Der Tod des CDU-Politikers und nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat zu einer breiten öffentlichen Debatte über rechtsterroristische Netzwerke geführt. Denn es hat sich der Verdacht erhärtet, dass der Politiker durch einen oder mehrere neonazistische Täter ermordet worden sein könnte.
Die Polizei nahm aufgrund von DNA-Spuren am Tatort einen Mann fest, der laut antifaschistischen Recherchen[1] lange Jahre in der extrem rechten Szene Nordhessens aktiv gewesen ist. Die Ermittlungen sind nach aktuellem Stand noch im Gange, aber schon gibt es eine Debatte darüber, ob der Festgenommene als Einzeltäter gehandelt haben könnte oder es weitere Unterstützer aus dem „Combat 18“ Umfeld gegeben hat. In der Vergangenheit wurden rechtsterroristische Attentate mitunter als „Amokläufe“ von einzelnen verharmlost, wodurch gleichsam die ideologischen Zusammenhänge solcher Taten negiert werden. Unabhängig vom Fall Lübcke ist jedoch die Frage nach einer vermeintlichen Einzeltäterschaft bereits falsch gestellt.
Kein Attentäter aus dem extrem rechten Spektrum handelt in einem luftleeren Raum. Aus der Aufarbeitung der NSU-Mordserie wissen wir hinreichend, dass sich die späteren Täter im Zuge der Pogrome Anfang der 1990er Jahre, der daraufhin erfolgten Asylrechtsverschärfungen und durch die Inbesitznahme von demokratischen Räumen radikalisierten – gesellschaftliche Prozesse, die gerade hochaktuell sind. Die Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse im Zuge des globalen autoritären Rechtsrucks, die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren und die damit einhergehende diskursive wie physische Entfesselung extrem rechter Gewalt verdichten sich in rechtsterroristischen Attentaten, die nicht auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt bleiben (Stichwort: Christchurch-Attentat in Neuseeland). Ohnehin stellten sich viele vermeintlich isoliert agierende Einzeltäter im späteren Verlauf der Aufklärung als vernetzt heraus, man denke nur an Josef Bachmann, der Rudi Dutschke auf offener Straße anschoss und der nicht nur zur NPD, sondern auch zur sogenannten „Braunschweiger Gruppe“ Kontakte unterhalten haben soll.
Aktensperrungen und -vernichtungen
Der mutmaßliche Tathintergrund holt zudem eine Episode aus dem NSU-Untersuchungsausschuss Hessen wieder hervor, in dem es um die Kenntnisse der Sicherheitsbehörden in Bezug auf das Gefährdungs- und Gewaltpotenzial der extrem rechten Szene in Nordhessen ging und der zugleich zeigt, wie die Sicherheitsbehörden eine hinreichende rechtsstaatliche Aufarbeitung verhindern. Der mutmaßliche Täter im Mordfall Lübcke soll Verbindungen zum militanten Combat 18-Netzwerk gehabt haben. Auch im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss war dieser Teil der extrem rechten Szene immer wieder Gegenstand der parlamentarischen Aufarbeitung. Vertreter der Sicherheitsbehörden, allen voran vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV), zeigten sich indes in Bezug auf diese Strukturen entweder unwissend oder verbargen ihre Kenntnisse.[2] Der ehemalige Innenminister Boris Rhein gab im Jahr 2012 einen Prüfbericht in Auftrag, der zusammentragen sollte, ob der Verfassungsschutz Kenntnisse über den NSU oder andere Aktivitäten der extrem rechten Szene hatte und nicht sachgerecht verwendet hat. Laut dem Bericht wurden durch das LfV zwischen 1992 bis 2012 insgesamt 950 Hinweise erst nachträglich weitergegeben, wobei 41% dieser Hinweise einen möglichen Waffen- und Sprengstoffbesitz von Personen aus der extrem rechten Szene betrafen.[3] Ebenso ist in dem Bericht der Hinweis zu finden: „Bei sehr wenigen Aktenstücken ließ sich ein möglicher Bezug zum NSU-Trio ableiten oder es wurden Hintergrundinformationen mit möglichen Bezügen zum NSU-Umfeld sowie sonstige Hinweise zu möglichen rechtsterroristischen Aktivitäten im Allgemeinen erkannt.“[4] Überdies soll in dem Bericht davon die Rede sein, dass in einem Briefwechsel von 1999 der Begriff „National Sozialistische Untergrundkämpfer Deutschlands“ gefallen sei.[5] Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich in diesem Bericht auch Hinweise auf den mutmaßlichen Täter im Fall Lübcke, sein politisches Umfeld in Nordhessen und Querverbindungen zum NSU finden.
Die Fraktion DIE LINKE im hessischen Landtag konnte im Laufe des Jahres 2017 erreichen, dass einige Teile des Prüfberichtes vom Geheimhaltungsgrad „Geheim“ auf „Nur für den Dienstgebrauch“ heruntergestuft wurden. Der Großteil des Berichts selbst wurde für einen beispiellos langen Zeitraum als geheim eingestuft: für insgesamt 120 Jahre bis ins Jahr 2134. Selbst Ministerpräsident Volker Bouffier zeigte sich angesichts dieser ungewöhnlichen Frist überrascht und meinte bei seiner Zeugenbefragung im Untersuchungsausschuss, er könne sich in seiner Amtszeit nicht an einen solchen Vorgang mit einer derart langen Geheimhaltungsfrist erinnern.[6]
In der Regel können öffentliche Unterlagen bis zu 30 Jahre, besonders geheimhaltungsbedürftige Papiere bis zu 60 Jahre geheim gehalten werden, bis man auf sie in den Archiven zugreifen kann, so auch die Regelung in § 13 Abs. 1 des Hessischen Archivgesetzes. Laut dem Sondervotum der LINKEN wurden die archivrechtlichen Schutzfristen durch den Erlass einer Richtlinie für Verschlusssachen durch den damaligen Leiter des Verfassungsschutzes umgangen, sodass „Dokumente im LfV einer Geheimhaltung von bis zu 120 Jahren unterliegen können, damit ›Informationen für die gesamte Lebensdauer der handelnden Personen und der nachfolgenden Generation unter Verschluss bleiben (wenn sie nicht vorher aufgrund Wegfallens der Erforderlichkeit vernichtet wurden)‹.“[7] An diesem Beispiel zeigt sich eindrücklich, wie das gültige Archivrecht sowie seine extensive Ausgestaltung durch die Exekutive in der Praxis dazu führt eine hinreichende rechtsstaatliche Aufarbeitung zu konterkarieren.
Rechter Vigilantismus
Im Zusammenhang mit dem Fall Lübcke werden in vielen Medien, von der Süddeutschen Zeitung bis zur Talkrunde bei Anne Will, Analogien zur Roten Armee Fraktion gezogen. Auch wenn Journalisten, diesen Vergleich benutzen, um auf die Opferauswahl und die politische Dimension des Falles hinzuweisen, wird damit indes eine adäquate Analyse des Rechtsterrorismus und seiner Gefahren verstellt. Nicht nur gibt es wesentliche Unterschiede in der Strategie, z.B. indem Rechtsterroristen in der Regel auf Bekennerschreiben verzichten und damit ihre Tat als Exekution eines vermeintlich hegemonialen Volkswillens inszenieren, sondern das Verhältnis der extremen Rechten zum Staat ist entscheidend, um ihn zu analysieren.
Im Anschluss an den Soziologen und Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent könnte man den Mord an Walter Lübcke, falls er aus dem extrem rechten Umfeld begangen wurde, dem sogenannten „Vigilantismus der dritten Ordnung“ zurechnen: „Vigilantismus dritter Ordnung greift den Staat (beziehungsweise seine Repräsentantinnen und Repräsentanten) an, weil dieser in die Hände des ›Feinds‹ gefallen scheint, eine Veränderung mit demokratischen Mitteln im Sinne der Vigilantinnen und Vigilanten als unmöglich angenommen wird oder weil die vermeintlich ›manipulierten‹ Organe des Staats für sie zur Bedrohung werden.“[8] Lübcke war gerade Gegenstand extrem rechter Propaganda, weil er im Sommer 2015 die Aufnahme und Unterbringung von Schutzsuchenden bei einer Bürgerversammlung verteidigte. Die ZEIT hat ausführlich dargestellt, wie Betreiber extrem rechter Youtube-Channels, Reichsbürger und Pegida-Aktivisten Lübcke zu einem zentralen Gegenstand ihrer Hassreden gemacht haben. Zeitweise stand der Politiker unter Polizeischutz. Nichtsdestotrotz ist fraglich, ob staatliche Behörden alle Kenntnisse, auch über die extrem rechte Szene, hinreichend verarbeitet haben, um das Leben des Betroffenen zu schützen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einer längeren Rechtsprechungslinie zur Auslegung des Rechts auf Leben (Art. 2 Europäische Menschenrechtskonvention [EMRK]) rechtsstaatliche Anforderungen an die Konventionsstaaten formuliert, um etwaigen Bedrohungen des Lebens von Personen entgegenzuwirken. In der Rechtssache Osman gegen das Vereinigte Königreich, in dem ein wegen Stalking bekannter Lehrer den Vater eines Schülers ermordet hatte, führte der EGMR aus: „Nach Auffassung des Gerichts muss im Falle, wo eine Anschuldigung erhoben wird, dass die Behörden ihre positive Verpflichtung zum Schutz des Rechts auf Leben im Kontext der oben erwähnten Pflicht, Angriffe gegen die Person zu verhindern und zu bekämpfen, verletzt haben (…), der glaubhafte Nachweis erbracht werden, dass die Behörden zu jenem Zeitpunkt von der Existenz einer realen und unmittelbaren Gefährdung des Lebens eines oder mehrerer bestimmter Personen durch die kriminellen Handlungen Dritter wussten oder gewusst haben sollten und dass sie es unterlassen haben, im Rahmen ihrer Befugnisse Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet erscheinen, diese Gefährdung zu vermeiden“.[9] Vor diesem Hintergrund müsste im Nachhinein aufgeklärt werden, ob staatliche Behörden Kenntnisse über konkrete Tatabsichten hatten. Vorgänge aus jüngerer Zeit, wie die rechtsextreme Anschlagsserie in Berlin-Neukölln auf einen Politiker der Linkspartei, zeigen[10], dass die Sicherheitsbehörden mitunter Kenntnisse von Anschlagsplänen haben, ohne die Betroffenen zu informieren.
Die besondere Gefährlichkeit des „Vigilantismus dritter Ordnung“ entfaltet sich, wenn er in Teilen der Staatsapparate anschlussfähig ist. Für diese Gefahren sprechen zum Beispiel die Ermittlungen gegen drei ehemalige Mitglieder und einem aktiven Beamter aus dem LKA Mecklenburg-Vorpommern, die illegal Munition für die extrem rechte Szene entwendet haben sollen, um deren bewaffnete Vorbereitung auf eine etwaige Machtübernahme im Rahmen eines Bürgerkriegs zu unterstützen. Dieses Amalgam aus einer radikalisierten gewaltbereiten rechten Szene auf der Straße und ihrer partiellen Repräsentanz in den deutschen Staatsapparaten ist eine ernsthafte Gefahr, die schon lange von den politisch Verantwortlichen nicht ernst genommen wird.
Maximilian Pichl hat Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft studiert. Der Beitrag erschien zuerst in veränderter Form auf dem Verfassungsblog am 19. Juni 2019: verfassungsblog.de/rechtsterrorismus-und-staat/. Der Autor forscht an der Universität Frankfurt am Main und an der Universität Kassel zur rechtsstaatlichen Aufarbeitung der NSU-Mordserie und zur Krise der europäischen Migrationspolitik. Er ist (gemeinsam mit Benjamin-Immanuel Hoff, Heike Kleffner und Martina Renner) Herausgeber des Buches „Rückhaltlose Aufklärung? NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungsausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl“, VSA: Verlag Hamburg 2019; darin hat er zudem den Beitrag „Aufklärung im Parlament. Die NSU-Untersuchungsausschüsse im Vergleich“ verfasst.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der aktuellen Juli/August-Ausgabe von „Sozialismus.de“, eine Zeitschrift für die Debatte der gewerkschaftlichen und politischen Linken. (Probe)-Abonnements und kostenlose Probehefte können auf www.sozialismus.de bestellt werden.
[1] Siehe dazu die umfassenden Beiträge von Exif Recherche (exif-recherche.org/) und NSU Watch (www.nsu-watch.info).
[2] Vgl. zum Beispiel die 17. Sitzung des Ausschusses und die Kritik an der Aufarbeitung von NSU Watch Hessen (hessen.nsu-watch.info/2016/01/06/bericht-zur-17-oeffentlichen-sitzung-des-nsu-untersuchungsausschusses-im-hessischen-landtag-21-12-2015/). Siehe hierzu auch: Hermann Schaus/Milena Hildebrand/Adrian Gabriel: Scheibchenweise Aufklärung. Der NSU-Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag, in: Benjamin-Immanuel Hoff/Heike Kleffner/Maximilian Pichl/Martina Renner (Hrsg.): Rückhaltlose Aufklärung? NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungsausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl, Hamburg 2019.
[3] Sondervotum zum NSU-Untersuchungsausschussbericht der Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag, abrufbar unter linksfraktion-hessen.de/site/component/jdownloads/send/4-dokumente-sonstiges/49-nsu-untersuchungsausschuss-bericht-der-fraktion-die-linke.html, S. 205.
[4] Ebd., S. 206.
[5] Pitt von Bebenburg: Hinweis auf NSU nicht verfolgt, in: Frankfurter Rundschau vom 28. Juni 2017.
[6] Sondervotum NSU-Untersuchungsausschussbericht der Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag, (siehe Fn.3), S. 208.
[7] Ebd., S. 208.
[8] Matthias Quent: Selbstjustiz im Namen des Volkes: Vigilantistischer Terrorismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24/25-2016; www.bpb.de/apuz/228868/vigilantistischer-terrorismus?p=all
[9] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Osman gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 28. Oktober 1998, Individualbeschwerdenummer 87/1997/871/1083, Rn. 116, eigene Übersetzung.
[10] Malene Gürgen: Rechte Anschläge in Berlin-Neukölln. Mit Wissen der Behörden, in: taz vom 20. Januar 2019.
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