Screenshot bundestag.de Anhörung Cannabis & Führerschein, Verkehrsausschuss 24.02.2021, Kirsten Lühmann (MdB, SPD) https://dbtg.tv/cvid/7503092

Offener Brief: Würdelose Urinkontrollen im Straßenverkehr & Antwort MdB Lühmann

Bei Verdachtsfällen von Marihuana-Konsum im Straßenverkehr kommt es in Deutschland statt zu Blutkontrollen auf der Wache oder im Krankenhaus oft zu Urinkontrollen direkt vor Ort, die oft ohne jede oder mit nur minimalster Privatsphäre durchgeführt werden. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Offenen Brief des Vorsitzenden des Deutschen Hanfverbands, Georg Wurth (hier findet ihr unser Interview mit Georg) an Kirsten Lühmann, verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, sowie deren Antwort.



Offener Brief an Kirsten Lühmann, verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag, zum Thema „Urinschnelltests im Straßenverkehr“ vom 19.03.2021 (Antwort darunter):

Per Mail an Kirsten Lühmann

CC an alle Mitglieder des Verkehrsausschusses
CC an die drogenpolitischen Sprecher*innen aller Fraktionen

Betreff:
Würdelose Urinkontrollen im Straßenverkehr abschaffen!

Text:

(Offener Brief, zur Kenntnis an die Mitglieder des Verkehrsausschusses)

Sehr geehrte Frau Lühmann!

Als Sachverständiger bei der Anhörung des Verkehrsausschusses zum Thema “Cannabis & Führerschein” am 24. Februar habe ich die Urin-Schnelltests im Straßenverkehr kritisiert, insbesondere weil sie mit entwürdigenden Verfahren in Verbindung stehen: Urinieren unter freiem Himmel, oft unter genauer Beobachtung der Polizei.

Sie haben mir vehement widersprochen, meine Beschreibung als Verallgemeinerung persönlicher Erfahrungen bezeichnet und Ihre eigene Erfahrung aus Ihrer Zeit als Polizeibeamtin beigesteuert, bevor Sie 2009 in den Bundestag kamen. Sie sagen, sie hätten in Niedersachsen nie erlebt, dass jemand “in freier Wildbahn” eine Urinprobe abgeben muss und dass Polizeibeamte zusehen. In solchen Fällen sei – insbesondere bei Frauen – die Grenze zur unwürdigen Behandlung sofort überschritten. Während Ihrer Amtszeit sei mit den Betroffenen immer zur Wache gefahren worden und das Ganze sei in einer Toilette erledigt worden. Alles andere könnten höchstens Einzelfälle sein, was Sie dann für die ganze Bundesrepublik verallgemeinert haben.

Ich habe unsere sehr konträren Aussagen in einem Youtube-Video nebeneinander gestellt und alle, die sich in den letzten Jahren einem Schnelltest unterzogen haben, um Feedback gebeten, wie das abgelaufen ist. Das Video hat zur Zeit über 78.000 Aufrufe, 6.500 Likes und 5.200 Kommentare, die zu einem großen Teil aus entsprechenden Erfahrungsberichten bestehen.
https://www.youtube.com/watch?v=3u2o4y1x2ak
Viel Resonanz hatten wir auch auf unseren anderen Kanälen und direkt per E-Mail.

Die chronologisch ersten 200 Berichte mit weitgehend vollständigen Antworten in den Youtube-Kommentaren haben wir ausgewertet. Ich empfehle allen Empfängern aber auch, mal direkt durch die Kommentare unter dem Video zu scrollen. Was es in vielen Fällen psychisch bedeutet, sich unter Aufsicht zum urinieren gezwungen zu fühlen, lässt sich in Zahlen kaum ausdrücken. Die Leute fühlen sich erniedrigt, entwürdigt, gedemütigt. Und das gilt auch für Männer, nicht nur für Frauen, wie Sie anzunehmen scheinen.

Aber nun zu den Zahlen unserer Auswertung. Abgefragt haben wir das Bundesland der Verkehrskontrolle, ob über die Freiwilligkeit des Schnelltests aufgeklärt wurde, ob es ein Urin-, Schweiß- oder Speicheltest war; bei Urinproben, ob eine Toilette aufgesucht werden konnte, ob die Leute beim Wasserlassen von der Polizei beobachtet wurden und wie sich die Betroffenen dabei gefühlt haben. Außer Sachsen-Anhalt waren alle Bundesländer in der Auswahl vertreten.

Von 198 Angaben hieß es nur in 20 Fällen, dass über die Freiwilligkeit des Urintests aufgeklärt wurde. In weiteren 28 Fällen wurde das zwar erwähnt, aber mit der Zugabe, dass es dann unweigerlich zur Blutprobe komme, was die Betroffenen nicht als freiwillig wahrgenommen haben. In 135 Fällen erfolgte keine Aufklärung über die Freiwilligkeit, der Rest machte dazu keine Angaben.

Von 195 Angaben über die Art des Tests bezogen sich 189 auf Urin, 2 auf Schweiß, 4 auf Speichel.

Zum Ort der Urinabgabe gab es ebenfalls 195 Angaben in unserem Datensatz. Nur 22 fanden auf einer Toilette statt, 163 “draußen”, was laut Kommentaren zwischen “Gebüsch”, “hinter dem Auto” und “Toreinfahrt” alles mögliche bedeuten kann. Viele berichten von der unangenehmen Situation, dabei von vorbeifahrenden Autofahrern, Passanten oder Anwohnern beobachtet worden zu sein.

Von 194 Angaben sagen 153, sie seien von der Polizei beim Wasserlassen beobachtet worden. Die Angaben gehen von “Polizist stand drei Meter hinter mir” über “Polizist stand einen halben Meter neben mir bis “Polizist hat mir mit der Taschenlampe in den Intimbereich geleuchtet”.
Ihre Einlassung, so etwas seien allenfalls seltene Einzelfälle wird übrigens nicht nur durch unsere Umfrage, sondern auch durch etliche Medienberichte widerlegt, z.B. hier bei “Achtung Kontrolle”. Ab Minute 3.52 erklären die Beamten, dass Urinkontrollen unter Aufsicht stattfinden und warum:
https://youtu.be/V3QNMEhQ2E4?t=232

Aus Ihrem Bundesland Niedersachsen kamen übrigens 32 der 200 Rückmeldungen, die wir ausgewertet haben, alles Urinkontrollen. Von diesen Urinkontrollen fanden nur 4 in einer Toilette statt,  die restlichen 28 “in freier Wildbahn”. 22 Personen sagen, sie seien dabei beobachtet worden. Hier noch ein paar Beispiele, alle aus Niedersachsen:

  • gedemütigt, ernidrigt, genötigt, bevormundet, meiner Freiheit beraubt. Ich musste und konnte schlicht kein Wasser lassen, weshalb man mich drei mal ins gebüsch geschickt hat. Nachdem das Wiederholen der Prozedur erfolglos war, durfte ich im Streifenwagen platz nehmen, Blutabnahme auf der Wache. Man hat mir auf Verdacht das Autofahren für 24 Stunden untersagt und mich vor der Wache stehen lassen. Zurück zu meinem Auto konnte ich ein Taxi nehmen.
  • War an einer vierspurigen Straße, zur einen Seite Straße, zur anderen Häuser hinter Bäumen ohne Blätter (da Winter) – musste halb in irgendwelche Büsche und Bäume mit einem kaputten Sprunggelenk klettern für den Anschein von Privatsphäre -Nur von hinten weiter oben, aber keine Ahnung wer von woanders zugesehen hat. -Es war super erniedrigend,
  • Urintest neben der Straße, nichtmal ein Gebüsch o.ä. aber dafür keine genaue Beobachtung. Es gab zuvor übrigens keine Auffälligkeiten meinerseits
  • Ort: Rastplatz B75 Kakenstorf mit Kamera Team Intimbeobachtung: Im angrenzenden Wald mit dem Versuch durch Smalltalk beim Wasserlassen die wirklich unangenehme Situation aufzulockern. Als Frau in ihrer Periode wirklich ein mehr als unangenehmes und herabwürdigendes Erlebnis
  • da dies eine der Hauptzugangsstraßen am Campus war habe ich mir extrem zur Schau gestellt gefühlt.


Betroffen sind davon nicht nur Cannabiskonsumenten, berauschte wie nüchterne, sondern alle möglichen Menschen, bei denen Polizisten eine Berauschung aus irgendwelchen Gründen gerade für möglich halten.

Natürlich sind 200 Datensätze nicht sehr viel, aber die Tendenz ist eindeutig und führt sich in hunderten weiteren Beispielen fort.

Diese erniedrigende Praxis wird tagtäglich auf deutschen Straßen praktiziert, sie gehört zur Routine der Polizei. Von Einzelfällen kann keine Rede sein. Menschen beim Wasserlassen auf die Genitalien zu schauen ist eine Form der sexualisierten Gewalt. Ich fordere die Mitglieder des Verkehrsausschusses auf, diese herabwürdigende Vorgehensweise abzuschaffen!

Mit freundlichen Grüßen
Georg Wurth

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Antwort von Frau Lühmann vom 25.03.2021

Sehr geehrter Herr Wurth,

herzlichen Dank, dass Sie mir mit Ihrem Schreiben nochmal die Möglichkeit geben, meinen Standpunkt zu bekräftigen.

Natürlich habe ich mir Ihr Video angeschaut und viele der Kommentare dazu gelesen. Allerdings widersprechen diese in keiner Weise meinen Einlassungen in der Anhörung am 24. Februar 2021. Auch dort habe ich zu den persönlichen Erfahrungen gesagt, dass es diese „mit Sicherheit gibt“. Wenig nachvollziehbar finde ich allerdings, dass Sie mir meine Erfahrungen aus 27 Dienstjahren bei der Polizei hingegen absprechen wollen. Ich habe persönlich nie erlebt, dass Fahrende nicht ausreichend aufgeklärt und unwürdig behandelt wurden. Auch habe ich Urintests auf der Straße nicht erlebt. Dass dies mittlerweile teilweise anders gehandhabt wird, habe ich in Gesprächen mit ehemaligen Kollegen und Kolleginnen seit der Anhörung in Erfahrung bringen können. Der Vorwurf hingegen, es werde dazu regelmäßig ein Zwang ausgeübt beziehungsweise nicht über die Freiwilligkeit aufgeklärt stimmt weder mit den Berichten noch mit meinen persönlichen Erfahrungen überein.

Ich habe – wie schon erwähnt -nirgends ausgeschlossen, dass es eine Praxis unfreiwilliger Urintests in der Öffentlichkeit in Einzelfällen geben kann. Der Regelfall ist das allerdings nicht, dafür habe ich keinerlei Anhaltspunkte. Vielmehr stimmen viele Fahrende laut Aussagen von Kollegen und Kolleginnen dem Urintest vor Ort zu, da sie die Kosten für den Transport zur Polizeiwache nicht tragen und den Zeitaufwand vermeiden möchten.

Dass Fahrende beim Urinieren nicht vollständig allein gelassen werden, ist ebenfalls Vorschrift. Sonst besteht die Gefahr, dass zum Beispiel statt des eigenen Urins Fremdurin abgegeben wird. Das kommt leider häufiger vor, als man glauben möchte! Bei der entsprechenden Probenabgabe vor Ort ist von den kontrollierenden Beamten natürlich trotzdem auf größtmögliche Diskretion und Wahrung des Abstands zu achten. Eine erzwungene Urinprobe in der Öffentlichkeit ist hingegen nicht akzeptabel und sollte unbedingt gemeldet werden. Das Gleiche gilt natürlich auch für ein indiskretes Verhalten der Beamten.

Allerdings kann ich nur wiederholen: ich habe das in meiner Dienstzeit nie erlebt und hätte ein solches Verhalten von Kollegen und Kolleginnen auch nicht toleriert. Aus dieser persönlichen Erfahrung heraus habe ich berichtet. So wie ich jedem und jeder, die sich bei mir zu diesem Thema melden, die persönliche Erfahrung nicht abspreche, sei mir das ebenso gestattet.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Tests, die alle einen gewissen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bedeuten, entweder die Urinabgabe oder ein Bluttest. Ich verstehe, dass eine solche Kontrolle nicht schön ist und sicherlich auch unangenehm für die betroffenen Personen sein kann. Deshalb dürfen diese nur bei begründetem Verdacht durchgeführt werden.

Den Vorwurf des Sexismus wegen meiner Aussage, ein unfreiwilliger Urintest in der Öffentlichkeit sei unwürdig „insbesondere wenn es sich um Frauen handelt“ kann ich absolut nicht nachvollziehen. Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob sich eine Frau vollständig entblößen muss durch eine heruntergelassene Hose, oder ob ein Mann durch Öffnen der Hose, ohne diese komplett herunterziehen zu müssen, urinieren kann. Das Wort „insbesondere“ schließt Männer auch nicht aus.

Unabhängig vom Geschlecht ist die Wahrung der von mir auch in der Anhörung explizit genannten Würde oberste Priorität. Und wenn es dagegen mutwillige Verstöße gibt, sind diese inakzeptabel.

Mit freundlichen Grüßen

Kirsten Lühmann, MdB
Platz der Republik 1
11011 Berlin


Dieser Artikel erschien zuerst hier auf den Seiten des Deutschen Hanfverbands.

Hier könnt ihr euch unser Interview mit dem Vorsitzenden des DHV Georg Wurth ansehen:

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