© Claudio Feliziani

Wir müssen über Zionismus reden oder Falsche Vorstellungen über den Zionismus

Unterhaltung mit Pierre Stambul, Sprecher der Union Juive Francaise pour la Paix (Jüdisch Französische Union für Frieden).

Geboren im Frankreich der Nachkriegszeit in einer aschkenasischen Familie, ein großer Teil der Familie seiner Mutter kam in den Konzentrationslagern der Nazis um. Sein Vater war ein Aktivist der Gruppe Manuchian, der den bewaffneten Widerstand im nationalsozialistischen Frankreich führte. 1967, im Alter von 16 Jahren, reist er nach Israel, erlebt die Erfahrung des Kibbuz und berührt die Realität der Besatzung und des zionistischen Kolonialprojekts, von dem er sich zu distanzieren begann. Bis heute hat er zahlreiche Bücher geschrieben, in denen er den Zionismus kritisiert. Sein „Contre l’antisémitisme et pour le droits du peuple palestinien“ wurde 2023 unter dem Titel „Gegen den Antisemitismus und für die Rechte des palästinensischen Volkes“ auf Deutsch im Verlag Buchmacherei veröffentlicht.

Frage: Weltweit werden Milliarden für Think-Tanks und Medienorgane ausgegeben (mehr Bezug in diesem Video), um die allgemeine Überzeugung zu nähren, dass der Zionismus eine Ideologie ist, die mit der Emanzipation des jüdischen Volkes verbunden ist, dass nur die Eroberung eines eigenen Staates für sich selbst es ihm ermöglichen könne in Sicherheit zu leben und sich endlich von der Verfolgung zu befreien, die es seit Jahrhunderten im christlichen Europa erlitten hat. Inwieweit entspricht diese Vision der Realität?

Pierre Stambul: Der Zionismus ist eine Antwort auf den Antisemitismus (der am Ende des 19. Jahrhunderts in Europa hegemonial war), aber es ist die schlechteste aller Antworten.

Es ist eine Theorie der Trennung, die verkündet, dass Juden und Nicht-Juden nicht zusammenleben können, weder im Herkunftsland noch in dem zu errichtenden jüdischen Staat. Es ist ein mörderischer Nationalroman, der behauptet, dass die Juden nach 2000 Jahren Exil in ihre Heimat zurückkehren. In Wirklichkeit sind die Juden Nachkommen von Konvertiten aus verschiedenen Regionen und Epochen… und die Nachkommen der Judäer aus der Antike sind im Wesentlichen die Palästinenser*innen.

Es ist der besondere Kolonialismus, der nicht darauf abzielt die einheimische Bevölkerung auszubeuten, sondern sie zu vertreiben und zu ersetzen.

Es ist ein Nationalismus, der das Volk, die Sprache und das Land erfunden hat. „Jüdisches Volk“ ist ein religiöser Begriff. Die verschiedenen Völker jüdischer Religion hatten ihre Sprache, aber es war nicht Hebräisch. Für religiöse Juden war die „Rückkehr“ ins Heilige Land verboten, solange der Messias nicht gekommen war und für die säkularen Juden hatte die Emanzipation dort wo sie lebten Vorrang.

Schließlich stützte sich der Zionismus auf alle europäischen Antisemiten mit der gemeinsamen Idee, dass die Juden Europa verlassen sollten. Das hatte nichts mit Emanzipation zu tun und die Zionisten sollten bis 1940 eine (sehr) kleine Minderheit im Judentum sein. Diese Ideologie beinhaltete von Anfang an die Planung der ethnischen Säuberung von 1948.

Lass uns über die herrschende Definition von Antisemitismus durch die IHRA sprechen, die Kritik an dem Staat Israel mit Antisemitismus gleichstellt. Es ist mittlerweile offensichtlich wie sie als Instrument zur Unterdrückung der Grundrechte der palästinensischen Diaspora und von jeder demokratischen Opposition gegen das zionistische Projekt in Europa und der ganzen Welt verwendet wird.

Diese Definition ist eine Schandtat. Christlicher Antijudaismus, Rassenantisemitismus und der nationalsozialistische Völkermord sind europäische Verbrechen. Die arabische Welt und die Palästinenser*innen haben mit diesen Verbrechen nichts zu tun. Israel hat kein Recht, diese Erinnerung an die Verfolgung zu nutzen. Der jüdische Widerstand gegen den Nationalsozialismus war im Wesentlichen kommunistisch oder bundistisch (der Bund war eine jüdische revolutionäre Partei in Osteuropa). Die heutigen Führer Israels berufen sich auf die „revisionistischen“ Zionisten. Der Gründer dieser Strömung, Vladimir Jabotinsky, war ein Faschist und Bewunderer Mussolinis. Seine Miliz, die Betar, wurde Ende der 1930er Jahre im faschistischen Italien trainiert. Netanjahus Vater war Jabotinskys Sekretär. Die Ideen und Methoden der heutigen israelischen Führung stehen denen, die den Nazi-Völkermord durchführten, unendlich viel näher als denen, die ihn erlitten. Und heute unterstützt die gesamte rassistische und sogar antisemitische extreme Rechte Israel. Der Siedlungsbau wurde von zionistischen Christen finanziert, die Antisemiten sind.

Einen rassistischen, kolonialistischen Staat, der Völkermord begeht zu kritisieren hat also natürlich nichts mit Antisemitismus zu tun.

Wollen wir über die Schäden und die Mystifizierungen dieser Projektion des IHRA-Konzepts von Antisemitismus aus Europa auf den Nahen Osten reden und über den Versuch das Bewusstsein des zionistischen Kolonialprojekts in Palästina aus dem öffentlichen Diskurs auszulöschen?

Der Versuch die Unterstützung für die Rechte des palästinensischen Volkes zu kriminalisieren hat nichts mit dem Kampf gegen Antisemitismus zu tun. Die Palästinenser*innen waren schon immer die Hüter der heiligen Stätten der drei monotheistischen Religionen. Und diese lebten bis zur Ankunft der ersten zionistischen Siedler in gutem Einvernehmen. Der Antisemitismus ist eine europäische Geschichte. Bei meinen Reisen ins Westjordanland und nach Gaza habe ich mich immer als „Union Juive Francaise pour la Paix“ (Französische Jüdische Union für den Frieden) vorgestellt und die einhellige Antwort war immer: „Wir sind gegen die Besatzung, wir haben nichts gegen die Juden“.

Die bedingungslose Unterstützung der westlichen Politiker für die Völkermörder der israelischen Regierung hat nichts mit irgendeiner Schuld zu tun. Der Westen unterstützt Israel, weil es ihr Staat ist. Es ist ein Beispiel für koloniale Rückeroberung. Israel zeigt, wie man eine als gefährlich geltende Bevölkerung überwachen, sie einsperren und massakrieren kann. Das Land ist ein technologisches Start-up, das die modernsten Waffen herstellt und sie mit dem Argument verkauft: „Diese Waffen sind hervorragend, wir haben sie gegen die Palästinenser erprobt“. Israel gibt das Beispiel für eine erfolgreiche extreme Unterdrückung. Jegliches Nachdenken darüber, was Kolonialismus oder Suprematismus ist, fehlt im Verhalten der westlichen Politiker und der Mainstream-Medien.

Ich möchte auf jeden Fall das Risiko einer Vereinfachung vermeiden, aber ich möchte dich fragen, in welchen Verhältnis du die historischen Wurzeln des Zionismus mit den Rassentheorien und den aggressiven Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts siehst?

Der Zionismus ist eine Ideologie, die in Europa entstanden ist und von Europäern ausgearbeitet wurde. Das späte 19. Jahrhundert war eine Zeit, in der Europa die Welt beherrschte. Da es nicht in Frage kam den Reichtum zu teilen, trugen Intellektuelle dazu bei rassistische Theorien zu entwickeln indem sie den Begriff der Rassen erfanden.

Die minderwertigen Rassen sollten der Schwarze, der Indianer und der Araber in der kolonisierten Welt sein, und es sollten der Jude und der Zigeuner in Europa sein. Das Wort „Antisemit“ ist übrigens ein Wort des Feindes (geprägt von Wilhelm Marr, einem der ersten rassistischen Intellektuellen), denn Arier oder Semiten sind ein mörderischer Mythos.

Die Nationalismen, die zu dieser Zeit in Europa aus dem Zerfall des russischen, österreichischen und osmanischen Reiches hervorgingen waren alle antisemitisch und schlugen das Modell eines ethnisch reinen Staates vor. Diese Nationalismen führten zu den beiden Weltkriegen und dem Völkermord durch die Nazis. Der Zionismus kopierte das Modell dieser Nationalismen vollständig und fügte die Tatsache hinzu, dass es in Europa keinen Ort gab an dem die Juden mehr als 10% der Bevölkerung ausmachten. Dieser Nationalismus ging also mit einer kolonialen Eroberung einher. Der Kolonialismus war damals eine weitgehend hegemoniale Erfindung in Europa, auch in der Linken. Also ja, der zionistische Nationalismus und Kolonialismus sind aus dem imperialen Europa hervorgegangen. Diese Ideologie hat zum Faschismus geführt. Wir haben so getan, als ob wir das nicht gesehen hätten…

Um zur Gegenwart zu kommen (und auch einen Blick in die Zukunft zu werfen). Es ist unbestreitbar, dass die zionistische Ideologie historische Fakten auf dem Feld produziert hat. Es gibt bereits Generationen von Israelis die in der zionistischen Normalität gelebt haben, die heute ihre extremen Folgen erreicht. Ist es nicht auch heute dringend und notwendig, in Erwartung und in der Hoffnung auf das Scheitern dieses völkermörderischen Projekts, zu versuchen eine Vision einer Zukunft für diese Region jenseits des Zionismus zu entwerfen?

Das israelische Volk existierte vor dem Zionismus nicht und Israel entstand aus einer vorsätzlichen ethnischen Säuberung. In diesem Sinne ist der Staat Israel illegitim und hat nie aufgehört gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Aber eine ethnische Säuberung lässt sich nicht durch eine andere ethnische Säuberung wiedergutmachen.

Was hat den weißen Südafrikanern erlaubt zu bleiben? Das Ende der Apartheid oder die Aufrechterhaltung der Apartheid? Natürlich war es ihre Zustimmung zur Beendigung der Apartheid. Was hat dazu geführt, dass die Algerienfranzosen und die Juden (die Einheimische und keine Siedler waren) größtenteils das Land verlassen mussten? Dass sie die Unabhängigkeit akzeptiert haben und ihren Platz in einem unabhängigen Algerien suchen konnten? Nein, es ist die Tatsache gewesen, dass Frankreich die Unabhängigkeit durch die OAS bis zum Ende bekämpft hat (die Organisation de l’Armée Secrète war eine faschistische Gruppe, die zahlreiche Verbrechen begangen hat).

In Israel ist das Äquivalent der OAS an der Macht. Sie sind nicht nur Völkermörder. Aus jüdischer Sicht ist der Zionismus absolut selbstmörderisch. Niemand kann glauben, dass dieses Morden ewig andauern wird. Der einzige Ausweg aus diesem Krieg ist die Anwendung des Völkerrechts für das palästinensische Volk:

– Freiheit (Ende der Besatzung und der Kolonisierung, Zerstörung der Mauer, Ende der Blockade des Gazastreifens, Freilassung der Gefangenen).

– Gleiche politische und wirtschaftliche Rechte für alle Menschen in der Region, unabhängig von ihrer Identität, Herkunft, Religion oder Nicht-Religion.

– Gerechtigkeit: Da das Gründungsverbrechen die vorsätzliche Vertreibung der Palästinenser-Innen ist, bedeutet dies das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr. Es geht auch um die Verurteilung von Kriegsverbrechern.

Wiederbelebung des Völkerrechts, indem es zur Grundlage jeder Lösung gemacht wird, das ist die einzige Lösung. All dies bedeutet natürlich das Ende des jüdischen Staates und des Zionismus. Es gibt keine Alternative zum „Zusammenleben in Gleichberechtigung“. Weder dort, noch hier.

Ein Beitrag von Claudio Feliziani, Filmemacher und Bauhandwerker

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