Werden Sie im nächsten Jahr einen neuen Personalausweis brauchen? Wenn vor dem 3. August, dann haben Sie Glück. Denn vom 3. August an müssen Sie die Abdrücke Ihrer beiden Zeigefinger beim Bürgeramt abgeben. Die werden dann per Chip in Ihrem Ausweis gespeichert, so dass Sie sie Ihr Leben lang nicht mehr loswerden; das ist fatal, wenn Ihnen zum Beispiel die Abdrücke von Datenbetrügern gestohlen werden.
Wie kam uns das ohne jede öffentliche Debatte ins Haus? Am Donnerstag, den 5. November, hat der Bundestag mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD gegen die Stimmen der Linken, des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der FDP bei Stimmenthaltung des AfD einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Sicherheit im Pass- und Ausweiswesen gebilligt. Nach diesem Gesetz werden in Zukunft alle Bürger, die sich einen neuen Personalausweis ausstellen lassen, vom Bürgeramt so behandelt wie bisher Verdächtige von der Polizei.
Mit den Fingerabdrücken wollen die Polizei und andere Behörden sicherer als mit dem Foto feststellen, ob Sie diejenige/derjenige sind, als die/der Sie sich ausgeben, also Ihre Identität. Anders als bei den Fotos bekommt die Polizei mit den Fingerabdrücken aber eine Kenntnis von den Bürgern, die diese selbst nicht haben. Ihre Identität wird mit einem Merkmal festgestellt, das sich ihnen selbst nicht erschließt. Sie wissen nicht, worin ihre Identität für den Staat besteht. Der Staat, den sie in der Demokratie als intelligente und moralische Wesen mitbestimmen, behandelt sie wie ein Ding, wenn er sie anhand von Fingerabdrücken identifiziert. Denn er will sie an einem äußeren Merkmal erkennen – wie der Viehzüchter das einzelne Tier anhand eines Brandmals, das das Tier selbst weder lesen kann noch versteht.
Verträgt sich das mit Ihrer Würde als Mensch und Bürger?
Warum ein solcher Eingriff in die Würde und das Recht der Bürger auf „informationelle Selbstbestimmung“ (Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Datenschutz vom 15. Dezember 1983)? Die Regierung und die Parlamentsmehrheit wollen damit die seltenen Fälle vermeiden, in denen sogar die biometrischen Ausweisfotos gefälscht werden, indem man die Konturen unscharf macht und die Farben etwas verschwimmen lässt (morphing); dann können verschiedene Personen sich mit ein und demselben Foto identifizieren. Die Abgeordneten gestehen aber selbst ein, dass es dagegen auch andere Mittel gibt:
Einerseits könnte das Passbild von kommunalen Bürgerämtern digital erstellt und direkt an die Bundesdruckerei übermittelt werden; damit wäre es gegen Manipulationen gesichert. Die Abgeordneten der Regierungsparteien fanden aber, sie sollten dem Einspruch der privaten Fotostudios stattgeben, die ihr Geschäft geschmälert sahen, wenn die Kommunen – „als ein Monopolbetrieb“ – die Passfotos machen. Vernichtender könnte nicht vorgeführt werden, was es mit den unablässig beschworenen demokratischen Werten auf sich hat: Die Gewinninteressen einer kleinen Branche haben für das Parlament Vorrang vor der Würde aller Bürger und dem Schutz ihrer privaten Daten.
Andererseits pflegt sich die Polizei, wenn sie an der Identität eines Bürgers zweifelt, bei anderen Behörden zu informieren. Das gestehen die Bundesregierung und die Parlamentsmehrheit ein, wollen es aber der Polizei in Zukunft ersparen, weil es „zeitaufwändige Nachfragen“ bedeutet.
Und dafür die Digitalisierung der Zeigefinger aller Bürger*innen? Das ist eine krass unverhältnismäßige Einschränkung ihrer Grundrechte und deshalb widerrechtlich. Außerdem setzt es die Personen neuen Gefahren des Datenmissbrauchs und krimineller Aggressionen gegen sie aus: Der Chip ist ohne Kontakt auszulesen, auch von denen, die sich Ihrer Identität bedienen wollen. Wie oft müssen Sie Ihren Personalausweis vorlegen! Wem es gelingt, trotz der vorgesehenen Sicherung Ihren Fingerabdruck zu stehlen, kann beispielsweise an Kassen mit der Registrierung von Fingerabdrücken auf Ihre Kosten bezahlen, wie es der Chaos Computer Club schon vor Jahren Journalisten des ARD-Wirtschaftsmagazins PlusMinus vorgeführt hat.
Kann man sich auf die Versicherung der Bundesregierung verlassen, dass die Fingerabdrücke legal nur im Personalausweis gespeichert werden? Kaum, denn auch die biometrischen Fotos wurden einige Jahre nach ihrer Einführung per Gesetz für den „automatischen Abruf“ der Polizei und der Geheimdienste (!) freigegeben. Das Personalausweisgesetz (§15) nimmt die Fingerabdrücke nicht von der Verfügung aus, dass die Sicherheitsbehörden biometrische Daten automatisch abrufen und speichern können. Der bekannte Datenschutzexperte Thilo Weichert hebt das Risiko hervor, dass die biometrischen Daten, das Foto und die Fingerabdrücke, zweckwidrig als Identifikatoren benutzt werden, mittels derer verschiedene andere Daten zu einem Profil einer Persönlichkeit zusammengefasst werden. Sie werden wahrscheinlich von der deutschen und europäischen Maschinerie der staatlichen und privaten Datensammlung erfasst werden, so dass die Personen weit über das hinaus kontrolliert werden, was sie sich vorstellen können.
Mit dem Stichwort „europäisch“ komme ich zu der Rechtfertigung, die Abgeordnete in ihrer Antwort auf meinen Protest an erster Stelle vorbringen: Mit der Verordnung 2019/1157 hat die Europäische Union im vergangenen Jahr die Speicherung von Fingerabdrücken in Identitätsausweisen vom 3. August 2021 an vorgeschrieben. Die Abgeordneten der Bundestagsmehrheit teilen aber nicht mit, dass die EU dabei ihrem Datenschutzbeauftragten nicht folgte. Der stellte im Vorfeld des Beschlusses über die Speicherung fest, dass sie wegen ihrer Folgen für Menschenrechte und Datenschutz der Datenschutzgrundverordnung Art. 35 Abs. 10) der EU nicht genügt (auch in Deutschland wurde kein Gutachten zur Folgenabschätzung angefordert). Das hätte dem Bundestag eine Handhabe gegeben, vor dem Europäischen Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der Verordnung 2019/1157 anzufechten und ihre Umsetzung in nationales Recht bis zur Klärung der Sache auszusetzen (gemäß dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 277). Es wäre bei Weitem nicht der einzige Rechtsstreit Deutschlands mit der EU.
Weiterführende Informationen finden Sie auf den Seiten von digitalcourage.
Dieser Artikel unseres Autors Wilfried Kühn erschien zuerst hier auf Stadtpolitik Heidelberg. Wir bedanken uns vielmals für das Recht zur Übernahme.
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