Der Sprengstoff unserer Zeit: Wenn Jüngere glauben, weniger Zukunft zu haben als Ältere

Im Oktober 2023 veröffentlichte die Otto-Brenner-Stiftung die Studie „Auf der Suche nach Halt“. Sie befasst sich mit der Frage, wie sich die aktuelle gesellschaftliche Krisenentwicklung auf die Nachwende-Generation in Ost und West auswirkt.

Die Studie gibt einen feinsinnigen Einblick in das Krisenerleben der Menschen. Sie arbeitet dabei die destruktive Wucht heraus, der viele seit der Corona-Pandemie ausgesetzt sind. Dabei wird klar: In der von vielen empfundenen Dauerkrise treffen eine aufgestaute Unzufriedenheit und das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit ungebremst aufeinander. Wenn junge Erwachsene glauben, dass sie weniger Zukunft haben als die ältere Generation, obgleich sie faktisch doch die meiste Lebenszeit vor sich haben, dann birgt das ein gesellschaftliches Eruptionspotential, das politisch handelnde Akteure wie Parteien oder Gewerkschaften nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern bei Strategiebildung und Entscheidungsfindung berücksichtigen müssen.

Gesellschaftliche Krisensituation

Der Studie gelingt es, anschaulich herauszuarbeiten, wie sehr sich die gesellschaftliche Krisensituation mental verfestigt hat. Ein eklatantes Krisenempfinden geht inzwischen bei vielen mit dem Verlust von Gewissheiten einher. Längst gibt es auf vermeintliche Sicherheiten keine Garantien mehr. Zuvor Unvorstellbares wie Pandemien, die ganze Gesellschaften lahmlegen, oder Kriege, die nicht mehr nur am anderen Ende der Welt, sondern inzwischen in unmittelbarer Nachbarschaft stattfinden, ist plötzlich zur Realität geworden. Zusätzlich führen die Erfahrung von Energieknappheit, Inflationsentwicklung, wirtschaftlicher Stagnation und Klimakrise zu Existenzängsten.

Die auf Dauer gestellte Krise geht für viele mit dem Gefühl der Machtlosigkeit einher. Bereits aus früheren Studien wissen wir: 74,5 Prozent der Menschen sind der Meinung, dass sie keinen Einfluss auf die Politik haben. In Ostdeutschland sind es sogar 81 Prozent. Doch wenn Krisenkonstellationen zunehmen und zugleich individuelle Ohnmachtsgefühle steigen, dann hat das negative Auswirkungen auf das individuelle Lebensgefühl. Und tatsächlich: Die Zuversicht in die eigene Zukunft und das Vertrauen in die gesellschaftliche Stabilität schwinden unter den beschriebenen Rahmenbedingungen. Waren 2019 noch drei von vier Jugendlichen zwischen 16 und 23 Jahren mit dem „Funktionieren der Demokratie“ zufrieden, sind es 2022 nicht einmal mehr die Hälfte. Dabei sind ostdeutschen Jugendliche noch seltener zufrieden als gleichaltrige Westdeutsche – fast zwei Drittel fühlen sich von „der Politik“ vernachlässigt. Dass die AfD in Ostdeutschland die stärkste politische Kraft in der Altersgruppe unter 30 Jahren ist, dürfte mit dieser Entwicklung zu tun haben.

Zuversicht und Zukunftsoptimismus

Am Anfang dieser Krisenbestandsaufnahme steht fraglos die Corona-Pandemie. Bis dato schaute die Nachwende-Generation optimistisch in die eigene Zukunft – das galt für Ost und West gleichermaßen. Mit Beginn der Pandemie jedoch setzte ein Prozess ein, der die Grundvoraussetzungen für ein gutes Leben sukzessive in Frage stellte: Wie ein riesiger Scheinwerfer leuchtete die Pandemie das seit Jahrzehnten bestehenden Infrastrukturdefizits aus. Dennoch blieben die notwendigen Investitionen in Schulen, Universitäten, ÖPNV und Gesundheitssystem, kurz: in all die Bereiche, die die gesellschaftliche Krisenresilienz hätten stärken können, aus. Begleitet wurde diese Situation zudem von der individuellen Sorge vor weiteren Verschlechterungen, bis hin zum wirtschaftlichen Abschwung, der auch auf das eigene Leben durchschlagen könnte.

Diese Atmosphäre von Sorgen und Ungewissheiten animiert mittlerweile viele Menschen zu einer Suche nach Schutzstrategien, die zu mehr Stabilität und Sicherheit führen sollen: der Rückzug ins Private, die Suche nach dem Ausbildungs- und Studienplatz, die Finanzierung von Bildung, Familiengründung, beruflicher Aufstieg, Ersparnisse, das Streben nach einem Eigenheim. All dies wird zur individuell beeinflussbaren Gegenstrategie gegenüber dem Gefühl der gesellschaftlich herbeigeführten Schutzlosigkeit. Wenn die Maßnahmen gegen den Klimawandel, der Ausbau des Katastrophenschutzes, die Vermeidung von Versorgungsengpässen oder die Vorsorge vor Extremereignissen aufgrund von politischer Unterlassung oder falscher Schwerpunktsetzung ausbleiben, dann muss der Schutz in die eigene Hand genommen werden.

Doch je stärker diese individuellen Strategien auf die strukturellen Hürden der kaputt gesparten Gesellschaft treffen, desto mehr verdichten sie sich zu Leistungs- und Konkurrenzdruck. Knapper Wohnraum und Mietkosten, die schneller steigen als die eigenen Einkommen, vergrößern die individuelle Schutzlosigkeit. Eine Betreuungssituation in den Kitas, auf die sich junge Eltern heute nicht mehr verlassen können, erweist sich als große familiäre Belastungsprobe. Steigende Energie-, Sprit- und Lebensmittelpreise verengen finanzielle Spielräume. Angesichts dieser Entwicklungen werden der Krieg in der Ukraine, der fortschreitende Klimawandel, Künstliche Intelligenz, demographischer Wandel oder Fachkräftemangel zu einem anstrengenden Hintergrundrauschen – vordergründige Herausforderung bleibt die Bewältigung des Alltags.

Vertrauen in Politik und Demokratie

Dieser Widerspruch zwischen dem Gefühl der Schutzlosigkeit einerseits und der individuellen Suche nach Stabilität sowie erschöpften gesellschaftlichen Strukturen andererseits führt zu einer spürbaren Krisenmüdigkeit, die zunehmend in Überforderung und Unzufriedenheit ihren Ausdruck findet. Je stärker dabei die Notwendigkeit wird, im Angesicht von Krisenhäufigkeit und -intensivität die sozialen Sicherungssysteme zu stärken und je mehr sich „die Politik“ als unfähig erweist, genau dies zu tun, desto stärker leidet darunter das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Strukturen.

Nicht zufällig also blicken diejenigen, die sich den Krisenentwicklungen schutzlos ausgesetzt sehen, negativ auf die gesamtgesellschaftliche Zukunft. Aus dem gebrochenen Versprechen, dass es zukünftigen Generationen einmal besser gehen wird, lassen sich weder eine positive Zukunftserzählung noch gesellschaftliche Zuversicht generieren. Im Ergebnis dieser Entwicklung assoziiert die Nachwendegeneration mit Politik etwas Negatives. Viele der Befragten berichten von spürbaren Vertrauensverlusten. Sie zeigen sich politisch enttäuscht, teils sogar verdrossen. Während sich insbesondere junge Erwachsene oftmals übersehen und vergessen fühlen, heißt es über Parteien und Politiker, sie seien durch Vetternwirtschaft und Lobbyismus beeinflusst. Reale Erfahrungen der Ungleichbehandlung verdichten sich zu einem ausgewachsenen Vertrauensverlust in die Politik bis hin zu einem vollständigen Ablösungsprozess vom Glauben an die Regulierungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie. So haben nicht wenige Sorge, dass die gesellschaftliche Stimmung kippen könnte, ohne konkret definieren zu können, was das genau bedeutet. Andere äußern fast schon den Wunsch nach einem gesellschaftlichen „Knall“, den sie als Befreiungsschlag aus der angespannten Situation empfinden würden, der aber ebenfalls undefiniert bleibt.

Fazit

Die OBS-Studie gibt einen unverstellten Blick auf den tief sitzenden sozialen Sprengstoff der komplexen gesellschaftlichen Krisensituation aus Klimawandel, Krieg und sozialer Polarisierung. Weil Menschen erfahren, dass sie im Unterschied zu anderen zu kurz kommen, grenzen sie sich zum Teil nach unten ab und verarbeiten ihre Unzufriedenheit autoritär. Hinzu kommt das Fehlen von Selbstwirksamkeitserfahrungen, also Streiks, Bürgerinitiativen, Sozialproteste – Erfahrungen, in denen die Menschen spüren, dass Einflussnahme möglich ist, und an dieser Erfahrung wachsen. Ihr Fehlen führt dazu, dass viele Menschen politische Beteiligung auf Wahlen reduzieren. Je weniger politische Entscheidungen zur Stabilisierung von Lebensentwürfen beitragen, desto mehr assoziieren die Menschen mit Politik ein Gefühl von Machtlosigkeit. Nicht zufällig äußern die Befragten, Politik habe Einfluss auf ihr Leben, aber sie haben keinen Einfluss auf Politik. Politik scheint zur Fremd- statt zur Mitbestimmung geworden zu sein.

Im Kern besteht die gesellschaftliche Wucht also in einer aufgestauten Unzufriedenheit, die begleitet wird durch das wachsende Gefühl der eigenen Machtlosigkeit. Daraus erwachsen große Belastungen für jeden einzelnen, aber auch für das Fundament unserer Gesellschaft. Moderne Demokratien müssen eine positive Zukunft in Aussicht stellen können, denn es gab und gibt keine Demokratie ohne ein solches Versprechen, so das Fazit der Studie.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie fatal es war, nach 1990 das Zusammenwachsen zwischen Ost und West vorrangig als idealistischen Prozess zu organisieren. Appelle an die gemeinsamen Werte sollten den Einigungsprozess beschleunigen, während die materielle Basis, auf der Alltagserfahrungen gemacht und Zukunftsperspektiven versprochen wurden, sukzessive abgetragen wurde. Der Strukturbruch in Ostdeutschland nach 1989, der aus der Zerschlagung betrieblicher Strukturen, der Zerstörung sozialer Sicherheiten und der Missachtung betrieblicher Mitbestimmung bestand, hat sich als tönender Boden für die Stabilisierung der Nachwende-Demokratie in der gesamten Bundesrepublik erwiesen. Mehr noch: Er hat sich im Klangbecken weiterer gesellschaftlicher Unwägbarkeiten zu gesamtgesellschaftlichen Schwingungen von besorgniserregender Tragweite verstetigt. Politische Akteure wie Parteien, Gewerkschaften, aber auch soziale Bewegungen, die in gesellschaftliche Prozesse verändernd eingreifen wollen, sind gut beraten, diese wirklich herausragende Studie der Otto-Brenner-Stiftung, „Auf der Suche nach Halt“, sorgfältig zu lesen und für die eigenen Strategieüberlegungen zu berücksichtigen.

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