Eine wichtige Dimension, in der sich die Machtverhältnisse zwischen globalem Norden und globalem Süden materiell ausdrücken, sind grenzüberschreitende Lieferketten. Gemeint sind damit nicht einfach internationale Handelsströme von Waren, sondern das Aufsplitten der Produktion einer Ware in verschiedene Stufen, die zwischen verschiedenen Ländern stattfindet.
Streng genommen gibt es globale Lieferketten, seit es Handel gibt. Doch erst im Zuge der Industrialisierung wurden sie systematisiert. Die industrielle Revolution in Großbritannien beispielsweise ist ohne den billigen Import der indischen Baumwolle und den Export von Textilprodukten nicht zu denken. Seit den 1980er Jahren drückt sich der neoliberale Kapitalismus wesentlich in der Globalisierung von Lieferketten aus, vorangetrieben von Konzernen aus dem Norden. Dabei lassen sich zwei Formen unterscheiden:
- Einzelhandelskonzerne haben seit den 1990er Jahren in nie gekanntem Maße Kontrolle über ihre Zulieferketten erlangt. IT-Technologien haben die Rückverfolgbarkeit von Produkten, die, sagen wir, im Supermarktregal landen, erheblich vereinfacht. Fortschritte im Transportwesen haben die just-in-time Lieferung möglich gemacht. Profitiert haben vor allem die großen Handelskonzerne, die ihre Bezugssysteme flexibilisiert haben. Dies erzeugt ständigen Preisdruck innerhalb dieser grenzüberschreitenden Zulieferketten. Es setzt die Zulieferer im globalen Süden in scharfen Wettbewerb zueinander, und erzeugt den permanenten Zwang, Kosten zu senken.
- Industriekonzerne haben erhebliche Teile der materiellen Produktion aus dem globalen Norden, wo die Arbeit verhältnismäßig teuer ist, in den globalen Süden mit relativ geringen Arbeitskosten verlagert. Oft werden im Stammland des, sagen wir, Automobilkonzerns, nur noch die finalen Arbeitsschritte durchgeführt. Auch in diesen Ketten stehen die Zulieferkonzerne im globalen Süden in scharfer Konkurrenz zueinander. Zudem wird das Outsourcing von Arbeit in Länder des globalen Südens von Industriekonzernen als Drohung aufrechterhalten, um Lohnsenkungen durchzudrücken.
Ein erheblicher Teil dessen, was gemeinhin als „Welthandel“ oder „internationaler Handel“ bezeichnet wird, findet innerhalb dieser Lieferketten statt. Als die USA mit der EU über TTIP verhandelte, lobbyierten Konzerne wie Nestlé und andere auf beiden Seiten des Atlantiks die Verhandlenden. Wenn wir also im 21. Jahrhundert über Ausbeutung diskutieren, dann reicht es nicht aus, auf die Arbeitsbeziehung zwischen einem Konzern und den bei ihm unmittelbar Angestellten zu blicken. Wenn wir das Geschäftsmodell von Konzernen wie VW, LIDL oder H&M verstehen wollen, müssen wir auch die Arbeitskraft in den Blick nehmen, die sich diese Konzerne indirekt über ihre Zulieferketten aneignen.
Lieferketten reproduzieren Armut
Oft werden globale Lieferketten als Weg aus der Armut dargestellt. Arbeiterinnen und Arbeiter, so heißt es, würden in der Produktion für globale Lieferketten höhere Löhne bekommen und bessere Arbeitsbedingungen vorfinden als in der Produktion für den heimischen Markt oder im Vergleich zu Joblosigkeit, die ihnen drohe. Dieses Argument ist insofern naiv, als dass es den oben genannten permanenten Preisdruck innerhalb der Lieferketten ausklammert. Ich will dazu zwei konkrete Beispiele nennen:
Spätestens seit dem 2013 in Bangladesch die Textilfabrik Rana Plaza zusammenbrach und dabei über 1100 Näherinnen und Näher ums Leben kamen sowie weitere 2500 verletzt wurden, sind die schrecklichen Arbeitsbedingungen im Textilsektor hierzulande bekannt. Doch sind nicht nur die Arbeitsbedingungen schrecklich, sondern auch die Löhne extrem niedrig. John Pickles hat gezeigt, dass die realen Löhne in der Textilproduktion seit Mitte der 2000er Jahre unter das notwendige Existenzminimum gedrückt wurden und auch heutzutage nur ca. 20 Prozent eines notwendigen existenzsichernden Einkommens ausmachen. Diverse Nachhaltigkeitslabel ändern an dieser fundamentalen Ausbeutungsstruktur nichts.
Ein anderes Beispiel ist der globale Markt für Orangen und Saftkonzentrat: Einem Produzenten in Brasilien bleiben von dem Liter Orangensaft, der im Supermarktregal in Deutschland 90 Cent kostet, gerade einmal 20 Cent, um die eigenen Kosten zu decken und Profite zu erwirtschaften. Weitergegeben wird der Preisdruck an die Pflückerinnen und Pflücker. Nicht einmal jeder vierte der 238.000 Arbeitenden in der Kernexportregion Sao Paulo hat einen festen Arbeitsvertrag. Frauen werden bei Schwangerschaft entlassen, Schutzkleidung wird nur in Ausnahmen gestellt, Arbeitsunfälle und Vergiftungen sind an der Tagesordnung. Vergleichbar ist die Situation in Südafrika, einer der führenden Exporteure von Orangen. Auch hier stehen die Produzenten unter Preisdruck. Die Arbeitenden auf den Orangenplantagen im Ostkap des Landes erhalten umgerechnet 1,10 Euro pro Stunde, was unter dem allgemeinen nationalen Mindestlohn liegt, und haben meist keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Sie erhalten von den Farmen keine Schutzkleidung und setzen oft das hochgiftige Pestizid Paraquat ein, das in der EU verboten ist. Zugleich produzieren sie Orangen höchster Qualität, die in England und Deutschland in den Supermarktregalen landen.
Diese Beispiele machen deutlich, was der Wissenschaftler Benjamin Selwyn meint, wenn er von „Globalen Armutsketten“ spricht. Armut wird reproduziert. Das schließt nicht aus, dass die Arbeitsbedingungen auf Plantagen für den Export ein kleines bisschen besser sind als die Plantagen, die zu niedrigeren Preisen für den heimischen Markt produzieren. Oder dass es zusätzlich zum festgelegten Akkordlohn am Ende des Jahres noch einen kleinen finanziellen Bonus gibt. Entscheidend ist aber: Der Löwenanteil des Profits bleibt nicht bei den Textilfabriken oder Plantagenunternehmen am Anfang der Lieferkette, die durch geringe Löhne und Disziplinierung die Kosten niedrig halten, sondern am Ende der Kette bei den Konzernen, die die Ketten kontrollieren und sie bei jeder Möglichkeit, die eigene Beschaffung zu optimieren auch umstrukturieren. Billige Arbeit, die in der Regel deutlich unter einem existenzsichernden Lohn liegt, ist es notwendig, um für „den Weltmarkt“ in Gestalt des jeweilig marktbestimmenden Konzerns zu produzieren. Um diese Ausbeutung zu verschleiern, wird erheblich in Nachhaltigkeitslabel investiert. Die angesprochenen Zitrusplantagen im Ostkap in Südafrika sind nach dem Standard von GLOBALGAP zertifiziert, den ein Konsortium westlicher Supermarktkonzerne entwickelt hat. GlobalGAP soll eine nachhaltige Produktion sicherstellen. Eine gewerkschaftliche Organisierung der Arbeitenden aber wird von den weißen Farmern aktiv verhindert.
Ansatzpunkte für eine linke Politik
Linke Politik muss zum Ziel haben, Ausbeutungsstrukturen in globalen Lieferketten zu überwinden. Dazu wäre es nötig, globale Lieferketten grundlegend umzubauen, Konzerne zu entflechten und gegebenenfalls zu vergesellschaften. Solange dies aber im gegenwärtigen Kapitalismus nicht absehbar ist, müssen wir nach konkreten Ansatzpunkten fragen. Natürlich ist vor Ort, in jeder Textilfabrik und auf jeder Plantage, die gewerkschaftliche Organisierung entscheidend, ebenso wie die Durchsetzung und Erweiterung von geltendem Arbeitsrecht von staatlicher Seite. Doch wie gehen wir mit der Konzernmacht innerhalb der Lieferketten um?
Unabdingbar ist die Organisierung von Solidarität, vor allem gewerkschaftlicher Solidarität, entlang globaler Lieferketten. Gewerkschaften und verbündete Akteure müssen sich vernetzen und gemeinsam Strategien entwickeln an welcher Stelle der Lieferkette Druck aufgebaut werden kann. Solche Initiativen sind nicht neu. Die IG Metall beispielsweise tauscht sich eng mit Betriebsräten etwa in Mexiko und Südafrika im Automobilsektor aus. Globale Gewerkschaftsverbände wie der Internationale Verband der Arbeitenden im Agrar, Nahrungsmittel und Hotelgewerbe, IUF, verbinden Gewerkschaften entlang von Lieferketten. Doch sind Beispiele der systematischen, strategischen Vernetzung entlang von Lieferketten eher die Ausnahme als die Regel.
Es gibt aktuell mehrere Politikprozesse, die eine gesetzliche Verankerung von sogenannte Sorgfaltspflichten von transnational agierenden Konzernen zum Ziel haben. Im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verhandeln Vertreterinnen und Vertreter von Staaten über einen „UN Treaty“ zur Regulierung von transnationalen Unternehmen auf menschenrechtlicher Basis. Interessant ist, dass vor kurzem ein Gesetzesentwurf des Bundesentwicklungsministeriums geleakt wurde, der Sorgfaltspflichten für deutsche Unternehmen verbindlich festschreiben will. Auch wenn dieser Entwurf eher als ein typisches Linksblinken des CSU Ministers Müller zu deuten ist, so eröffnen sich hier doch Räume, die die Linke stärker besetzten muss. Idealerweise sollten nicht nur Regeln der menschenrechtlichen Sorgfalt festgeschrieben, sondern Unternehmen auch verpflichtet werden, Herkunft ihrer Produkte und die Preisgestaltung offenzulegen. Unabdingbar ist zudem eine Haftbarmachung von Konzernen, wenn sie gegen die definierten Sorgfaltspflichten verstoßen.
Drittens braucht es linke Konzepte für eine Strukturpolitik und eine aktive Preispolitik, die eine Verschiebung von Marktmacht und Preismargen entlang der Lieferketten ermöglicht. Ein positives Beispiel stellt beispielsweise eine neue Initiative der Regierungen aus Ghana und der Elfenbeinküste im Kakaosektor dar. Die beiden Länder produzieren gemeinsam 60 Prozent des Kakaos weltweit. Ende vergangenen Jahres haben sie erstmals die Rohstoffpreise für Kakao abgesprochen und planen zudem, gemeinsam einen garantierten Mindestpreis für Kakaobauern und -bäuerinnen einzuführen.
Ben Luig arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu Ernährungssouveränität