Marx, Reproduktion und das 21. Jahrhundert

Was ist die Soziale Reproduktionstheorie, woher kommt sie und wieso könnte sie wichtig für die gesellschaftliche Analyse unserer Zeit sein? Tithi Bhattacharya ist die Herausgeberin der Ende 2017 erschienenen Essay-Sammlung zur Social Reproduction Theory. Sie ist Professorin für Südasiatische Geschichte an der US-Universität Purdue und Redakteurin des International Socialist Review. Eine Buchbesprechung von David Paenson.

Von Lise Vogel vor 35 Jahren in ihrem Buch »Marxism and the Oppression of Women: Toward a Unitary Theory« entwickelt, vertritt SRT die These von einer gegenseitigen Abhängigkeit des Produktions- und des Reproduktionssektors.

Mit Ersterem ist die in kapitalistischen Unternehmungen stattfindende Ausbeutung vermittels Verkauf der eigenen Arbeitskraft für einen Lohn gemeint.

Mit Letzterem die unbezahlte Arbeit zu Hause zur Herstellung und Wiederherstellung der Arbeitskraft. Diese wird größtenteils von Frauen verrichtet.

In ihrem Vorwort schreibt Bhattacharya, für Marx besitze die Arbeitskraft – im Gegensatz zu allen anderen Waren – die »einzigartige« Eigenschaft »nicht kapitalistisch hergestellt zu werden« (3). Bereits an dieser Stelle sollte man stutzen. Die Einzigartigkeit der Ware Arbeitskraft ist doch, dass sie im Produktionsprozess mehr Werte schafft, als zur eigenen Wiederherstellung erforderlich ist (und der seiner Kinder und anderer nicht oder nicht mehr arbeitenden Teile der Arbeiterklasse).

Wenige Absätze zuvor schreibt Bhattacharya, »lasst uns an den Marxismus die Frage richten: Wenn die Arbeit der Arbeiter den gesamten gesellschaftlichen Reichtum produziert, wer produziert denn Arbeiter?«

(An dieser Stelle ein kleiner Hinweis: Im Englischen gibt es fast keine femininen Ausdrücke für Berufe. Ich lasse daher die männliche Form stehen, es sei denn aus dem Kontext klar ist, dass es sich um Frauen handelt.)

In ihrem Essay »Die Krise der Sorge« gibt Nancy Fraser folgende Antwort: »… das ökonomische Subsystem des Kapitalismus hängt von ihm externen sozial-reproduktiven Aktivitäten ab, die eine seiner Hintergrundbedingungen der Möglichkeit bilden.« (23)

Dazu Marx im ersten Band des Kapitals: »Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.« (598f) Das scheint Fraser zu bestätigen.

Allerdings schreibt Marx auch: »Die Nachfrage nach Menschen regelt notwendig die Produktion der Menschen wie jeder anderen Ware. […] Und die Nachfrage, von der das Leben des Arbeiters abhängt, hängt von der Laune der Reichen und Kapitalisten ab.« (MEW 40, S. 471). Und: »Der Arbeiter ist gegenüber demjenigen, der ihn verwendet, nicht in der Lage eines freien Verkäufers … dem Kapitalisten steht es immer frei, die Arbeit zu verwenden, und der Arbeiter ist immer gezwungen, sie zu verkaufen. Der Wert der Arbeit ist völlig zerstört, wenn sie nicht in jedem Augenblick verkauft wird.« (S. 482)

Die Kapitalistenklasse ist natürlich abhängig von der Existenz einer ausbeutbaren Arbeiterklasse, die Quelle ihres Profits, aber zum Überleben ist Letztere noch abhängiger von Ersterer. Ein Kapitalist kann sogar Pleite gehen, er wird deswegen nicht verhungern. Ein Arbeiter aber schon.

Unbezahlte Hausarbeit

An sehr vielen Stellen dieser Essaysammlung zehn verschiedener Autorinnen und Autoren ist wie ganz selbstverständlich von »unbezahlter Hausarbeit« die Rede. So schreibt Nancy Fraser, die »kapitalistische Ökonomie verhält sich sozusagen als Trittbrettfahrerin, als Nutznießerin solcher Aktivitäten wie Verpflegung, Sorge und Interaktion. In kapitalistischen Gesellschaften findet ein Großteil dieser Aktivitäten außerhalb des Marktes statt – in Haushalten, Nachbarschaften, zivilgesellschaftlichen Initiativen, informellen Netzwerken, und öffentlichen Einrichtungen wie Schulen: Nur ein geringer Teil nimmt die Form von Lohnarbeit an.« Angesichts der Millionen Frauen (und Männer) die in Schulen, Altenheimen und Krankenhäusern für einen Lohn arbeiten, eine seltsame Feststellung.

In ihrem eigenen Essay »Wie die Klassenfrage nicht übersehen« schreibt Bhattacharya über die Familie: »Sie spielt eine zentrale Rolle […] in der Wiederherstellung des Arbeiters durch Nahrung, Obdach und psychische Pflege, damit dieser für einen weiteren Arbeitstag fit gemacht wird.« (73) Aber wer denn zahlt die Miete für Obdach, wer zahlt den Einkauf, und ist es ganz ausgeschlossen, dass der Mann seiner Partnerin psychischen Trost spendet?

Man könnte vielmehr argumentieren, dass der Mann in einem solchen Haushalt mit männlichem Hauptverdiener seine Partnerin und die Kinder unterhält und nicht umgekehrt. Der männliche Lohn in diesem »Idealbild« der Familie der 1950er Jahre »reproduziert« die Frau. Gerade diese finanzielle Abhängigkeit einer nicht oder erheblich weniger verdienenden Partnerin ist eine Hauptursache für die gesellschaftliche Schlechterstellung von Frauen im Vergleich zu Männern und daher wichtige Quelle für Sexismus.

Deswegen ist eine zentrale Forderung von Marxisten und Frauenrechtlern die nach gleichem Lohn, nach mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen, nach der Möglichkeit von einer Teilzeit- in eine Vollzeitstelle zu wechseln, nach mehr Kitas und billigem ÖPNV sowie bezahlbarem Wohnraum, damit die Frau finanziell auf eigenen Füßen stehen kann – auch nach einer Scheidung oder überhaupt ohne Partner oder Partnerin.

Bhattacharya zitiert zustimmend Lebowitz, wonach der Moment der Produktion der Arbeitskraft einen »zweiten Moment« der Produktion insgesamt darstellt. Dieser Moment ist »getrennt vom Prozess der Produktion von Kapital«, aber der Kapitalkreislauf »erfordert ganz zwingend einen zweiten Kreislauf, nämlich den Kreislauf der Lohnarbeit«. (76)

Um ihr Argument zu stützen, zitiert sie dann Marx’ Kapital selbst: »Der kapitalistische Produktionsprozess, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozess, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter.« (604)

Das ist ein Beispiel für eine ziemlich krasse Misinterpretation. Nochmals obiges Zitat, abgekürzt: »Der Kapitalistische Produktionsprozess … produziert den Lohnarbeiter.« Keine Rede von einem »zweiten Kreislauf« weder hier noch an anderer Stelle im Kapital. Solches »Abrutschen« charakterisiert alle zehn Essays.

Seltsamerweise stellt eins der Essays – jenes unter dem Titel »Ohne Reserven« von Salar Mohandesi und Emma Teitelman – eine historisch sehr konkrete Beweisführung gegen die SRT dar, auch wenn beide Autorinnen von sich behaupten, die SRT anzuwenden.

Sie bringen viele ganz interessante Beispiele, wie der amerikanische Kapitalismus, genauer gesagt die amerikanischen Behörden, durch Gesetzgebungen jede Möglichkeit eines »zweiten Kreislaufs« systematisch bekämpften.

So führte die Stadt New York Ende des 19. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen erbitterten Kampf gegen die Haltung von Schweinen, die den großen Vorteil besitzen, alles zu essen und nur wenig Platz in Anspruch zu nehmen. Schweine waren aber für die Arbeiterklasse eine wichtige Nahrungsquelle.

Sie führen auch ein weiteres Beispiel an, nämlich den hartnäckigen Kampf einschließlich Pachtstreiks der Landbevölkerung im Nordosten des Landes, um den Erhalt ihrer Subsistenzwirtschaft Mitte des 19. Jahrhunderts.

Bezogen auf die Südstaaten schreiben sie: »Bis Ende des Jahrhunderts war die Mehrheit der weißen und schwarzen Südstaatler landlos und für ihre Subsistenz von kapitalistischen Verhältnissen abhängig.« (41)

Ein Angriff auf Marx

Viele der Essays greifen Marx direkt an. So spricht Bhattacharya in ihrer Einleitung von der Reproduktion als »schwachem Glied« des Kapitalismus, das Marx »untertheoretisiert« habe. (10)

Die Unterüberschrift des Sammelbands, »Die Klasse neu zuordnen, Unterdrückung neu zentrieren«, fasst ihre Kritik am vermeintlichen Marxismus zusammen: Dass er lediglich die Sphäre des Betriebs im Auge habe und kein Verständnis für die mannigfaltigen Formen der Unterdrückung und Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse insgesamt habe. Das ist aber eine Karikatur des Marxismus.

Im Essay über »Körperpolitik« schlägt Alan Sears streckenweise sehr düstere Töne an. So spricht er von einer »Vergewaltigungskultur« (187), die auch vor linken Aktivistenkreisen nicht Halt mache: »Orte des Aktivismus, die sich nicht um bewussten anti-Vergewaltigungsaktivismus strukturieren, werden wahrscheinlich sowohl eine fröhliche und forschende Öffnung dem Erotischen gegenüber als auch eine an heteronormativen Muster der sexuellen Übergriffe gebundene aggressive Maskulinität zu Tage fördern, die von manchen alltäglichen hemmenden Restriktionen befreit ist. Das ist eine toxische Kombination, wenn die Vergewaltigungskultur nicht bewusst durchkreuzt wird.« (191)

Die Autoren und Autorinnen betonen allesamt richtigerweise die Notwendigkeit, Kämpfe zusammenzuführen. Im letzten Essay über den in mehreren Ländern am 8. März 2017 organisierten Frauenstreik schreibt Cinzia Arruzza: »Der Klassenkampf sollte jedoch nicht auf betriebliche Arbeitskämpfe reduziert werden: Er kann viele Gestalten annehmen.« (194) Das sollten wir alle unterschreiben.

Sie fügt aber dann hinzu: »Während nicht alle Organisatorinnen und Teilnehmerinnen am Frauenstreik sich theoretisch dem Feminismus der sozialen Reproduktion verschrieben haben, kann der Frauenstreik legitimer Weise als politische Übersetzung der Theorie der sozialen Reproduktion betrachtet werden.«

Das würde heißen, dass ohne SRT ein effektiver Kampf gegen Frauenunterdrückung nicht organisiert werden kann. Gegen diese These spricht die reichhaltige Tradition von Frauenkämpfen in und außerhalb von Betrieben, die als eins ihrer Erfolgsrezepte die breite Beteiligung von Männern vorweisen, die zu ihrem Richtschnur schlicht breite menschliche Solidarität machten. Revolutionäre Marxistinnen und Marxisten (und vor ihnen auch viele der utopischen Sozialisten und noch früher manche revolutionäre religiöse Sekten) stehen in dieser Tradition.

Der Artikel wurde vom Frankfurter Aktivisten David Peanson geschrieben.

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