Drei Tage nach dem Mord an George Floyd, also am 30. Mai 2020, erschoss ein israelischer Grenzpolizist in der Altstadt von Jerusalem Eyad al-Hallaq, einen 32-jährigen unbewaffneten Palästinenser, der an Autismus litt. In der deutschen Presse war davon nur wenig die Rede. Im Folgenden skizziere ich zuerst den Hergang der Untat und sage dann ein Wort zu ihrer politischen Einordnung.
Eyad al-Hallaq war das jüngste von drei Kindern einer palästinensischen Familie, die gut einen Kilometer entfernt vom Ort des Verbrechens in dem Viertel Wadi Dschos wohnt. Seine Eltern bemerkten seine Eigenart schon im frühkindlichen Alter und umsorgten ihn mit aller Liebe und Aufmerksamkeit. Sie schickten ihn in eine Privatschule, aber er konnte dem Unterricht dort nicht folgen. Erst als er 26 Jahre alt war, erfuhren seine Eltern, dass es eine Schule für Menschen mit Behinderung gibt, Elwyn al-Quds in der Nähe des Tempelberges. Diese Schule besuchte Eyad sechs Jahre lang und lernte Kochen, um Hilfskoch zu werden. Er hatte bereits gute Fortschritte gemacht: In der vorangehenden Woche hatte er zum ersten Mal einen gemischten Salat für seine Familie zubereitet. Im Übrigen war er sehr scheu, sprach nicht mit Unbekannten, sondern nur mit seinen Familienangehörigen und Freunden sowie mit den Betreuern seiner Schule.
Eyad ging jeden Morgen in die Schule für Menschen mit Behinderung und fürchtete die vielen bewaffneten Polizisten, die an seinem Weg standen. Am Anfang begleitete ihn seine Lehrerin einen Monat lang, um ihm den Weg zu zeigen und ihm die Angst vor den Polizisten zu nehmen. Wie vorgeschrieben, erklärte sie auch den Polizisten der Wache beim Löwentor, dass er beeinträchtigt war und jeden Tag zur dortigen Schule ging.
Als am Samstag, den 30. Mai, die Schulen zum ersten Mal nach der Schließung wegen Covid-19 wieder geöffnet wurden, bat Eyads Mutter Rana ihren Sohn, zu Hause zu bleiben; sie hatte im Fernsehen den Mord an George Floyd gesehen. Eyad bestand aber darauf, in die Schule zu gehen. Schließlich ging er sehr gern zum Unterricht und zur Therapie. Mit zwei Bescheinigungen seiner Behinderung in der Tasche legte er seinen Schulweg wie immer nach sechs Uhr morgens zurück. Etwa zur selben Zeit kam seine Betreuerin Warda Abu Hadid aus einem anderen Stadtteil, um Eyad in der Schule zu treffen. Als sie am Polizeiposten beim Löwentor vorbeigegangen war, hörte sie die Rufe „Ein Terrorist“, „Ein Terrorist“ und drei Schüsse hinter sich. Sie floh in einen nahegelegenen Abstellraum für Müllcontainer am Anfang der Via Dolorosa und suchte Deckung hinter einer eisernen Wand des Containers, in dem ein Müllwerker seine Teepause machte. Da kam Eyad in panischer Angst in den Abstellraum gerannt und fiel zu Boden. Sie bemerkte, dass er aus einer Wunde am Bein blutete. Dann stürmten drei Grenzpolizisten in den Raum und schrien: „Wo ist das Gewehr?“ „Wo ist das Gewehr?“ Die Betreuerin schrie auf Hebräisch: „Er ist behindert.“ „Er ist behindert.“ Und Eyad rief auf Arabisch: „Ich bin bei ihr.“ und suchte bei ihr Schutz. Die Betreuerin versuchte zu erklären, dass Eyad keinerlei Gewehr hatte. Nach drei bis fünf Minuten richtete einer der Polizisten vor der Betreuerin und dem Müllwerker sein Gewehr auf Eyad und erschoss ihn aus nächster Nähe mit drei Kugeln in die Brust.
Plötzlich waren ganz viele Grenzpolizisten da. Ein Offizier richtete seine Waffe auf den Kopf der Betreuerin Warda und befahl ihr, eine Leibesvisitation über sich ergehen zu lassen. Sie wurde zum Polizeiposten beim Löwentor mitgenommen, auf der Suche nach der nicht vorhandenen Feuerwaffe bis fast auf die Haut entblößt und dann drei Stunden lang verhört, danach noch einmal drei Stunden in dem Raum Nr. 4 der Polizeistation im „russischen Viertel“; die israelischen Polizisten haben ihn nach eigenen Aussagen so genannt, weil die von ihnen Verdächtigten den Raum auf allen Vieren verlassen.
Eyads Eltern wurden von der Schule für Menschen mit Behinderung mit der Nachricht angerufen, ihr Sohn sei ins Bein geschossen worden. Der Vater Khairy sagte später, er habe da schon ein schlimmes Gefühl gehabt, weil er wusste, dass die israelische Polizei nicht schieße, um zu verletzen, sondern um zu töten. Als die Eltern zur Schule kamen, versperrte ihnen eine große Gruppe von Grenzpolizisten den Weg und forderte sie auf, nach Hause zurückzukehren. Erst als die Polizisten danach eine kurze Hausdurchsuchung bei ihnen durchführten, teilten sie ihnen den Tod ihres Sohnes mit folgenden Worten mit: „Wann soll das Begräbnis stattfinden?“
Bei der Hausdurchsuchung packte eine von Eyads beiden Schwestern einen der Polizeioffiziere am Arm. Seine Reaktion war: „Wenn du ein Mann wärest, hätte ich dich schon zusammengeschlagen.“
Der Umgang der Polizei mit der Betreuerin und der trauernden Familie lässt die Verhältnisse erahnen, in denen der Mord an Eyad al-Hallaq möglich wurde. Es ist die Herrschaft, die der israelische Staat über die Palästinenser in Jerusalem und im Westjordanland ausübt. Eine Herrschaft nicht über Bürger, die legale und politische Rechte haben, sondern über Untertanen. Die Untertanen gelten pauschal als gefährlich, deshalb hat die Polizei sie nicht zu schützen, sondern zu kontrollieren. Als müssten sie ihre Rolle rechtfertigen, projizieren Polizisten mitunter aggressive Absichten auf Palästinenser. In solchen Fällen und wenn es sonst auch nur den Anschein hat, als bedrohten die Untertanen die Ordnung, die ihnen der Staat Israel auferlegt, dann haben Militär und Polizei einzuschreiten. Wie die Erfahrung zeigt, oft mit dem endgültigen, todsicheren Mittel.
Von Wilfried Kühn.
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