Die Spannungen zwischen Ahrar al-Sham und der Nusra-Front nehmen seit Monaten zu. Vordergründig geht es beim Streit zwischen den beiden größten bewaffneten Oppositionsgruppen um die Einhaltung der seit 27. Februar geltenden Waffenruhe. Äußerungen ihrer Führer deuten aber auf einen grundsätzlicheren Konflikt um den Führungsanspruch im seit fünf Jahren anhaltenden Krieg hin.
Die zwischen den USA und Russland ausgehandelte Waffenruhe wird zwischen den verschiedenen Rebellengruppen weiterhin kontrovers diskutiert. Während jihadistische Hardliner den Friedensprozess verurteilen, unterstützen ihn pragmatischere Islamisten. Hinzu kommt die Niederschlagung von Protesten im von Rebellen gehaltenen Idlib im März, die die Allianz zwischen den beiden größten aufständischen Fraktionen Ahrar al-Sham und Nusra-Front weiter belastet. Für den Aufstand in Syrien bedeuten die Beziehungen zwischen diesen beiden größten islamistischen Fraktionen nichts weniger als eine Frage von Leben und Tod.
Obwohl diese Gruppen sowohl politisch als auch auf dem Schlachtfeld sehr oft eng kooperieren, unterscheiden sie sich doch in wichtigen Punkten. Die von den USA und der EU als Terrororganisation gelistete Nusra-Front versteht sich ganz explizit als salafistisch-jihadistisch, viele ihrer Anführer sind Nicht-Syrer und die Gruppe hat al-Qaida die Treue geschworen. Während Ahrar al-Sham sich der Errichtung einer sunnitischen Theokratie ähnlich stark verpflichtet fühlt, rekrutiert sich diese Gruppe vorwiegend aus Einheimischen, lehnt ausländische Einmischung und Angriffe ab und genießt auch internationale Unterstützung. Vor allem die Türkei und Qatar zählen zu ihren Verbündeten.
Die am 22. Februar 2016 zwischen den USA und Russland ausgehandelte Vereinbarung, die ab dem 27. Februar zu einer teilweisen Waffenruhe führte, wurde zur Belastungsprobe ihrer Allianz und brachte bereits latent vorhandene Interessenkonflikte an die Oberfläche. Die Nusra-Front ist ein ausgesprochener Gegner der Vereinbarung und des politischen Prozesses insgesamt. Sie verdammt ihn als kreuzzüglerisches Unternehmen, das den syrischen Aufstand auslöschen wolle. Auch nach der Waffenruhe ruft sie weiterhin zu Attacken gegen die Regierung von Bashar al-Asad auf, obwohl sie sich in Wahrheit seit dem 27. Februar zurückhält. Dies könnte mit Befürchtungen der Gruppe zu tun haben, sich von der syrischen Zivilbevölkerung zu entfremden oder den Zorn lokaler Verbündeter wie der Ahrar al-Sham auf sich zu ziehen. Kämpfer der Nusra-Front beschreiben die Waffenruhe in einem Gespräch mit einem Reuters Korrespondenten als Verzögerungstaktik, deren Ende unausweichlich sei, da sie nicht funktionieren werde.
Seither haben wiederholte Berichte auf erhöhte Aktivitäten der Nusra-Front südlich von Aleppo hingewiesen. Allerdings ist es schwer herauszufinden, von welcher Seite die Kämpfe ausgehen, da die Asad-Regierung und ihr russischer Alliierter die Nusra-Front von der Waffenruhe ausgenommen haben.
Im Gegensatz dazu unterstützt Ahrar al-Sham insgeheim die Waffenruhe, auch wenn viele ihrer Kommandeure ihren Unmut darüber äußern. Um ihre Unterstützung der Waffenruhe zu unterstreichen, veröffentlicht die Gruppe tägliche Berichte über Verletzungen der Waffenruhe durch die Asad-Regierung. Die Entscheidung, sich an die Waffenruhe zu halten, soll ihre ausländischen Sponsoren besänftigen und die Beziehungen zum Mainstream der Aufstandsbewegung festigen, der unter dem Schirm der Freien Syrischen Armee firmiert.
Niederschlagung von Protesten in Idlib
Die Spannungen zwischen beiden Fraktionen schienen in einen offenen Konflikt umzuschlagen, als bewaffnete Männer, die angeblich zur Nusra-Front gehörten, eine Demonstration in Idlib-City attackierten. Seit die Stadt im Frühjahr 2015 in die Hände der Rebellen fiel, war Idlib eine Hochburg beider Gruppen, die gemeinsam die Jaish al-Fath-Allianz bildeten, um die Stadt zu kontrollieren. Aktivisten in Idlib hatten jedoch versucht – wie anderswo auch – die Waffenruhe für friedliche Proteste auszunutzen. Auf diesen Demonstrationen ist in der Regel die syrische Unabhängigkeitsflagge zu sehen, die von der Hauptströmung der Opposition als auch von der Freien Syrischen Armee bevorzugt wird, aber von puristischen Jihadisten wie der Nusra-Front als Symbol eines unislamischen Nationalismus abgelehnt wird. Ahrar al-Sham hingegen hat diese Flagge zwar nie eingesetzt; doch es scheint so, als würde sie sich zunehmend damit arrangieren und lehnt ihren Einsatz durch Dritte nicht mehr ab.
“Wir riefen die Menschen zur Demonstration um 15 Uhr auf, weil wir dachten, wir könnten die breite Protestbewegung in der Stadt wiederbeleben“, berichtet der Aktivist Ibrahim al-Idlibi der Nachrichtenagentur AFP. Als die Demonstranten in Richtung des Hauptplatzes gingen, blockierten Nusra-Front-Kämpfer den Weg, so Idlibi weiter: „ Sie begannen damit, die Demonstranten zu bedrängen und sie mit ihren Waffen zu bedrohen.“ Al-Idlibis Bericht endete damit, dass die Jihadisten zehn Demonstranten verhafteten und die Unabhängigkeitsflagge durch ihre eigene, schwarze Flagge ersetzten.
Lokale Aktivistennetzwerke veröffentlichten daraufhin Stellungnahmen, in denen sie Jaish al-Fath dazu aufforderten, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Nusra-Front reagierte darauf mit einem halbherzigen Dementi und behauptete, dass Jaish al-Fath als Ganzes und nicht nur irgendeine einzelne Fraktion verantwortlich für die Aufrechterhaltung der Ordnung sei. Unerschrockene, lokale Oppositionsaktivisten gingen danach demonstrativ auf die Straße, um ihre Ablehnung zu zeigen und die Unabhängigkeitsflagge zu hissen. Diese Versammlungen wurden Berichten zufolge auch von Mitgliedern von Ahrar al-Sham begleitet. Einige Tage später, veröffentlichte die zentrale Führung von Ahrar al-Sham eine formelle Verurteilung der Ereignisse und rief alle beteiligten Fraktionen dazu auf, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings vermied es die Gruppe, selbst die Schuldigen beim Namen zu nennen.
In der Woche darauf, haben viele Anführer von Ahrar al-Sham, einfache Mitglieder und Medienaktivisten soziale Medien genutzt, um aufs Geratewohl „Extremisten“ aufs Korn zu nehmen, die, wie sie behaupten, keine Verbindung zur Stimmung im Volk hätten. Nach der Niederschlagung der Proteste von Idlib, veröffentlichte Khaled Abu Anas, einflussreiches Gründungsmitglied von Ahrar al-Sham aus Saraqeb in der Provinz Idlib, einen vorsichtig formulierten Tweet:
„Die Fehler von Individuen fallen nicht auf ihre Gruppe zurück, außer wenn Gruppen diese rechtfertigen, sich weigern diese anzuerkennen, andere dafür beschuldigen, es verpassen, sich dafür zu entschuldigen oder den Schuldigen in Schutz nehmen, anstatt ihn zur Rechenschaft zu ziehen.“
Andere hochrangige Kommandeure von Ahrar al-Sham stimmten ebenfalls auf sozialen Medien ein. Abu Azzam al-Ansari, Mitglied des Schura-Rats der Gruppe aus Homs, schrieb auf Twitter:
„Unsere Bewegung hat sich nicht an der Unterdrückung von Demonstrationen beteiligt und würde das auch niemals tun. Aber wir haben versagt, die Demonstranten vor denjenigen zu beschützen, deren Verhalten nicht von Fehlern frei ist. Das Problem sind nicht Flaggen oder Farben – diese sind lediglich ein Stück Stoff und nicht ein Tropfen muslimischen Blutes wird für sie vergossen werden. Das Problem sind existierende Praktiken, die darauf beruhen, andere zu Ungläubigen oder Verrätern zu erklären und Anschuldigungen in den Raum zu stellen.“
Abu Azzam betonte außerdem, wie wichtig es sei, eine friedliche Lösung für diese Probleme zu finden. Er fügte an, dass die meisten Probleme „durch einen Dialog gelöst werden könnten, der in Liebe und gutem Glauben wurzelt“. Gleichzeitig jedoch, verwies er auf die Größe des Problems: „ In Syrien und in der islamischen Welt müssen wir in einen Dialog mit Argumenten, Logik und Beweisen treten, so dass wir dadurch sicherstellen, dass unsere Waffen auf die Herzen unserer Gegner allein gerichtet sind.“
Eine Bruchlinie zeichnet sich ab
Diese Ereignisse illustrieren drei wichtige Dynamiken innerhalb der syrischen Opposition:
Erstens: In der Tat gibt es einige fundamentale Differenzen zwischen Ahrar al-Sham und der Nusra-Front. Trotz ihrer engen Allianz und ihren gemeinsamen Wurzeln im jihadistischen Salafismus, haben Kommandeure von Ahrar al-Sham vermehrt versucht, sich von der Militanz im Stile der al-Qaida abzusetzen. Diese Differenzen sind politisch motiviert, wie man am Konflikt über den politischen Prozess und den Waffenstillstand sehen konnte. Zudem sind die Differenzen sehr substantieller Natur, wie man an den Beziehungen beider Gruppen zur syrischen Zivilgesellschaft und zu internationalen staatlichen Unterstützern sehen kann.
Doch mit zunehmender Dauer, kristallisieren sich auch ideologische Differenzen heraus: Ahrar al-Sham scheinen ein Projekt zu verfolgen, das der Syrien-Kenner Sam Heller als “revisionistischen Jihad” bezeichnet. Ihm zufolge verortet die Gruppe ihre Wurzeln in den jihadistischen Bewegungen der 1970er, 80er und 90er Jahre, die allesamt aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen sind. Dadurch wolle sie sich vom modernen Salafismus-Jihadismus abheben, der seit den Attacken vom 11. September und dem Irakkrieg von 2003 vorwiegend mit internationalem Terrorismus und sektiererischem Blutvergießen in Verbindung gebracht wird. Während dieser Prozess eine retroaktive Wiederaneignung lange totgeglaubter Ideologien ist und zu einem großen Teil aus Rosinenpickerei unter den zum Teil widersprüchlichen Aussagen besteht, scheint er dennoch eine genuine doktrinäre Evolution zu repräsentieren.
Zweitens: Der Friedensprozess fördert diese Differenzen ans Tageslicht. Als Ahrar al-Sham letzten Dezember entschied, an einer saudisch-US-amerikanisch gesponserten Konferenz teilzunehmen, an der auch moderate Gruppen teilnehmen würden, sprach der Anführer der Nusra-Front Abu Mohammed al-Jolani in drohendem Ton von „Verrat“ – ohne jedoch Ahrar al-Sham explizit zu nennen. Ahrar al-Sham antwortete postwendend und ließ die Öffentlichkeit wissen, dass Jolani wohl „geistig labil“ sei. Als die Waffenruhe am 27. Februar eintrat, verdammte Jolani diejenigen Rebellenfraktionen, die den von den „Kreuzzüglern“ Russland und USA oktroyierten Deal respektieren würden.
Die erneuerte Protestbewegung, ähnlich der von 2011, hat diese Differenzen wieder erhöht. Andererseits haben die Proteste Ahrar al-Sham und anderen moderaten Fraktionen etwas Rückenwind gegeben. Die doppelzüngige Einstellung der Nusra-Front gegenüber der Waffenruhe lässt sie genauso heuchlerisch erscheinen, wie Ahrar al-Sham manchen salafistischen Hardlinern erscheint. Die Fortsetzung von Demonstrationen wird von vielen Pragmatikern und nicht-Jihadisten als populärer Vertrauensbeweis für ihre Strategie wahrgenommen. Aber dieser Effekt könnte sich schnell in sein Gegenteil verkehren, wenn es wieder zu Kämpfen kommen sollte, vor allem dann, wenn die Regierung von Asad und Russland die Kämpfe provozieren sollten.
Drittens: Beide Gruppen wollen die zwischen ihnen bestehenden Differenzen einhegen, aber Ahrar al-Sham verfolgt dieses Ziel mit viel größerem Eifer als die Nusra-Front. Auf ideologischer Ebene ist die Nusra-Front einer Herausforderung nie aus dem Weg gegangen. Im Gegensatz dazu fährt Ahrar al-Sham fort, die Nusra-Front und andere radikale jihadistische Gruppen zu besänftigen und versucht es zu vermeiden, Differenzen offen auszutragen. Selbst wenn die Gruppe sich für moderate Alliierte einsetzt und diese gegen jihadistischen Druck beschützen will, redet sie lange um den heißen Brei herum, anstatt die Nusra-Front explizit zu erwähnen.
Der offensichtliche Grund dafür liegt darin, dass Ahrar al-Sham weiß, dass ein Bruch zwischen ihnen und den jihadistischen Falken die Opposition als Ganzes auf dem Schlachtfeld schwächen würde. Außerdem weiß sie, dass die Nusra-Front ideologisch viel zu strikt ist, als dass sie in einem Konflikt, der auch Fragen der Doktrin umfasst, nachgeben oder Kompromisse eingehen würde.
Des Weiteren weiß Ahrar al-Sham, dass sie zu schwach und innerlich gespalten ist, um seinem jihadistischen Alliierten die Stirn zu bieten. Falls es zu einer großen bewaffneten Auseinandersetzung käme, würden sich aber wohl beide Gruppen spalten: Denn genau so wie Ahrar al-Sham´s militärischer Flügel kompromisslose Jihadisten in seinen Reihen hat, so befinden sich bei der Nusra-Front lokal rekrutierte Syrer und Pragmatiker, die willens sind, den globalen Terrorismus zu meiden, falls es ihrer Sache in Syrien hilft. Dennoch würde eine Konfrontation Ahrar al-Sham weit härter treffen als die Nusra-Front, weil die Bruchlinie im Gegensatz zur Nusra-Front nicht an ihren Rändern verläuft, sondern durch ihre Mitte.
Auch aus diesem Grund sollte man die Entwicklungen in den von Rebellen gehaltenen Territorien im Auge behalten. Unabhängig von der Frage, welchen Ausgang der Friedensprozess und die Waffenruhe nehmen, ist dies ein Moment, der möglicherweise die Beziehungen zwischen der Nusra-Front und Ahrar al-Sham und die internen Dynamiken auf Dauer verändern könnte.
Aron Lund ist der Herausgeber von Syria in Crisis (Carnegie Endowment for International Peace). Aus dem Englischen von Imad Mustafa. Der Beitrag erschien in der neusten Ausgabe der Zeitschrift „inamo – Informationsprojekt naher und mittlerer Osten„, die hier bestellt werden kann.
Eine Antwort
Hui, das scheint aber ein alter Artikel zu sein wenn Dieser der ehemaligen Waffenruhe noch irgendeine Relevanz zuschreibt.
Ansonsten habe ich das Gefühl hat der Autor die Proteste zum Jahrestag der „Revolution“ innerhalb der Waffenruhe und dieser Niederschlagung durch al-Nusra verwechselt. Die gesamten Proteste hatten nur eine Relevanz mit der FSA
Der bis heute andauernde Protest von der Heimatbasis der Division 13 (FSA) in Ma’rat al-Nu’man gegen al-Nusra als prominentestes Beispiel z.B. hatte keinerlei Zusammenhang mit Ahrar al-Sham, sie waren immer sehr neutral in dieser Haltung.
Al-Nusra hat also ein Problem mit moderaterEN Kräften, aber nicht mit Ahrar, weil Diese nichts mit den Protesten zu tun hatten.