spekulanten unzugänglich machen und die Gestaltung dieses Raumes in einer gemeinschaftlichen Art und Weise: Die gemeinsame Erziehung der Kinder, das gemeinsame Kochen und das solidarische Miteinander, kann ein Ausblick auf das sein, was uns als Gesellschaft nach dem Kapitalismus erwartet.
Der neue Spießer ist vielleicht kein Biedermann oder eine Rückbesinnung auf kleinbürgerliche Tugenden, sondern sein Handeln ist der lokale Entwurf des postkapitalistischen Zusammenlebens. Vorausgesetzt, die jungen Sesshaften öffnen sich und ihre Häuser gegenüber der lokalen Gemeinschaft, denn konspirative Gruppen mit einem Haus, egal wie progressiv, sind schließlich immer noch Privateigentümer.
Ausblick
Ein Haus allein ist noch kein antikapitalistisches Bollwerk. Selbst dann nicht, wenn in dem Haus der Geist der 68er wohnt. Solange die neuen Sesshaften nicht spürbar erkennen, welche Probleme dieses System in sich trägt, und sie die Augen davor verschließen und eskapistisch handeln, sind sie nur Spießer.
Doch wenn sie ihre Lebensweise als einen Gegenentwurf gestalten, in dem nicht die Anhäufung käuflicher Dinge als das erstrebenswerte Lebensziel gilt, sondern sie ihre Häuser und solidarischen Gemeinschaften öffnen, dann könnte sich daraus ein lokaler Prototyp für die postkapitalistische Gesellschaft entwickeln.
Doch was, wenn das Licht am Ende des Tunnels ein Zug, ein weiterer, noch größerer Crash als der von 2008 ist? Werden dann die jungen Sesshaften aufstehen? Gegen das Leid ankämpfen – um ihren verbalen Kundgebungen und den revoltierenden Studierenden, auf die sie sich so gerne beziehen, gerecht zu werden? Oder werden sie auf ihrer Dachterrasse sitzen bleiben, auf uns herabschauen und uns versichern, dass sie in Gedanken und mit beiden Beinen ganz fest zu uns stehen.
Dieser Beitrag von Dar Ronge erschien zuerst hier auf dem Lower Class Mag. Wir bedanken uns vielmals für das Recht zur Übernahme.