Nennt es „Krise“!

Die Europäische Union verfügt über Gelder und Ausrüstung für eine staatliche, nicht-militärische Seenotrettungsmission im Mittelmeer. Die Mittel werden aber nicht angefragt.

Neben der Bundeskanzlerin haben sich verschiedene Fraktionen im Bundestag für eine staatlich organisierte Seenotrettung im zentralen Mittelmeer ausgesprochen. Angela Merkel meinte damit eine Mission der Europäischen Union, die ausdrücklich zivil sein sollte. Auch die von der Bundesregierung am 23. September 2019 mitunterzeichnete „Gemeinsame Absichtserklärung über ein kontrolliertes Notfallverfahren“ appelliert an die EU, ihre Fähigkeiten zu verbessern, um „die Gefahr, dass Menschen auf See umkommen, zu minimieren“.

Der Hintergrund der Äußerungen war der Abzug aller Schiffe aus der Militärmission EUNAVFOR MED, den der damalige italienische Innenminister Matteo Salvini durchgesetzt hatte. Die dort eingesetzten Fregatten hatten bis dahin Tausende Menschen im Mittelmeer geborgen und weitere Tausende an Bord genommen, nachdem sie von kleineren Schiffen privater Organisationen gerettet wurden.

Die EU hat beschlossen, EUNAVFOR MED in vier Wochen zu beenden, sie soll durch eine neue Militärmission zur Überwachung des libyschen Waffenembargos ersetzt werden. Menschenverachtend zynisch heißt es in dem Vorschlag, die Schiffe dieser „Operation Active Surveillance“ mögen weit entfernt von Tripolis kreuzen, wo die Wahrscheinlichkeit von Seenotfällen geringer ist. Das Ertrinkenlassen bleibt also auch unter der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen offizielle EU-Politik.

Wir haben die Bundesregierung gefragt, ob der Vorschlag einer europäischen, zivilen Seenotrettung überhaupt auf EU-Ebene weiterverfolgt wird. Denn die Union verfügt über verschiedene Mechanismen und Instrumente, um zunächst alle Informationen zusammenzutragen, die Anstrengungen in den Mitgliedstaaten zu koordinieren und auch zu finanzieren.

Die Antwort des Auswärtigen Amtes ist jedoch geradezu beschämend. Weder wurden Umsetzungsmöglichkeiten geprüft, noch setzt sich die Bundesregierung in Verhandlungen für neue EU-Fonds dafür ein, weitere Mittel für Such- und Rettungseinsätze einzuplanen. Die Frage, ob die Bundesregierung nach einem Beschluss einer EU-Seenotrettungsmission eigene Schiffe oder Ausrüstung beisteuert, wird sogar als „hypothetisch“ bezeichnet. Die Kanzlerin habe stattdessen sagen wollen, dass die „direkt betroffenen Mittelmeeranrainer“ in die Seenotrettung einbezogen werden müssen.

Damit ist auch die libysche Küstenwache gemeint, die seit zwei Jahren von Italien mit der Durchführung sogenannter „Pull backs“ beauftragt wird. Sie umgehen das Verbot von Zurückweisungen Geflüchteter in Länder, aus denen sie geflohen sind oder wo ihnen Verfolgung droht (sogenannte „Push backs“). Kein EU-Staat darf also Asylsuchende nach Libyen zurückbringen. Die libysche Küstenwache ist daran aber nicht gebunden. Mit diesem Trick entledigt sich die Nobelpreisträgerin EU ihrer Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn die Menschen wieder in die libyschen Folterlager gebracht werden.

Die EU ist genau für den Zweck gegründet worden, ihre Mitgliedstaaten in schwierigen Lagen zu unterstützen. Das gilt auch für eine zivile EU-Seenotrettungsmission, wie ein von uns beauftragtes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag belegt. Das Ertrinken von Flüchtlingen im Mittelmeer fällt unter den Begriff der „Krise“. Davon betroffene Mitgliedstaaten können deshalb den EU-Krisenreaktionsmechanismus (IPCR) aktivieren.

Dies beträfe Malta und Italien, in deren Seenotrettungszonen zahlreiche Unglücke geschehen. Auch die Bundesregierung könnte den IPCR auslösen, sie würde dann vom „Informationsaustausch-Modus“ profitieren, der ein klares Bild von der Lage schaffen soll. Im „Modus der vollständigen Aktivierung“ koordiniert der IPCR dann die Vorbereitung von Reaktionsmaßnahmen. Alle betroffenen EU-Mitglieder könnten anschließend weitere Instrumente und Fördermittel nutzen, darunter das rescEU-Programm. Es hilft Mitgliedstaaten in „Überforderungssituationen“ und unterstützt sie mit Ausrüstung oder „Transportressourcen“.

Um zivile Rettungsschiffe zu schicken, muss die EU das Drama im Mittelmeer also nur als „Krise“ definieren. Wir fragen uns, warum dies angesichts Tausender Toter nicht längst passiert ist. Die Teilnahmslosigkeit der Bundesregierung ist für uns erschütternd, für die Geflüchteten im Mittelmeer ist sie tödlich. Die Bundesregierung trägt hierfür die Verantwortung.

Die Kleine Anfrage erfolgte im Auftrag der vier Abgeordneten Gökay Akbulut (migrationspolitische Sprecherin), Michel Brandt (Obmann im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe), Andrej Hunko (europapolitischer Sprecher) und Ulla Jelpke (innenpolitische Sprecherin). Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes beauftragte Andrej Hunko.


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