Der Ukraine-Krieg ist der Katalysator des neuen deutschen Militarismus. Damit die BRD sich eine aktivere Rolle in der Sicherheitspolitik aneignen konnte, musste sie aber erst einen neuen Zugang zu ihren Verbrechen finden.
Annalena Baerbock wird mit lautem Klatschen begrüßt. Die Delegierten des Bundesparteitags der Grünen im Oktober 2022 geben Standing Ovations. Sie erwidert mit einem Lächeln, dann wird ihre Miene blitzschnell ernst. Sie reise nun viel, eine Erfahrung davon würde sie gerne mitteilen. Sie berichtet von einem Treffen mit einer Überlebenden des Warschauer Aufstands. Die Botschaft: aus der Geschichte Lehren ziehen, Verantwortung übernehmen, Katastrophen verhindern. Baerbock möchte damit Waffenlieferungen, das Säbelrasseln und die fortschreitende Militarisierung rechtfertigen. Sie weiß, dass sie mit einem Bezug zur deutschen Geschichte immer einen Nerv trifft. Die Nachkommen einer Täter:innen-Gesellschaft möchten endlich auf der „guten Seite“ der Geschichte stehen. Es ist ein Phänomen, was zeitgleich mit der Diskussion um deutsche Beteiligung an Kriegseinsätzen, einsetzte. Wurde früher die deutsche Zurückhaltung mit den deutschen Angriffskriegen und Völkermorden begründet, dreht man es jetzt um. Deutscher Erfindungsgeist. Begangene Verbrechen werden nützliche Instrumente.
Dass eine Außenministerin damit so unbefangen auftreten kann, brauchte Vorlauf. Seit der Wiederbewaffnung der BRD versuchten stets verschiedene politische Strömungen, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu „normalisieren“. In der Strömung der Normalisierung bedeutete das, die BRD solle ein „verlässlicher Partner“ werden oder „Bündnissolidarität“ erweisen. Sie solle als gereifte Demokratie „Verantwortung übernehmen“ und „Sonderwege“ vermeiden. Sie scheiterte aber an der Strömung der „Zurückhaltung“. Ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit betrachtete die außenpolitische Zurückhaltung als positiven Lernerfolg aus dem Zweiten Weltkrieg. Die „Zurückhaltung“ verwies auf die moralische Verantwortung, militärische Mittel abzulehnen. Sie war im Kontext der Bundespolitik keineswegs antifaschistisch, doch sie war im außenpolitischen Sinne zum größten Teil antimilitaristisch.
Positionsverschiebung
Die Verhältnisse zwischen den beiden Lagern änderte sich in den frühen 90er Jahren. Es war vor allem die Debatte um eine mögliche Beteiligung der Bundeswehr im zweiten Golf-Krieg (1990–91) und der tatsächlichen Beteiligung der Bundeswehr an UN-Missionen in Kambodscha und Somalia, die die Strömung der Zurückhaltung aufweichte. Der Krieg gegen den Irak wurde mit finanziellen Mitteln aus der BRD versorgt. Die UN-Missionen 1991 und `92 erfolgten noch ohne Beschluss durch den Bundestag.
Genau aus diesem Grund wandten sich FDP und SPD 1994 an das Bundesverfassungsgericht. Die sogenannte „Out-of-Area“-Debatte (die Frage, ob deutsche Soldaten auch außerhalb des NATO-Gebiets zum Einsatz kommen dürfen) sollte juristische Klarheit schaffen. Im selben Jahr billigte das Gericht Auslandseinsätze – vorausgesetzt der Bundestag stimme den Einsätzen vorher zu. Ausgestattet mit neuen Tatsachen, wurde für viele aus einer unbedingten Zurückhaltung eine bedingte. Für die Mehrheit in der FDP, einen großen Teil der CDU/CSU und einigen in der SPD hieß es nun, Deutschland fähig für Auslandseinsätze zu machen.
1994 kommentierte Außenminister Klaus Kinkel (FDP) – der Vorgänger Joschka Fischers – dieses Urteil im Bundestag so: „Gerade, weil Deutschland in der Vergangenheit den Frieden gebrochen hat, ist es moralisch-ethisch verpflichtet, sich an der Verteidigung des Friedens jetzt mit ganzer Kraft zu beteiligen.“ Beifall von der Regierungsbank und ordnungsgemäße Zustimmung der Regierungsfraktionen. Es wird sich auf die Schulter geklopft: Die Sicherheitspolitik der BRD erfand sich neu. Sie sollte endlich „Verantwortung“ übernehmen.
Joschka Fischer und der Jugoslawienkrieg
Sprung in den Mai 1999: Joschka Fischer tritt ans Rednerpult des Sonderparteitags der Grünen in Bielefeld. Der Saal tobt. Sein Jackett ist noch gezeichnet vom roten Farbbeutel, der ihn zuvor traf. Gegen Pfiffe und Zwischenrufe ankämpfend, formuliert er hier den prägenden Satz, der den Pazifismus der Grünen zerschmetterte: „[…] Ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz […]“.
Es ist nicht die Aussage an sich, die es zu kritisieren gilt. Es ist der Hintergrund, vor dem sie getätigt wurde. Am 24. März 1999 beteiligte sich die deutsche Luftwaffe an Luftschlägen der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Es war der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr seit ihrer Gründung 1955. Im Vorfeld behaupteten deutsche Politiker:innen, es gäbe Konzentrationslager und Massenerschießungen im Kosovo. Als Vertreter einer „bedingten Zurückhaltung“ griff Fischer das Argumentationsmuster von Kinkel auf, das in den 90er Jahren immer populärer wurde. Fischer ging aber weiter.
Nie wieder Krieg
In Kinkels Verständnis war die Ableitung aus „Nie wieder Krieg!“ klar: Der Frieden solle durch Kriegseinsätze gesichert werden. Auch von Deutschland, denn es kenne sich mit Katastrophen des Militarismus aus. Aber Fischer ging nicht wie Kinkel nur auf das kriegstreibende Deutschland ein. Nicht nur der Frieden solle durch Kriegseinsätze gesichert werden, es gälte, weitere Völkermorde zu verhindern. Frank Schirrmacher kommentierte Fischer nach seiner Rede so: „Auschwitz war jahrzehntelang Begründung einer fast absoluten Friedensverpflichtung der Deutschen. […] Jetzt steht Auschwitz für die sittliche Notwendigkeit des Krieges.“ Die Akteure der bedingten Zurückhaltung verdrehten die deutsche Schuld. War sie erst Imperativ für militärische Zurückhaltung, wurde sie nun in das Gegenteil gedeutet.
Fischer bekam Gegenwind zu spüren. Dennoch verfing sich sein Argument in der deutschen Öffentlichkeit. Die schamlose Behauptung, Deutschland verhindere nun mit einem Angriffskrieg ein neues Auschwitz, wurde Teil deutscher Erinnerungsarbeit. Die deutsche Zurückhaltung war und ist verbunden mit der Schuld, die sich aus seinen Kriegsverbrechen und Völkermorden ergab. Zu propagieren, es würde ein neues Auschwitz verhindert, gab der Öffentlichkeit ein gutes Gefühl. Endlich stehe man auf der „richtigen Seite“. Mit Nazivergleichen gegenüber Milošević und Behauptungen über Konzentrationslager in Pristina gäbe es eine vermeintliche Pflicht für die BRD einzugreifen. Denn endlich auf der „guten Seite“ der Geschichte zu stehen, ist für die deutsche Öffentlichkeit ein tief sitzendes Verlangen.
Max Czollek beschreibt in seinem Buch „Desintegriert euch“, wie sich die deutsche Politik und Öffentlichkeit eine neue Perspektive auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und ihrer Schuld aneignete. Ein Schlüsselmoment ist dabei die Rede des damaligen Bundespräsidenten Weizsäcker am 8. Mai 1985. Nach Czollek konnotierte Weizsäcker die Erinnerung an den verlorenen Krieg positiv. Deutschland sei von der nationalsozialistischen Herrschaft „befreit“ worden und indem es sich an die Verbrechen erinnerte, würde es Versöhnungsarbeit leisten. Czollek bezeichnet die Rede als „Meilenstein der deutschen Entdeckung der vernichteten Juden für das eigene Selbstbild“. Die deutsche Seite leiste Erinnerungsarbeit, weil sie sich davon etwas verspreche, um sich als „gutes und geläutertes Deutschland neu erfinden zu können“.
Czollek: „Als sei die lang überfällige Beschäftigung mit den diversen deutschen Gewaltgeschichten unmittelbar an Versöhnung gekoppelt, die Aufarbeitung an die Bewältigung, das Eingeständnis von Schuld an die Begnadigung durch die Überlebenden.“
Die Erinnerungsarbeit soll letztlich in eine neue Normalität übergehen. Auch der Angriffskrieg auf Jugoslawien 1999 verhalf dabei. Auschwitz wurde ein Instrument der deutschen Läuterung, eine Rechtfertigung, jetzt endlich auch loszuschlagen. Dabei war es unwesentlich, dass es keine Konzentrationslager und keinen Völkermord im Kosovo gab. Die schamlose Relativierung des Holocaust wurde schnell Teil der Argumentation. Die Diskussion darum und der tatsächliche Bruch des Völkerrechts durch die NATO im Angriffskrieg 1999 gerieten dagegen in Vergessenheit.
Zurück zu Fischer, zurück zum Sonderparteitag 1999. Ein Pfeifkonzert entgegnet dem energischen Außenminister. Aber eben auch lauter Beifall. Am Ende stimmt eine knappe Mehrheit für einen Antrag des Bundesvorstands, der Fischers Position stützt. Auch in der deutschen Bevölkerung befürwortete eine Mehrheit die Beteiligung am Kriegseinsatz. 63 Prozent unterstützten die NATO-Kampagne. Das ist bemerkenswert. 1990 hatte sich die deutsche Öffentlichkeit gegen den – völkerrechtlich legitimierten – zweiten Golfkrieg ausgesprochen. Ein Beispiel dafür, wie gut die Argumente der neuen Interventionsbefürworter verfingen. Sie schufen die Grundlage für viele weitere Kriegseinsätze. Noch 2001 gab Fischer Geburtshilfe für den Krieg in Afghanistan. Er dehnte seine Argumente noch weiter aus und erklärte, die BRD werde auch aus historischer Verantwortung für den Staat Israel heraus gegen den islamischen Terrorismus militärisch vorgehen.
Heute ist diese Argumentationslinie fest verinnerlicht. Es gibt eine auffällige Parallele zum Bundesparteitag der Grünen im Oktober 2022. Außenministerien Baerbock verteidigte hier den Ukraine-Kurs der Regierung. Wieder spricht eine Grüne Außenministerin zu einem Krieg, an dem sich Deutschland beteiligt. Wieder funktioniert es über die Instrumentalisierung deutscher Gewaltgeschichte. Nur muss sie hier nicht mit offenen Widersprüchen rechnen. Die Worthülsen der „besonderen deutschen Verantwortung“ sind uns allen bekannt. Vor allem, weil sich die Mehrheit der Menschen in Deutschland der deutschen Schuld bewusst ist, fühlen sie sich angesprochen. Aber eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Rechtfertigungstaktik wird in der Debatte um den Krieg gegen die Ukraine untergraben. Pazifistische, friedensbewegte oder einfach nur kritische Töne werden schnell als naiv abgetan.
Aus einer bedingten Zurückhaltung wurde zusehends eine „Normalisierung“ der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Mit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine erleben wir eine Wiedergeburt des deutschen Militarismus. Und sie geht unheimlich schnell. Die deutsche Erinnerungsarbeit verhindert heute keine Kriege mehr, sie macht sie möglich. Die Ampel-Koalition versenkt Milliarden in eine Bundeswehr, deren unzählige Nazi-Skandale nicht im Ansatz aufgearbeitet wurden. Plötzlich scheint „die Truppe“ das einzige Bollwerk für den Erhalt des Friedens oder gar der Demokratie zu sein. Jedes Schulkind kennt den „Leo“ als deutsche Wunderwaffe. Aber das alles ist in Ordnung, solange man die „besondere deutsche Verantwortung“ anspricht. Schließlich werden durch die BRD Kriege für das Menschen- und Völkerrecht geführt.
Beitrag von Martin Wähler, Gewerkschaftssekretär und Mitglied der Linken.