Was hat Israel mit Kolonialismus zu tun?

Reflexionen über den kolonialen Charakter Israels bilden einen wesentlichen Baustein in den Veröffentlichungen des weltweit renommierten kamerunischen Politologen und Theoretiker des Postkolonialismus Achille Mbembe, der nun in Deutschland des Antisemitismus verdächtigt worden ist. Dieser koloniale Charakter Israels wird hier in seiner Entstehung beschrieben, als um 1900 die Weltmacht Großbritannien die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Zarenreich und deren aufkommenden Nationalismus für ihre kolonialen Zwecke nutzbar machte.

Vorspann: Maxime Rodinson und Achille Mbembe

Nach 1945, mit den grauenhaften Erfahrungen von Hitlers mörderischem Rassismus und des Zweiten Weltkriegs, wurde Israel ein Sehnsuchtsland der europäischen Linken. Diskriminierte, verfolgte, traumatisierte jüdische Menschen hatten sich dort gesammelt, konstituierten zusammen mit den jüdisch-zionistischen Pionieren eine neue Nation, lebten in Solidarität, schufen mit den Kibbuzim ein weltweites Vorbild für sozialistische Bewegungen. Israels neuer Nationalismus erschien als das unschuldige, junge und saubere Gegenbild zum verhassten, befleckten und hundertfach schuldigen deutschen Nationalismus.

In dieser europäischen Wahrnehmung eher zweitrangig war die Nakba, also die Vertreibung und Beraubung von rund 700.000 arabischen Bewohnern Palästinas 1947-1949 durch jüdische Milizen und Israels Armee. Vertreibungen waren schließlich nach Ende des Zweiten Weltkriegs gang und gäbe: zwölf Millionen Deutsche aus dem sowjetischen Einflussbereich,[1] 1,2 Millionen Polen aus dem ehemals polnischen Osten in den neu polnischen Westen, 14 Millionen Menschen beim „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Indien und Pakistan, als die britische Kronkolonie Indien unabhängig wurde, und so weiter und so weiter.[2] Für die orthodoxe Linke kam noch dazu, dass Stalins Sowjetunion den neuen Staat Israel sofort anerkannt hatte. Warum sollte man sich da großartig um diese 700.000 Vertriebenen kümmern? Das übernahm dann ja auch sogleich die UNO – alles schien geregelt.

Im Zuge der Nakba („Katastrophe“) wurden rund 700.000 Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem heutigen Staatsgebiet Israels vertrieben. By mr hanini, Wikimedia Commons, licensed under CC BY-SA 3.0.

Der Junikrieg 1967 zeigte aber, dass dieser Konflikt weiter schwelte. Israel ergriff damals die sich durch arabische Drohungen ergebende Gelegenheit beim Schopf und führte einen Eroberungskrieg, den es mit der Notwendigkeit zur Selbstverteidigung als Präventivkrieg begründete.[3] Die Diskussion über Israel entbrannte neu. Mehr noch als in Deutschland konnte in der alten Kolonialmacht Frankreich mit ihren vielfältigen Verbindungen in die arabische Welt der Standpunkt der arabischen Seite nicht ignoriert werden. So kam es, dass Jean Paul Sartre 1967 eine Sondernummer seiner Zeitschrift „Les Temps modernes“ über „Le conflit israélo-arabe“ herausgab. Darin schrieb Maxime Rodinson den Beitrag „Israël, fait colonial?“.[4], [5] Rodinson (1915-2004), Sohn kommunistischer jüdischer Eltern, die aus dem Zarenreich nach Frankreich geflohen waren, Mitglied der französischen kommunistischen Partei von 1937 bis zu seinem Ausschluss wegen „Opportunismus“ 1958, Professor für Äthiopien und Südarabien in Paris 1959-1983, wurde mit diesem Aufsatz zu einem Sprecher derjenigen französischen Juden, die für eine Übereinkunft mit den Palästinensern plädierten.[6]

Achille Mbembe kam als 25-Jähriger Afro-Marxist 1982 nach Paris und promovierte dort 1989.[7] Ob er irgendeinen Kontakt zu Rodinson – der ja 1983 emeritierte – aufnehmen konnte, ist nicht bekannt. Möglicherweise stieß er erst im Januar 1992, als er schon einige Jahre in den USA lebte und lehrte, auf das Problem Israel. Wie der Historiker Thomas Weber beschreibt,[8] besuchte Mbembe damals auf Einladung der Jerusalemer Hebräischen Universität neun Tage lang Israel. Die Dominanz der israelischen Juden über die Palästinenser habe er in Übereinstimmung mit seinen Überlegungen über das post-koloniale Afrika interpretiert, als den Post-Kolonialismus der Opfer des Kolonialismus[9]. Durch die Israelreise sei Mbembe überhaupt erst auf die Idee zu seinem wichtigen Aufsatz De la postcolonie von 2000 gekommen, seinem zentralen Werk.[10] Ob Weber damit Recht hat, oder ob Palästina nicht einfach bei Mbembe in die bereits für Afrika entwickelten Begrifflichkeiten eingepasst wurde, kann hier nicht entschieden werden. Palästina nimmt jedenfalls in Mbembes Denken auch später einen zentralen Platz ein, so in seinem Aufsatz Necropolitics (2003).[11]

Nun wurde Mbembe von dem FDP-Politiker Lorenz Deutsch, MdL in Nordrhein-Westfalen, des Antisemitismus verdächtigt, weil er die BDS-Bewegung gegen Israel unterstütze. Und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung befand, Mbembe sei antisemitisch, weil er die Shoah mit anderen Ereignissen vergleiche. (Dieses Urteil entbehrt jeder Grundlage; Vergleiche der Shoah mit anderen Ereignissen sind sinnvoll und nötig, siehe zum Beispiel hier.[12])

Richtigerweise entfachten diese Angriffe auf Mbembe breite Empörung in liberalen Feuilletons und unter Akademikern.[13] Es wurde auch darauf hingewiesen, dass mit diesem Angriff auf einen der prominenten Theoretiker der antikolonialen Bewegung die Diskussion über den westlichen Kolonialismus gleich mitentsorgt wird.[14]

Aber es wurde – meines Erachtens zu Recht – auch darauf hingewiesen, dass die Begriffe Mbembes wolkig und unpräzise seien.[15] Mbembe benennt nicht klar und präzise, was Israel mit Kolonialismus zu tun hat. Er ist darin Teil einer unglückseligen akademischen Tradition, die gewohnt ist, sich unverständlich auszudrücken. Ich denke noch mit Schaudern an den „Anti-Ödipus“ von Deleuze & Guattari, den ich seinerzeit 1975 gelesen, aber nicht verstanden hatte, ganz zu schweigen von Michel Foucault, an dem sich Mbembe direkt orientiert, und der berühmten Judith Butler, deren Buch über den Israel-Palästina-Konflikt („Am Scheideweg“) ich unverständlich und irrelevant finde.

Historisch begründete Belege dazu, dass Israel etwas mit Kolonialismus zu tun hat, wurden in der deutschsprachigen Debatte um Mbembe nur in einem Beitrag vorgebracht, von den jüdischen Geschichtsprofessoren Amos Goldberg und Alon Confino.[16] Dazu kann noch mehr gesagt werden, in der Tradition Maxime Rodinsons. Das möchte ich im Folgenden tun.

Israel: ein kolonialer Fakt?

Um Großbritanniens Ausrufung einer „nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ 1917 im Osmanischen Reich und ihre Folgen zu verstehen, werden hier die zwei auslösenden Faktoren betrachtet: 1) die Geschichte des Judentums im Zarenreich, denn aus dieser Bevölkerung rekrutierte Großbritannien seine Kolonisten; und 2) die Interessen Großbritanniens zur Zeit des Ersten Weltkriegs.[17]

Das Judentum im Zarenreich

„200 Jahre zusammen“ betitelte Alexander Solschenizyn sein Buch über Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916.[18] Man fragt sich bei diesem Titel: Wieso 200 Jahre? Wo waren die Juden denn vorher? Und liest dann dort die unerwartete Antwort: Nicht die Juden kamen ins Zarenreich, sondern das Zarenreich kam zu den Juden.

Das Land, in dem die Juden lebten, war bis dahin das Königreich Polen-Litauen gewesen. Als autonome politische Einheit existierte Polen seit 960 – ein weites Land, hier und da von Bauern bewirtschaftet, die ihren adligen Grundbesitzern zu Diensten waren. Es fehlten Handwerker, Handelsleute, Menschen mit Kontakten in die Zentren der Zivilisation. Daher empfingen polnische Herrscher jüdische Einwanderer mit offenen Armen. Seit 1386 war der polnische König gleichzeitig der Großfürst von Litauen. Dieses Großfürstentum Litauen erstreckte sich von der Ostsee bis ans Schwarze Meer, mit großen Teilen des heutigen Estlands, Lettlands, Weißrusslands und der Ukraine, und westlichen Teilen des heutigen Russlands.

Die Ausdehnung des Großfürstentum Litauen im 13. bis 15. Jahrhundert von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. By Lithuanian state in 13-15th centuries-es.svg, Wikimedia Commons, licensed under CC BY-SA 4.0.

Aus dem Westen kamen Juden in zwei Wanderungswellen nach Polen, um 1100 und um 1350. Um 1100 wurden sie durch die Gräuel des Ersten Kreuzzugs im Osten Frankreichs und im Rheinland entwurzelt. Beispielsweise wurden im Jahre 1096 die meisten der circa 1.000 Mainzer Juden, bei insgesamt 7.000 Einwohnern, vom „Bauernkreuzzug“ umgebracht. Auch entwickelten sich zu dieser Zeit die Zünfte, monopolisierten die Handwerksberufe und entzogen damit jüdischen Handwerkern die Existenzgrundlage. Namentlich die Glaserei war ein jüdisches Handwerk gewesen.

Die zweite Wanderungswelle um 1350 wurde durch die große Pestepidemie ausgelöst, an der ungefähr ein Drittel der Bevölkerung Europas starb. Eine Theorie zu diesem unerklärlichen Sterben besagte, dass die Wasserbrunnen von Juden vergiftet worden seien, sodass in vielen west- und mitteleuropäischen Städten die jüdische Bevölkerung ermordet und in die Flucht getrieben wurde. Kasimir I. der Große, König Polens zur Zeit der Pest-Epidemie (von der sein Land wundersamerweise verschont blieb), lud sie ein, erneuerte die Schutz- und Autonomiebestimmungen für sie und wurde alsbald »König der Bauern und Juden« genannt.

In der Folge wurde Polen-Litauen zum Zentrum jüdischen Wohlstands und jüdischer Kultur in Europa. Wilna wurde zum »Jerusalem des Nordens«. Allerdings gab es immer wieder Rückschläge. Die größte Katastrophe war 1648 der Aufstand der ukrainischen christlich-orthodoxen Kosaken unter Bohdan Chmelnyzkyj gegen die polnische Dominanz. Die Kosaken verübten bei ihrem Vormarsch Massaker großen Ausmaßes an der katholischen und jüdischen Bevölkerung – man schätzt 40.000 Opfer. Einige Gruppen von Juden wanderten aus und gründeten Gemeinden in deutschen Landen. Aber die große Mehrheit blieb in ihrer polnisch-litauischen Heimat. Jedoch entschwand diese Heimat: Durch die Kosakenaufstände und Begehrlichkeiten der Nachbarstaaten geschwächt, wurde Polen-Litauen so lange aufgeteilt, bis 1795 in der „Dritten Teilung“ praktisch nichts mehr von diesem Staat übrigblieb. Die Juden im äußersten Westen Polens wurden Preußen, die im Süden Polens und in Krakau kamen zu Österreich-Ungarn, und die meisten Juden, aus dem Osten Polens und dem ehemaligen Groß-Litauen, wurden Untertanen der Zarin Katharina der Großen.

Diese jüdischen Gemeinden bildeten autonome Parallelwelten zur Mehrheitsgesellschaft: Sie erhoben die Steuern ihrer Mitglieder, sie hatten die Jurisdiktion über interne Konflikte auf Grundlage des Religionsgesetzes, bis hin zur Todesstrafe. Die Beschäftigung mit allgemeiner Bildung war verpönt. Als erwachsen definierte das religiöse Gesetz Buben mit 13 und Mädchen mit 12 Jahren. Nach der Heirat zog der Bräutigam bei den Schwiegereltern ein. Wer mit 15 schon Eltern wurde, konnte keinen Beruf mehr lernen und versuchte dann eben, durch Handel Geld zu verdienen.

In den folgenden Jahrzehnten versuchten die Zaren periodisch entweder, diese Strukturen aufzubrechen, um die Juden in die anbrechende Moderne zu integrieren, oder legten ihnen Beschränkungen der Wohnsitzwahl, Berufswahl und andere auf, um den Fremdenhass der Bevölkerung im Zaum zu halten.

Alexander II. war der große Reformer. Er wurde Zar, mitten im Krim-Krieg 1856, den das Zarenreich wegen seiner technologischen und logistischen Rückständigkeit blutig verlor. Er schaffte zahlreiche feudalistische Hemmnisse ab, vor allem hob er 1861 die Leibeigenschaft auf. Durch Aufrechnung der Militärdienstzeit gegen den Besuch allgemeinbildender Schulen gelang es ihm, die jüdische Bevölkerung in großem Maßstab für allgemeine Bildung zu erwärmen. Es gab aber 1863 einen neuen Aufstand der Polen gegen die russi­schen Besatzer, in der Folge zwei Attentatsver­suche gegen den Zaren. Dieser rea­gierte mit einem Ausbau des poli­zeilichen Überwachungssystems. Die russische Gesell­schaft polarisierte sich zwischen Radikalnationalisten auf der einen Seite und Sozialisten und Anarchi­sten auf der anderen Seite. Es gab weitere Atten­tats­ver­suche, von denen der letzte, am 1. März 1881, er­folgreich war – ein schwarzer Tag in der Geschichte des Judentums.

Urkunde der Migrationsbehörde der „Jewish Agency for Palestine“ in Warschau, Polen, vom September 1935. By Etan J. Tal, Wikimedia Commons, licensed under CC BY-SA 4.0.

Denn dieses Attentat von „links“ setzte eine Gewaltwelle von „rechts“ gegen Juden frei: Es brachen Plünderungs-Pogrome aus. Der Pöbel wollte sich das „zurückholen“, was ihm „die Juden“ als Liberalisierungsgewinnler unter Alexander II. „weggenommen“ hatten. Die neue Führung, unter dem konservativen Alexander III., stimmte zu: Dem Volk sei durch die Juden zu viel zugemutet worden, daher müsse deren schädliche Tätigkeit beendet werden. So wie nach den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen in Deutschland 1993 das Asylrecht demontiert wurde, erließ der neue Innenminister des Zaren 1882 nach den Pogromen die „Maigesetze“, die die Ungleichbehandlung der Juden auf vielen Gebieten (unter anderem Wohnsitzwahl, Berufswahl) festschrieben und damit deren Hoffnung auf Gleichberechtigung beerdigten.

Die circa fünf Millionen Juden, die damals im Zarenreich lebten, waren mehr als die Hälfte aller Juden auf der Welt. Aus diesen Menschen bildeten sich in Reaktion auf die Maigesetze vier Emanzipationsbewegungen heraus: Auswanderung, Zionismus, jüdischer Sozialismus, allgemeiner Sozialismus.

Emanzipation in einem neuen Land: Auswanderung

Zwischen 1881 und 1914 wanderten mit Duldung und sogar Unterstützung der zaristischen Obrigkeit circa 2 Millionen Juden aus dem Zarenreich aus, davon circa 1,5 Millionen in die USA. Die USA brauchten zum Aufbau des Landes Menschen, ähnlich dem polnischen Staat im frühen Mittelalter.

Wenn Juden aus dem Zarenreich nach USA oder Süd­amerika über den Atlantik fahren wollten, war die nächste Gelegenheit dazu über die deutschen Nordsee­häfen, und die Auswanderer mussten eine Grenze überwinden: zwischen Zarenreich und Deutschem Reich.[19] Um zu verhindern, dass sie einfach in Deutsch­land blieben, wurde eine Transitregelung ge­schaffen und die Grenzkontrollen privatisiert: Berlin-Ruhle­ben wurde 1891 als Durchgangsbahnhof eingerichtet, abseits der großen Bahnhöfe. HAPAG und Lloyd organisierten dort die Desinfektion und ärztliche Untersuchung der Durchwan­de­rer, ausgerichtet an den amerikanischen Ein­wanderungsbestimmun­gen.

Wie heutzutage durch die syrischen Flüchtlinge ein bereits bestehendes Ressentiment gegen Muslime weiter angefacht wird, so verstärkte die mögliche Einwanderung von „Ostjuden“ nach Westeuropa das mancherorts bestehende Ressentiment gegen Juden. Seit Gründung des Deutschen Reichs 1871 genossen die circa 500.000 jüdischen Staats­bürger einheitlich im ganzen Reichsgebiet gleiche Rechte wie alle anderen Deutschen. Das gefiel nicht allen. Genau 1880/81, kurz vor Beginn der Auswanderungswelle aus dem Zarenreich, forderte die sogenannte »Antisemitenpetition« – »Antisemit« war die Selbstbezeichnung dieser Minderheitenhasser – unter anderem den Ausschluss von Juden aus dem Heer, dem Richteramt und dem Bil­dungswesen sowie die Einschränkung jüdischer Ein­wanderung nach Deutschland. Erstunterzeichner waren einige damals prominente Professoren und Politiker.

Kronprinz Friedrich nannte 1880 und nochmals 1881 die antisemitische Bewegung »eine Schmach für Deutschland«. Reichskanzler Bismarck ging jedoch im Fahrwasser dieser Bewegung auf Jagd nach Wähler­stimmen und sprach sich im Mai 1881 gegen Einwan­derung von Juden aus, sein Innenminister verweigerte bereits eingewanderten Juden die Einbürgerung. Kron­prinz Friedrich wurde zwar 1888 deutscher Kaiser, starb aber leider nach 99 Tagen im Amt.

Ähnliches spielte sich in anderen Ländern Westeuropas ab, auch in der Weltmacht Großbritannien. Nachdem seit 1880 weit über 100.000 jüdische Auswanderer aus dem Zarenreich in Großbritannien angekommen waren und sich damit die jüdische Bevölkerung mehr als verdoppelt hatte, formierte sich 1902 die nationalistische British Brothers’ League (»England for the English!«). Diese erhielt prominente Unterstützung und erreichte 1905 ein restriktives Einwanderungsgesetz. Verantwortlicher Regierungschef für dieses Gesetz war Arthur James Balfour (1848 – 1930).

Emanzipation im eigenen neuen Land: Zionismus

Leon Pinsker, 60-jährig, Arzt in Odessa, veröffentlichte 1882, im Jahr der Maigesetze, auf Deutsch die Broschüre »Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden«. Der „Judophobie“ der nichtjüdischen Umgebung müsse man aus dem Wege gehen: »so lange wir nicht wie die anderen Nationen ein eigenes Heim haben, [müssen] wir ein für alle Mal die edle Hoffnung aufgeben…, mit den Andern gleichwerthige Menschen zu werden.« Daher müssten sich die Juden in aller Welt zusammentun und eine Organisation bilden, die systematisch in einem Teil der Welt ein zusammenhängendes großes Stück Land ankaufen solle, und zwar entweder in Nordamerika oder im Osmanischen Reich. So wurde Pinsker für die nächsten Jahre zum Kristallisationspunkt und Orga­nisator des jüdischen Nationalismus im Zarenreich und darüber hinaus.

Dass in dieser neuen nationalen Heimstätte schon Einheimische wohnen könnten, war Pinsker keinen Gedanken wert. In dieser Hinsicht war er ein Kind seiner Zeit. Denn er schrieb: »Ungleich allen freien Völkern«, müssen die Juden »wie die Neger, wie die Frauen … emancipirt werden« – durchaus richtig, wenn einem auch die Wortwahl heute als antiquiert aufstößt. Er fuhr aber fort: »Um so schlimmer für sie [die Juden], wenn sie, ungleich den Negern, einer edlen Race angehören«. Es gibt also edlere und unedlere Rassen. Pinsker war offensichtlich, ausweislich seines Buchs, ein sensibler, intelligenter, gebildeter, tüchtiger Mensch. Aber er und seine Gleichgesinnten hatte einen blinden Fleck, nämlich die europäisch-kolonialistische Denkungsart. Und genau dieser blinde Fleck ist heute zum Unglück für Millionen Palästinenser geworden.

Theodor Herzl, der Kulturredakteur aus dem Habsburgerland, der 1896 das Buch über den „Judenstaat“ schrieb und die „Zionistische Weltorganisation“ gründete, war genialer Charismatiker, grandioser Diplomat, gedankenflüchtiger Feuilletonist (sein „Judenstaat“ ist – milde formuliert – ein unsystematisches Buch) und war voll großbürgerlichem Dünkel gegen alle kleinen Leute. Bekanntlich schrieb er 1895 in seinen zur Veröffentlichung gedachten „Tagebüchern“: „Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den DurchzugsIändern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muß ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.“

Und das Einzige, was er zum real existierenden Gebiet Palästina im Osmanischen Reich in seinem „Judenstaat“ schrieb, war dieses kolonialistische Programm: „Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müßte.“ Und: „Für die heiligen Stätten der Christenheit ließe sich eine völkerrechtliche Form der Exterritorialisierung finden.“ Kein Wort findet sich über die heiligen Stätten des Islam, warum auch immer.

In der zionistischen Bewegung des Zarenreichs gab es auch ganz andere Stimmen: humanistische, antikolonialistische.[20] Am wichtigsten ist Achad ha’Am (Ascher Ginsberg) aus Odessa, der, nachdem er 1891 als 35-Jähriger die kleinen jüdischen Einwanderersiedlungen in dieser Gegend des Osmanischen Reichs besucht hatte, lebhaft für die Gleichbehandlung aller Menschen, gegen das Ziel einer nationalen Heimstätte und für die Errichtung einer neuen jüdischen humanistischen Kultur plädierte. Er hatte immensen Einfluss auf die zionistische Bewegung – nicht zuletzt war Chaim Weizmann sein Anhänger, langjähriger Präsident der Zionistischen Weltorganisation. Großen Einfluss auf den linken Flügel der zionistischen Bewegung hatte Bär Borochow aus der heutigen Ukraine, Gründer der Po’alej-Zion („Werktätige Zions“), der mit den Arabern zusammen den Sozialismus aufbauen wollte. Aber diese Gedanken setzten sich nicht durch und sind im heutigen Israel völlig marginalisiert.

Emanzipation an Ort und Stelle: Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund

Der Zionismus war etwas für intellektuelle Bürgerliche. Sie schauten geringschätzig auf ihr Herkunftsmilieu und dessen jiddische Sprache herab. Ihrer Meinung nach sollte sich das Judentum durch die Schaffung einer eigenen nationalen hebräischen Kultur neu erfinden, die schlechten Gewohnheiten der »Diaspora« abwerfen und in einem Neuen Land zu neuen Menschen heranreifen.

Im Gegensatz zu diesen Auffassungen fasste bei einer neuen Generation der revoltierenden jüdischen Intelli­genz im Zarenreich der Gedanke Fuß, dass sich Revolutionäre vielleicht doch auch für ihre eigenen „kleinen Leute“ – die Händler, Handwerker, Tagelöhner, Nichtstuer – einsetzen sollten. Sollte man nicht nach der Emanzipation hier und jetzt, im eigenen Land, streben? Und so wurde 1897 in Wilna der »Allgemejner Jidischer Arbejterbund in Lite, Pojlen un Russ­land« gegründet, kurz der »Bund«. Sein Jahreskongress 1901 verabschiedete eine Resolu­tion für die nationale Autonomie der Juden, und dies wurde in der Folge das Markenzeichen der Organisation. Sie wurde sehr schnell zu einer tatkräftigen außerparlamentarischen Opposition, mit einem funktionierenden Führungsapparat, hoher Disziplin und großer Solidarität unter den Mitgliedern. Durch die Vernetzungen der jüdischen Bevölkerung ins westliche Ausland, bis nach USA – dies selbstverständlich auch dank der Tatsache, dass vom Staatsapparat verfolgte Aktivisten ins Ausland geflüchtet waren – flossen reichlich Spendengelder.

Eine Zahl, die den weitreichenden Einfluss der Organisation bereits in ihren ersten Jahren zeigt: In dem einen Jahr zwi­schen Juni 1903 und Juli 1904 wurden circa 4.500 Bundisten von den zaristischen Ordnungskräften verhaftet und eingesperrt.

Demonstration von Bundisten 1917. By Unbekannt, Wikimedia Commons, published under public domain.

Dies ist das Jahr, in dem der zaristische Geheimdienst die revoltierenden Juden als Gefahr für Zar und Vaterland ausmachte und zur Aufstandsbekämpfung die „Protokolle der Weisen von Zion“ verfasste, mit der Botschaft: Juden sind vaterlandslose Gesellen und streben die Weltherrschaft an.

Emanzipation für alle: Sozialismus

Julius Zederbaum (1873-1923, »Martow«), entscheidend beteiligt an der Gründung des Bund, war während seiner Universitätszeit in Sankt Petersburg gut mit Wladimir Uljanow (1870-1924, »Lenin«) bekannt geworden. Dort gründete er mit ihm 1895 den »Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse«. Die Gruppe organisierte tatsächlich im Mai 1896 den bis dahin größten Streik in Russland.

Nachdem nun der Bund 1897 gegründet war, schien es angebracht, auch die gesamt-russische Bewegung zu organisieren.[21] Zu diesem Zweck reiste der Bund-Vorsitzende Arkadi Kremer (1865-1935) zu Grigori Plechanow (1856-1918), dem Vordenker des Marxismus für Russland, in dessen Schweizer Exil und verständigte sich auf eine Zusammenarbeit. Daraufhin trafen sich 1898 am Sitz des Bund in Minsk neun Delegierte verschiedener Organisationen und gründeten dort die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR).

Die Entwicklung der SDAPR und ihre Auseinandersetzung mit dem Bund kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden.[22] Der Punkt, den ich hier machen will, ist dieser: Jüdische Bewegungen im Zarenreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren nicht nur – wie hier dargestellt – der nationale Zionismus und der Bundismus (und ebenso[23] der religiöse Konservativismus, die Aufklärung und der religiöse Zionismus), sondern eben auch der Sozialismus. Der überproportionale Anteil von sozialistisch orientierten Juden, im Bund und speziell in der SDAPR, weit über dem jüdischen Bevölkerungsanteil im Zarenreich, zeigt die Empörung, die Erlösungssehnsucht, den Gerechtigkeitssinn und den Veränderungswillen eines großen Teils der jüdischen Intelligenz, und speziell bei einigen jüdischen bolschewistischen Führungskadern wie Swerdlow, Trotzki, Sinowjew zumindest die Tendenz zur selben Maßlosigkeit und Machttrunkenheit wie bei ihren nichtjüdischen Genossen Stalin, Mao Tse-Tung und anderen.

Viele haben aufgrund dieses jüdischen Anteils am Entstehen der Sozialdemokratie im Zarenreich und an der bolschewistischen Machtübernahme argumentiert, dass die Opposition gegen den Zaren und insbesondere der Bolschewismus eine jüdische Erfindung sei. Es blieb nicht bei Argumenten; aufgrund dieser Überzeugung töteten 1905/06 in den Bürgerkriegspogromen erboste Zar-Anhänger und Schlägertypen Tausende Juden und ermordeten 1918 bis 1921 in ihren militärischen Pogromen die Soldaten und Söldner der Weißen Armee vermutlich sogar Zehntausende. Und ebenso war die Überzeugung, der Bolschewismus sei jüdisch, neben Vorstellungen zur Reinhaltung der »arischen Rasse« ein wesentliches Motiv für Hitler und seine Gesinnungsgenossen, um Juden umzubringen, darunter zahlreiche Verwandte meines Vaters und meiner Mutter. Seine Programmschrift Mein Kampf schrieb er 1924, kurz nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg zwischen Weißer und Roter Armee.

An all diesen Massenmorden ist nichts entschuldbar. Jedoch kann man den mörderischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts nicht verstehen, wenn man ihn schlicht als Beispiel eines angeblich ewigen Antisemitismus der „Gojim“ ansieht anstatt als rassistische Reaktion auf zwei Entwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die vom jüdischen Stief-Vaterland Zarenreich ausgingen, nämlich den Strom der Auswanderer (so wie die syrischen Flüchtlinge heute) und die sozialistische Revolte gegen Diskriminierung und Autokratie (so wie heute in den Augen mancher der Islam eine „terroristische Religion“ ist).

Genau diese Entwicklungen spielten auch eine erhebliche Rolle bei den Entscheidungen der britischen Regierung 1917 über die „Jüdische Heimstätte“.

Interessen Großbritanniens zur Zeit des Ersten Weltkriegs

Nachdem die europäischen Großmächte Großbritannien und Frankreich im Mai 2016 durch das Sykes-Picot-Abkommen ihre kolonialen Interessengebiete im Nahen Osten vereinbart hatten und dabei das Palästina genannte Gebiet zunächst keinem der beiden Länder fest zugeschlagen hatten,[24] verkündete am 2. November 1917 die britische Regie­rung nach monatelangen Beratungen und öffentlichen Kontroversen: „Die Regierung Seiner Majestät betrach­tet die Einrichtung eines nationalen Heims in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird ihre besten Bestrebungen einsetzen, um das Erreichen dieses Ziels zu ermöglichen.“

Dies ist die Hauptaussage der Balfour-Deklaration, benannt nach dem damaligen Außenminister (früheren Premierminister, siehe oben) Arthur James Balfour. Die Motive waren viel­schichtig; wichtig waren wohl diese: 1. Abwehr von Flüchtlingen, 2. Englands imperiale Politik, 3. Abwehr des Bolschewismus und 4. der anglikanische Zionismus.

1. Abwehr von Flüchtlingen: Durch das oben erwähnte re­striktive Einwanderungsgesetz von 1905 und die Flüchtlingsabwehrmaßnahmen anderer europäischer Staaten war den Juden aus dem Zarenreich als Auswanderungsziel Amerika geblie­ben. Aber der Erste Weltkrieg unterbrach den Schiffsverkehr über den Atlantik, und Großbritannien musste daher befürchten, wieder Ziel einer Flüchtlingswelle aus dem revolu­tionären, in Bürgerkrieg und Pogrome verstrickten Russischen Reich zu werden.

2. Imperiale Politik: Der Reichtum Großbritanniens hing an seinen Kolonien, besonders am riesigen Indien. Der Handelsweg nach Indien führte durch das Mittel­meer über die britischen Stationen Gibraltar, Malta und Zypern sowie durch den Sueskanal. Ägypten war be­reits britische Halbkolonie, und es war wichtig für Bri­tannien, auch das östliche Hinterland des Kanals abzu­sichern: Palästina, das zum Osmanischen Reich gehör­te. Die Zerschlagung dieses Osmanischen Reichs war ein Hauptziel für Großbritannien im Ersten Weltkrieg. Dafür opferte Marineminister Churchill 1915 in den Schlachten bei Gallipoli 50.000 Soldaten. In Absprache mit Frankreich – 1916 durch das Sykes-Picot-Abkommen – wurde dieses Ziel nach Kriegsende durch den Völker­bund besiegelt.

3. Abwehr des Bolschewismus: Winston Churchill schrieb 1920 in einem Zeitschriftenbeitrag:[25] Die Juden hätten der Welt das Beste gegeben – das Christentum – und gäben ihr nun das Schlechteste – den Bolschewis­mus: alle führenden Sozialisten, besonders in Russland, seien jüdisch, außer Lenin. Man müsse diese Gefahr bekämpfen, indem man im Judentum die Neigung zum Sozialismus durch einen gesunden Nationalismus ersetze – den Zionismus. Churchill stand mit dieser Meinung unter den englischen konservativen Politikern nicht allein. (Dass kurze Zeit später, nach Lenins Tod, der Georgier Stalin seine Alleinherrschaft dadurch sichern würde, dass er alle anderen Führungspersonen, Juden wie Nichtjuden, umbrachte und dadurch eindeu­tig klar wurde, dass der Bolschewismus keine jüdische Macht war, konnten diese englischen Politiker nicht vorausahnen.)

4. Anglikanischer Zionismus: In der reformierten anglikanischen Kirche war die „evangelikale“ Idee weit verbreitet, dass sich Juden zum Christentum bekennen würden, wenn sie alle in „ihr“ Land zurückgekehrt sei­en, und dass dann Jesus Christus wiederkehren würde. David Lloyd George, Premierminister 1916-1922 und treibende Kraft der Balfour-Deklaration, war als gläubi­ger Evangelikaler aufgewachsen.

Gemäß der Balfour-Deklaration ließ sich Großbritannien 1922 nach Ende des Ersten Weltkriegs ein Mandat des Völ­kerbunds für dieses Gebiet des Osmanischen Reichs geben, das das heutige Israel, das Westjordanland und den Gasastreifen umfasst, zum Aufbau der Jüdischen Heimstätte. Dies war im weiteren Verlauf ausschlag­gebend für die Gründung des Staates Israel 1948 auf einem Teilgebiet dieses Mandats.

Buchenwald-Überlebende erreichen Haifa im Norden des heutigen Israels am 15. Juli 1945. By Unbekannt, Wikimedia Commons, published under public domain.

Israel – ein koloniales Faktum

Der fantasievolle Realpolitiker Theodor Herzl hatte es als Mittel zur Erreichung des zionistischen Strebens nach einem eigenen Land angesehen, sich den europäischen Großmächten anzudienen, um „ein Stück des Walles gegen Asien [zu] bilden“ und „den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei [zu] besorgen“ (siehe oben); das heißt: um einer Großmacht das Fußvolk zu verschaffen, das für sie auf dem Gebiet Palästinas ihre Kolonialherrschaft über die dort und in der Nachbarschaft ansässige Bevölkerung ausüben könnte. Das war nichts Besonderes, denn genau so trat Europa zu Herzls Zeiten auf der ganzen Welt auf.

Der von Herzl angestrebte „Judenstaat“ sollte den Einheimischen konfliktfrei Kultur und Zivilisation vermitteln – so stellte er es in seinem Zukunftsroman „Altneuland“ dar. Und auch das war selbstverständlich nur ein weiteres Beispiel für die gängigen Illusionen, mit denen sich das europäische Bürgertum die Kolonialpolitik schönredete.

Herzl diente sich zunächst Kaiser Wilhelm II. an. Als dieser bei einem Besuch des Osmanischen Reichs auch in Jerusalem einritt, gelang es Herzl, ihn zu sprechen. Aber der Kaiser vertraute für den deutschen Einfluss im Nahen Osten lieber auf die missionarische Kraft der preußischen Protestanten und im Ergebnis auf palästinensische Christen[26] als auf irgendwelche ihm unbekannte Juden, und außerdem konnte das Kaiserreich als Verbündeter des Osmanischen Reichs ja schlecht Gebiete dieses Reichs als seine Kolonie definieren. Wie oben dargestellt, lagen Großbritanniens Interessen in dieser Hinsicht anders. Und so wurde es eine willkommene Ausrede für den britischen Kolonialismus bei der Aufteilung des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg, dass dem jüdischen „Volk“ nach Jahrtausenden seine „angestammte Heimat“ wiedergegeben werden müsse. Auf diese Weise wurden die verfolgten und entwurzelten Juden Europas das Fußvolk Großbritanniens zur Sicherung seines Einflusses am östlichen Mittelmeer 1920-1945 und noch weiter bis zur „Sues-Krise“ 1956 (dem Versuch Großbritanniens und Frankreichs, mit Hilfe Israels ihren Einfluss auf den Betrieb des Sueskanals zu erhalten). Danach wurden die USA die Schutzmacht Israels und verwenden Israel bis heute ganz in Herzls Sinne als „Stück des Walles gegen Asien“ und „Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei“. Es ist genau diese koloniale Grundkonstruktion des Staates, mit kolonisierender und kolonisierter Bevölkerung, aufgrund derer Israel in der Gegenwart immer tiefer in die Apartheid hineinrutscht.

Der österreichisch-ungarische Publizist Theodor Herzl gilt als Hauptbegründer des politischen Zionismus. By Unbekannt, Wikimedia Commons, published under public domain.

Maxime Rodinson, der diese klar zu Tage liegenden Fakten 1967 dargestellt hat, setzte sich in seinem Aufsatz auch mit einigen damals und teilweise noch heute vorgebrachten Gegenargumenten auseinander.

Ein damals heiß diskutiertes Gegenargument war, dass in Israel durch die Kibbuzim und die Vormacht der Gewerkschaft der Sozialismus aufgebaut würde, Israel also per se „fortschrittlich“ sei. Darüber ist die Geschichte hinweggegangen.

Ein anderes Gegenargument ist, dass die Balfour-Deklaration 1917 nur ein äußeres Ereignis war, das für die innere Entwicklung des Aufbaus Israels nur nebensächlich blieb. Dazu Rodinson: „Die Zionisten neigen dazu, die Anfänge des Jüdischen Staats entweder bei der ersten jüdischen Besiedlung in Palästina während der ersten Einwanderungswelle (Erste Alijah) 1882-1903 anzusetzen, was die Betonung auf die autonome Bewegung der jüdischen Massen legt; oder beim sogenannten Unabhängigkeitskrieg 1948, was die Betonung auf die Weigerung der Araber legt, den UN-Teilungsbeschluss anzunehmen, und auf die Böswilligkeit oder sogar erklärte Feindschaft Englands, gegen das der terroristische Kampf der davorliegenden Jahre entfacht worden war. Aber die Existenz von 85.000 Juden in Palästina 1914 (die im Lauf des Kriegs auf circa 56.000 sank) spielte nur eine sehr sekundäre Rolle bei der Verabschiedung der Balfour-Deklaration. Später wurde die Forderung nach Unabhängigkeit für den Jischuw (die jüdische Kolonie in Palästina) nur deswegen möglich, weil es 539.000 Juden in Palästina gab, 31.5% der Gesamtbevölkerung (1943), wohingegen dieser Anteil 1922 nur 11% betragen hatte. Diese massive Einwanderung wurde nur durch den britischen Schutz ermöglicht … Sie wäre in solch großem Maßstab und mit ihren beängstigenden Forderungen [nach einem jüdischen Staat in Palästina] in einem unabhängigen arabischen Staat frei von externem Druck unvorstellbar gewesen.“[27]

Ein anderes Gegenargument ist, dass die jüdische Einwanderung nach Palästina/Israel deswegen etwas grundsätzlich anderes ist als die kolonialistische Einwanderung in andere Länder, weil Juden selbst eine verfolgte und diskriminierte Minderheit waren.

Eine solche Minderheit waren die europäischen Juden in der Tat. Wie oben dargestellt, hatte die Tatsache, dass Juden in ihrem angestammten europäischen Heimatland Polen-Litauen, nun unter Dominanz der Zaren, als Minderheit diskriminiert waren, sie in Opposition und zur Auswanderung in andere europäische Länder getrieben. Beides, die sozialistisch orientierte Opposition und die Auswanderung in Länder Mittel- und Westeuropas, ließ das antijüdische Ressentiment in diesen Ländern ansteigen. Im Endergebnis, vor allem durch die nationalistisch-rassistische Radikalisierung Deutschlands unter Hitler, geriet die europäisch-jüdische Bevölkerung in eine Verfolgungssituation, in der sie nur noch in wenigen Ländern tolerant aufgenommen wurde. So kamen viele dieser Menschen gegen ihren Willen, aus blanker Not, in das Land am östlichen Mittelmeer.

Aber ist dies etwas grundsätzlich anderes als andere koloniale Auswanderungen? Waren Verfolgung und Not im Heimatland nicht schon immer die treibenden Motive von Auswanderern? Die radikalen puritanischen „Pilgerväter“, die verfolgten Quäker, die Hunderttausende bitterarmen Iren, Italiener, Deutschen, die anderthalb Millionen Juden aus dem Zarenreich: All diese verfolgten, armen, diskriminierten Menschen kamen nach Nordamerika und sind Kolonialisten, denn sie sind die Gründer eines Landes, von dem man sagen kann: „Dieses Land verdankt seine Existenz der Tatsache, dass man den Ureinwohnern ihr Land weggenommen und viele Menschen versklavt hat.“[28]? Und waren nicht selbst die gekidnappten, entrechteten Afrikaner, die als Sklaven nach Amerika verschleppt wurden, als Fußvolk Beteiligte an der kolonialen Landnahme von den Ureinwohnern? Ebenso bestand zum Beispiel das Fußvolk für die britische Landnahme Australiens von den Ureinwohnern aus dorthin großenteils gegen ihren Willen deportierten Sträflingen. All diese Menschen wurden schuldlos schuldig.

Das Gleiche gilt mehr oder weniger für die nach Palästina eingewanderten Juden.

Das Schlusswort gebührt Maxime Rodinson:[29]

„Welche Konsequenzen soll man aus dieser Diagnose ziehen? Den Heiligen Krieg gegen die Eindringlinge predigen und fordern, dass sie mit Gewalt vertrieben und ins Meer geworfen werden, im Namen eines universellen Bewusstseins, das sehr langsam damit war, den Kolonialismus zu verdammen? … Siedler und Kolonisatoren sind keine Ungeheuer mit Menschenantlitz … „Möglicherweise ist Krieg der einzige Weg aus der durch den Zionismus geschaffenen Situation. Ich überlasse es anderen, darin einen Grund zur Freude zu sehen. Aber wenn es irgendeine Chance darauf gibt, eines Tages eine friedliche Lösung zu sehen: Diese wird man nicht dadurch erreichen, dass man den Arabern sagt, es sei ihre Pflicht, ihren Eroberern zu applaudieren, weil diese Europäer sind oder gerade dabei sind, europäisiert zu werden, weil diese ‚fortschrittlich‘ sind, weil diese revolutionär oder (fast) sozialistisch sind und, noch viel weniger, einfach weil diese Juden sind! Das Höchste, das man von den Arabern verlangen kann, ist dass sie sich in eine unangenehme Situation fügen, und dass sie bei diesem Verzicht das Beste aus dieser Resignation machen. Es ist nicht einfach, eine eroberte Person dazu zu bringen, sich in die Niederlage zu fügen, und es wird nicht dadurch leichter, dass man lauthals verkündet, wie richtig das war, dass die Person tüchtig verdroschen wurde. Es ist im Allgemeinen klüger, ihr Entschädigung anzubieten. Und diejenigen, die durch den Kampf nicht gelitten haben, können (und ich denke, müssen) Vergebung für die erlittenen Verwundungen empfehlen. Sie sind aber kaum dazu berechtigt, diese zu verlangen.“


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Anmerkungen und Quellen

[1] Wikipedia

[2] Wikipedia

[3] Siehe: Tom Segev: 1967. Israels zweite Geburt. Siedler, München 2007, ISBN 3-88680-767-3.

[4] Der französische Originaltext findet sich z. B. hier, mit einem offenbar von Rodinson selbst verfassten Vorwort, Link zum pdf.

[5] In englischer Übersetzung erschien der Aufsatz 1973 als Büchlein “Israel. A Colonial-Settler State?“ Monad Press, New York N.Y. Mit dem trotzkistisch eingefärbten Vorwort war Rodinson nicht ganz einverstanden, siehe sein Vorwort in der in Fußnote 4 zitierten Version.

Herzlichen Dank an Renate Hanauer, die mir dieses Buch aus dem Nachlass ihres verstorbenen Mannes, des jüdischen Menschenrechtsaktivisten Ned Hanauer, schenkte und so mir zur Kenntnis brachte! S. http://qumsiyeh.org/nedhanauer/

[6] https://fr.wikipedia.org/wiki/Maxime_Rodinson

[7] https://fr.wikipedia.org/wiki/Achille_Mbembe

[8] Thomas Weber: „Israel, die Juden und wir“: Ein Artikel von Achille Mbembe aus dem Jahr 1992 belegt, dass die Auseinandersetzung mit Israel der Ausgangspunkt seiner ganzen Theorie ist. FAZ, 9. Mai 2020. Link zur FAZ.

[9] ebenda

[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Achille_Mbembe#Work

[11] ebenda

[12] Link zum New York Review of Books

[13] Einige herausragende Beispiele:

a) Akademiker aus In- und Ausland, 1. Mai 2020: „Solidarität mit Achille Mbembe“, https://bit.ly/35kZ6p0

b) Jüdische Akademiker und Künstler aus Israel und anderen Staaten an Bundesminister Seehofer, 30. April 2020: Appell zur Abberufung des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein https://bit.ly/3fbFiJq

c) Aleida Assmann, Frankfurter Rundschau, 4. Mai 2020: Link zur Frankfurter Rundschau

d) Eva Illouz im Interview mit der ZEIT, 7. Mai 2020: Link zur Zeit

e) Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung, 18. Mai 2020: „Schaden für die Meinungsfreiheit“. Link zur Süddeutschen

f) Appell 700 afrikanischer Intellektueller an Bundeskanzlerin und Bundespräsidenten zur Abberufung des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein, 18. Mai 2020: Link zu Avaaz, deutsche Übersetzung

g) Stephan Detjen im Deutschlandfunk, 23. Mai 2020: „Antisemitismusbeauftragter als diskursiver Schrankenwärter“: Link zum Deutschlandfunk

h) Ralf Michaels, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Juni 2020: „Deutschstunde für alle Welt“. Link zur FAZ

[14] a) Katja Maurer, medico international, 24. April 2020, https://www.medico.de/blog/neokoloniales-denken-17735/

b) Dominic Johnson, taz, 3. Mai 2020, Link zur taz

[15] Ijoma Mangold, ZEIT, 29. April 2020, Link zur Zeit

Bernd Kaube, FAZ, 10.5.2020, Link zur FAZ

[16] Amos Goldberg & Alon Confino, taz, 1. Mai 2020, Link zur taz

[17] S. hierzu ausführlicher Rolf Verleger: 100 Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus. Westend-Verlag Frankfurt 2017, Kap. 7-11

[18] Alexander Solschenizyn: 200 Jahre zusammen. Teil I: Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916. Herbig, München 2002

[19] Karl Schlögel: Das russische Berlin. Suhrkamp, Berlin 2019.

[20] Siehe Rolf Verleger: Der humanistische Zionismus. Blätter für deutsche und internationale Politik, Oktober 2011

[21] Harold Shukman: The relations between the Jewish Bund and the RSDRP, 1897–1903, Dissertation, University of Oxford, 1961 Link zur University of Oxford

[22] S. ausführlich Shukman, a.a.O., und die groben Linien nachzeichnend Verleger (2017), a.a.O.

[23] S. Verleger (2017), a.a.O.

[24] https://de.wikipedia.org/wiki/Sykes-Picot-Abkommen

[25] https://en.wikisource.org/wiki/Zionism_versus_Bolshevism

[26] Mitri Raheb: Christ-Sein in der arabischen Welt. 25 Jahre Dienst in Bethlehem, gesammelte Aufsätze und Reden eines kontextuellen Theologen aus Palästina (Mit einem Vorw. von Khouloud Daibes und einem Nachw. von Manfred Kock), AphorismA, Berlin 2013

[27] Rodinson (1973), a.a.O., S.56. Übersetzung aus der englischen Version: R.V.

[28] Der Regisseur Spike Lee im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, 6. 6. 2020, S.17.

[29] Rodinson (1973), a.a.O., S.96. Übersetzung aus der englischen Version: R.V.

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