Dachlatte oder Kantholz? Vom Einstecken, Austeilen und den Folgen verbaler Brandsätze

Politikerinnen und Politiker sind auch nur Menschen. Daran müssen nicht nur wir, daran muss auch die Gesellschaft hin und wieder erinnert werden. Zum Menschsein gehört die Fähigkeit, sich sozial zu verhalten, empathisch und verständnisvoll mit anderen Menschen umzugehen, es gehört aber auch die Fehlerhaftigkeit des eigenen Handelns ebenso dazu wie die Angst vorm Scheitern, die Aggression und Wut ebenso wie die Verletzlichkeit bis hin zur Sterblichkeit.

Manchmal hat man den Eindruck, all das spiele keine Rolle, es wird erfolgreich verdrängt. Da erleben wir Leute, die in Talkshows oder Interviews mühsam eingeprägte Merksätze ein ums andere Mal wiederholen. Oder jemand, der bzw. die amtlichen Blödsinn erzählt und hinterher nicht dazu steht, sondern eben sagt, er oder sie sei falsch verstanden, falsch zitiert oder böswillig verleumdet worden. So etwa der hessische Ministerpräsident Holger Börner in den 80ern, als er gesagt haben soll, sowas (gemeint waren die Grünen) hätte man auf dem Bau mit der Dachlatte erledigt.

Wir erleben Leute, die ihre eigene Verletzlichkeit nicht zugeben mögen und andere, die damit kokettieren, die sie sogar als Waffe im Meinungskampf einsetzen. Ja, schäbig ist das Theater, das die AfD um die Verletzung ihres Bremer Abgeordneten veranstaltet. Und egal wie schwer er verletzt ist und wodurch diese Verletzung herbeigeführt wurde (ein Kantholz war wohl nicht am Tatort), ergibt das noch lange keinen Grund, seine politischen Auffassungen allein deswegen weniger verachtenswert zu finden. Aber können wir nicht diese zwei Dinge trennen: Den Menschen und seine Rolle? Denn wenn ich den AfD-Politiker aus Bremen nicht in seiner Rolle betrachte, sondern einfach als Menschen, dem Schlimmes geschehen ist und der Schmerz erleiden musste, dann kann ich ihm mein Mitgefühl aussprechen und hoffen, dass sein Schmerz möglichst bald vergeht.

Wenn ich nicht mehr in der Lage bin, seine Rolle und seine Person voneinander zu trennen, dann habe ich ein Problem. Natürlich bin auch ich ein Mensch. Als solchem fällt es mir einfach schwerer, meine Empathie für ein Gewaltopfer zum Ausdruck zu bringen, wenn ich den Eindruck habe, dass dieses Opfer sein Leid inszeniert, um sich persönliche oder politische Vorteile zu verschaffen. Das erhöht meine persönliche Empathieschwelle erheblich – darf sie aber nicht außer Kraft setzen.

Auch als der grüne Außenminister Joschka Fischer beim Parteitag in Bielefeld 1999 von einem Farbbeutel so schwer getroffen wurde, dass sein Trommelfell platzte, empfand ich Mitgefühl und Bedauern. Auch wenn ich Fischer selbst, der diesen Farbbeutel geschickt in seine Rede zur Verteidigung der Bomben auf Belgrad einbaute, für ein einen machtverliebten und völlig empathiefreien Politprofi halte, der mein Mitgefühl damals nur deswegen erhielt, weil er es sich nicht verdienen musste. Und die Gerissenheit, mit der er sein verletztes Ohr einsetzte, um einen durch und durch verbrecherischen Krieg fortsetzen zu können, machte mir das damals verdammt schwer. Aber vielleicht irre ich ja auch: Politikerinnen und Politiker sind auch nur Menschen.

Darin liegt ebenso Gefahr wie Chance. Die Chance liegt darin, dass Menschen nicht nur Fehler machen, sondern diese auch korrigieren können. Dass sie umdenken, umlernen und sich neu orientieren können. Dass sie ein Gewissen haben, auch wenn sie zeitweise viel zu selten darauf hören.

Ich beobachte, dass der Politikbetrieb selbst offenbar die Empathie derjenigen, die in ihm arbeiten, schwer beeinträchtigt. Anders kann ich mir nicht erklären, wie manche immer wieder verbal tief in die Kloschüssel greifen. Beispiel gefällig? „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut.“ Mit diesem Satz gelang es Jens Spahn als neu gewähltem Gesundheitsminister, Millionen von Menschen in Deutschland vor den Kopf zu stoßen. Alle wissenschaftlichen Armutsdefinitionen halten Hartz-IV-Beziehende für arm, nur eine einzige nicht, die in reichen Ländern wie Deutschland nicht angewandt werden kann. Die Betroffenen selbst erleben jeden Tag, wie die Armut ihr Leben durchdringt, was sie sich und ihren Kindern versagen müssen, obwohl es in der Gesellschaft geradezu selbstverständlich ist. Sie müssen sich also durch diesen Satz verhöhnt fühlen.

Oder der bayerische Ministerpräsident mit seinem Spruch vom „Asyltourismus“. Denkt der Mann nicht darüber nach, wie zynisch dieses Wort auf Menschen wirken muss, deren letzte größere Reise keinerlei touristischen Wert hatte, sondern mit Schmerz, Leid und Todesangst verbunden war? Oder denkt er daran, es ist ihm aber gerade recht?

Mein Humanismus gebietet mir, auch im politischen Gegner den Menschen zu erkennen, selbst dann, wenn er mir das total schwer macht. Übrigens geht es dabei nicht nur um ihn den Gegner, die Gegnerin, sondern um mich. Ich will ja auch noch morgen ohne Brechreiz in den Spiegel schauen. Ich will den Politikbetrieb verändern und nicht von ihm zur Unkenntlichkeit verändert werden – leicht gesagt, schwer durchzuhalten. 

Es hat auch nichts damit zu tun, gegenüber Angriffen klein beizugeben und die andere Wange hinzuhalten. Klar kann ich auch austeilen. Aber immer nur so, dass zumindest die theoretische Möglichkeit bleibt, dass das Gegenüber einsieht, im Unrecht zu sein und daraufhin seine Meinung ändert. Dazu ist es notwendig, klar und deutlich zu sagen, was man meint. Wenn man um Positionen und Interessen ringt, sollte man zuerst den eigenen Standpunkt klären und erklären.  Natürlich muss man auch zuspitzen, damit ein Argument im Grundrauschen des Politik- und Medienbetriebs überhaupt wahrgenommen wird. Aber Kanthölzer, Dachlatten und Brandsätze gehören nicht zu den Werkzeugen des Demokratiehandwerks. Ich möchte nicht, dass AfD-Politikerinnen und Politiker Angst um ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit oder ihre Familien haben müssen. Ich möchte, dass die Menschen die Widerwärtigkeit des Rechtsextremismus begreifen und sich ihm entgegenstellen: Entschlossen, radikal, mutig und gewaltfrei.

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