In Gewalt versunken – die selbstgemachten Probleme der Türkei

Nach 15 tödlichen Anschlägen in nur 12 Monaten befindet sich die Türkei in einer Gewaltspirale: Istanbul, Ankara, Suruç, dazu die kriegerischen Auseinandersetzungen im kurdischen Südosten. Seit Sommer 2015 erlebt die Türkei eine beispiellose Welle an Gewalt und Terror, die Todesopfer gehen in die Hunderte, allein der letzte Terroranschlag am Istanbuler Atatürk-Flughafen kostete 45 Menschen das Leben. Die Konflikte gegen vermeintliche Staatsfeinde, an denen die AKP-Regierung im In- und Ausland beteiligt ist, schlagen jetzt immer stärker zurück. Die Strategien, sunnitisch-islamistische Gruppierungen zu stärken, kommen Ankara teuer zu stehen. Sogar für Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nimmt der Druck zu. 

Terror in der Türkei, das ist für viele Türk*Innen und Tourist*Innen aus aller Welt trauriger Alltag. Istanbul – die Millionenstadt am Bosporus – zählt mit dem Terrorakt am Internationalen Flughafen Atatürk den vierten großen Anschlag, der wieder die Zivilbevölkerung trifft. Auch dieses Mal vermuten türkische wie auch internationale Sicherheitsdienste den Islamischen Staat (IS) dahinter, drei der Attentäter sollen nach Angaben der türkischen Regierung Anhänger des IS gewesen sein und aus der russischen Teilrepublik Dagestan sowie Kirgisistan und Usbekistan stammen. Neben den ohnehin seit Jahrzehnten als Staatsfeinde geltenden militanten Kurdenorganisationen der Arbeiterpartei PKK stellt der in den Nachbarländern Irak und Syrien aktive IS immer mehr eine Bedrohung für den türkischen Staat dar. Wie im Januar dieses Jahres, als am hochfrequentierten Sultan-Ahmed-Platz im Zentrum Istanbuls 12 Touristen getötet wurden, traf es auch am Atatürk-Flughafen nun einen Ort, der als Tor zur Welt gilt.

Gerade die Anschläge, die durch PKK-nahe Terrororganisationen durchgeführt wurden, waren Wasser auf die Mühlen derer, die von der AKP-Regierung ein noch härteres Durchgreifen gegen kurdische Kämpfer fordern. Die Lage in den Kurdengebieten ist desaströs, hunderte von Zivilisten haben einen von ihnen nicht gewollten Krieg mit dem Leben bezahlt, ganze Dörfer wurden ausgelöscht. Das türkische Militär geht mit äußerste Härte gegen jeglichen kurdischen Widerstand vor, angeheizt durch die extrem kurdenfeindliche Stimmung im Land, die in der Aufhebung der Immunität von hauptsächlich der HDP-angehörenden Abgeordneten einen erneuten Tiefpunkt fand. Kurd*Innen wurden vom Staatspräsidenten Erdoğan als Menschen mit „verdorbenen Blut“ (Erdoğan) bezeichnet, deren Gebiete – nach Meinung des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu – bis auf den letzten Rest „gereinigt werden müssen“. Der gegenseitige Hass schlägt sich dann in Terroranschlägen wider, so auch als die kurdischen Freiheitsfalken in der Istanbuler Innenstadt elf Menschen töteten. Die Gewalt in der Türkei nimmt kein Ende, um sie wirksam zu bekämpfen, müsste die Regierung einen erheblichen Kurswechsel vollziehen: Friedensgespräche mit Kurden und ein Stopp der Kooperation mit Islamisten.

Schmutzige Strategien

Es klingt absurd, aber für manche Staatenlenker kommen Anschläge und innere Unruhen nicht so ungelegen, wie allgemein vermutet. In Zeiten von Terror und Bedrohung rücken die Menschen zusammen, sie erwarten eine harte Gangart denen gegenüber, die ihnen Schaden zufügen wollen. Als Konsequenz werden Gesetze verschärft, Sicherheitskräfte in Polizei und Geheimdienst gestärkt und medial aufgerüstet. So auch in der Türkei: die demokratisch legitimierte Linkspartei mit kurdischen Wurzeln HDP wurde erst kürzlich im Parlament ausgeschlossen, gegen Parteimitglieder laufen noch immer Gerichtsverfahren wegen Unterstützung von terroristischen Vereinigungen. Die AKP hat dabei auch die Justiz auf Linie gebracht, sodass Linke und Kurd*Innen von nun an nicht nur aus dem politischen Gestaltungsprozess verbannt wurden, auch der Rechtsstaat bietet keinen legalen Schutz mehr. Viele im Land haben dies angesichts der Gewalteskalation begrüßt, die Regierungspartei unter dem jetzigen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım kam gestärkt aus dem Konflikt hervor.

Neben den im Inland veranlassten politischen Maßnahmen, die eine harte Hand gegen Minderheiten rechtfertigen und legitimieren sollen, hat Ankara auch im Ausland eine bemerkenswerte Politik vertreten. Einige der zuvor als engen Verbündeten gesehenen Nachbarländer sind in den vergangenen Jahren vermehrt zu Rivalen oder gar Feinden geworden. Mit den Kurden kam der unter Ministerpräsident Erdoğan geführte Friedensprozess 2013 endgültig zum Erliegen. Seit mittlerweile 100 Jahren ist das Verhältnis zum Nachbarn Armenien mehr als angespannt, durch die Anerkennung des vom Osmanischen Reiches initiierten Völkermords an den Armenier*Innen hat sich dies noch verschärft. Die von Krieg und Terror zerstörten Irak und Syrien sind Schlachtfelder, auf denen auch die Türkei ihren Beitrag zur Destabilisierung in der Region beiträgt. Mit traditionell strategisch verbundenen Ländern wie Israel, Russland, oder Iran ist sie zumindest wieder um Versöhnung bemüht. Auch mit Europa und der EU im Speziellen gestalteten sich die Beziehungen zuletzt äußerst schwierig.

Unter Präsident Erdoğan, der auch in Zukunft noch mehr Macht in seinem Amt konzentrieren möchte, entschied sich die Türkei für einen Konfrontationskurs, der am ehesten im Lichte einer größenwahnsinnigen Regionalmacht erklärt werden könnte. Israel ist durch den fortwährenden Konflikt mit der arabischen Welt geschwächt, Ägypten nach dem Arabischen Frühling nicht nur wirtschaftlich am Boden, Irak und Syrien als Staatsgebilde zerfallen und gescheitert, und der Iran versucht aus dem Schatten der Isolation und Sanktionen zu treten. Gleichzeitig verbuchte die Türkei in den letzten zehn Jahren einen spürbaren Aufschwung, der die Geltungssucht der Regierenden zu unklugen Entscheidungen trieb. Diese führten die Türkei in eine internationale, außenpolitische Absonderung, die in einigen Fällen sogar ernsthafte diplomatische Krisen ausgelöst hat, siehe das vom Himmel geschossene russische Flugzeug im Jahr 2015. Letzte Woche erst bat Präsident Erdoğan die Familie des getöteten russischen Piloten um Entschuldigung, zwischen Moskau und Ankara soll von nun an nicht nur Gas fließen, auch Touristen und eine homogenisierte Außenpolitik soll die beiden Lager wieder näher zu einander bringen. Ähnliches wurde jetzt auch im bilateralen Verhältnis zu Israel veranlasst. Eine Kehrtwende Erdoğans?

Der Preis verfehlter Politik

Nach Jahren konfrontativer Politik im Innern und im Äußeren schlägt einiges wieder zurück und könnte für die zuletzt so zementiert erscheinende Machtbasis der AKP doch gefährlich werden. Nach dem vierten Anschlag auf das internationale Aushängeschild der Türkei, die Stadt Istanbul, die jährlich Millionen von Touristen anlockt und als weltoffen gilt, steigt der innenpolitische Druck auf die Regierung. Symbolträchtige Orte, wie der Atatürk-Flughafen, der Sultan-Ahmed-Platz, oder die Einkaufsstraße Istiklal Caddesi, wurden von Terroristen gezielt ausgewählt, um den Preis der türkischen Anti-Terrorpolitik weiter in die Höhe zu treiben. Speziell wenn Touristen bei Terrorattacken betroffen sind, bedeutet das auch für die türkische Regierung ein Imageverlust, immerhin zeigt es, dass man die Sicherheit von Zivilisten nicht gewährleisten kann. Während kurdische Gruppierungen zumeist staatliche Ziele wie Polizei- oder Militäranlagen zu treffen versuchen, zielen die islamistisch-motivierten Anschläge auch bewusst auf zivile Opfer. Eines kann sich keine Regierung leisten, das ist eine kollektive Verunsicherung in der Gesellschaft und die fürchtet die AKP, nicht um sonst geht man so rigoros gegen Kritiker im Land vor.

Es ist weithin bekannt, dass die Türkei auch im Krieg in Syrien mitmischt. Sie hat sich letztes Jahr der Anti-IS-Koalition angeschlossen, der auch viele westliche Staaten angehören. Dennoch versuchte man seit 2011, damals noch dem Ministerpräsidenten Erdoğan, den Sturz des syrischen Machthabers Bashar al-Assad herbeizuführen. Dabei wurden oppositionelle Gruppen unterstützt, nicht nur finanziell, sondern auch militärisch, und unter diesen waren auch dem IS-nahestehende. Nicht nur der Fall, in dem an der türkisch-syrischen Grenze größere Waffenlieferungen an sunnitisch-islamistische Milizen gestoppt wurden. In de Folge dessen wurden zwei prominente Journalisten der regierungskritischen Cumhuriyet festgenommen und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Zu delikat waren die Veröffentlichungen über eine mögliche türkische Beteiligung bei der Aufrüstung jihadistischer Gruppierungen. Auch konnten IS-Terroristen bislang relativ unbehelligt in und aus der Türkei reisen, um die für die Terrororganisation so wichtigen Verbindungswege zwischen Europa und den Kriegsgebieten im Nahen Osten offen zu halten. Dort hat die türkische Regierung, zusammen mit dem Militär und dem Geheimdiensten wertvolle Unterstützung geleistet.

Die internationale Isolation brachte Ankara so immer mehr in Bedrängnis, dazu die teils selbst vorangetriebene Hilfe für einer radikal-sunnitischen Ideologie zugehörigen terroristischen Vereinigungen, sodass auch Präsident Erdoğan jetzt gefordert ist. Es scheint, dass die Geister, die man rief, kaum loszuwerden sind. Ankaras teils politisch radikalisierten Interessen im In- und Ausland, werden heute immer mehr zur ernsten Bedrohung. Die Reihe von Anschlägen, die die Türkei in den vergangenen 12 Monaten erschüttert haben, sind ein trauriger Beweis. Offensichtlich ist Ankara um eine dezente Kursänderung bemüht, denn die Strategie könnten ihnen im Inland Machtverluste einbringen. Möglicherweise werden islamistische Splittergruppen mehr türkische Gegenmaßnahmen erfahren, damit den Verantwortlichen die Sicherheitslage nicht völlig aus den Händen gleitet. Im Falle des PKK-Terrors hätte Ankara durchaus Möglichkeiten diesen einzudämmen, indem man den Friedensprozess und die Versöhnung mit den Kurd*Innen aufnimmt, und so eine Quelle der terroristischen Gewalt konstruktiv angeht. Wie man dem IS-Terrorismus begegnen will, wird sich zeigen. Nach außen hin verspricht der Staatspräsident den Kampf bis zum Ende durchzuführen, ihm wird aber bewusst sein, dass sein Anteil an der schwierigen Situation nicht unbedeutend ist.

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