Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Bubo, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

In der Zeitenwende kommt auch das Streikrecht unter Druck

Der Streik der Kita-Beschäftigten in Berlin für eine bessere Personalbemessung ist wohl vorerst abgesagt. Der Grund: Nicht nur das Arbeitsgericht Berlin, auch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg urteilten, der Streik sei unzulässig. Die Entscheidung sollte nicht isoliert, sondern im Kontext einer Reihe besorgniserregender politischer Entwicklungen betrachtet werden, die im Zusammenhang mit der Zeitenwende stehen. Dabei gilt: „Ewige Wahrheiten“ gibt es nicht mehr. Vielmehr ist seit einiger Zeit ein autoritärer Trend zu beobachten, im Zuge dessen selbst das Streikrecht unter die Räder geraten könnte.

Was ist passiert? Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hatte vor einigen Tagen im Eilverfahren die Berufung der Gewerkschaft ver.di zurückgewiesen und damit die Entscheidung des Arbeitsgerichtes Berlin über die Untersagung des angekündigten unbefristeten Streiks in den Kitas des Landes Berlin bestätigt. Ziel des Streiks war die Erzwingung von Tarifverhandlungen über eine Mindestpersonalbemessung. 

Das Landesarbeitsgericht führt in seiner Begründung gleich zwei Argumente für die Abschmetterung der Berufung an. Es verweist einerseits auf die Friedenspflicht. Diese gelte für die Dauer des Tarifvertrages und schlösse Streiks aus. Das Gericht argumentiert, dass die aktuellen Streikforderungen bereits im Regelungspaket des geltenden Tarifvertrages vereinbart seien – wenn auch nicht zu abschließenden Zufriedenheit von ver.di. Ein Erzwingungsstreik für eine Mindestpersonalbemessung verstoße demnach gegen die Friedenspflicht und sei nicht zulässig.

Ausserdem verweist das Gericht auf die Mitgliedschaft des Landes Berlin in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL). Als Mitglied im Arbeitgeberverband sei es an den Tarifvertrag gebunden, der zwischen der TdL und ver.di ausgehandelt wurde. Nach TdL-Satzung seien die Länder nicht befugt, Tarifverträge zu verhandeln, die von den Regelungen des TV-L abweichen. Die TdL drohe in einem solchen Falle sogar mit Ausschluss aus dem Arbeitgeberverband.

Für den Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler wirft bereits das Urteil des Arbeitsgerichtes Berlin die Frage auf, auf wessen Seite sich das Gericht mit dieser Entscheidung stellt. Denn normalerweise formulieren Gerichte bei einer einstweiligen Verfügung keine langen Begründungen. „Wenn sie einmal festgestellt haben, die Friedenspflicht ist verletzt, dann bleibt es dabei und die anderen Fragen bleiben dahingestellt. Dass es im vorliegenden Fall anders lief, ist ein Indiz dafür, dass das Gericht selber nicht sicher war, dass eine Verletzung der Friedenspflicht vorliegt.“

Däubler nimmt mit diesem Verweis die Begründung zwei in den Blick, diejenige, wonach separate Vereinbarungen gegen die Satzung des Arbeitgeberverbandes verstoßen würden. Er verweist völlig zurecht darauf, dass es in der Regel nicht die Arbeitgeber, sondern die Beschäftigten sind, die Sorge vor einem Ausscheiden aus der Tarifbindung und der Abweichung von tariflichen Regelungen nach unten haben. So gehörte das Land Berlin von 1994 bis 2013 nicht der TdL an und hatte in dieser Zeit auch kein Problem mit Tarifflucht.

Bis dato war die Rechtssprechung in dieser Frage auch sehr klar: Für Arbeitgeberverbände in der Privatwirtschaft hatten Gerichte einen drohenden Ausschluss aus einem Arbeitgeberverband nicht als Grund gewertet, um die Rechtmässigkeit eines Streiks infrage zu stellen. Alles andere wäre auch völlig absurd, denn Arbeitgeberverbände hätten in diesem Falle die Möglichkeit, durch die Ausgestaltung ihrer Satzung einen Firmentarifvertrag unmöglich zu machen. „Die TdL kann tarifrechtlich nicht die Fähigkeit des einzelnen Mitgliedes, eigene Tarife für bisher ungeregelte Bereiche auszuhandeln, einschränken. Mit Blick auf dieses Argument ist das Urteil ein grober Verstoß gegen das, was das Bundesarbeitsgericht zur selben Frage entschieden hat,“ argumentiert Däubler.

Nicht uninteressant ist also die Frage, was hinter dieser Entscheidung steckt. Zumal das Urteil kein Einzelfall ist. So hatte erst vor wenigen Tagen das Arbeitsgericht Erfurt den Streik der Beschäftigten zur Durchsetzung eines eigenen Tarifvertrages am Klinikum Weimar untersagt. Auch wenn man sicherlich abwarten muss, ob sich dieser Trend verstetigt, können die Entscheidungen um das Streikrecht durchaus als Folge des neuen Zeitenwende-Diskurses eingeordnet werden. 

Dafür spricht zunächst, dass das Streikrecht auch in anderen europäischen Ländern unter Druck gerät. So beschloss die britische Regierung im Sommer 2023 für den öffentlichen Dienst den „Strikes Act“: Beschäftigte können demnach an Streiktagen zur Arbeit verpflichtet werden. Wer sich weigert, verliert seinen Kündigungsschutz. Auch die spanische Regierung kann bei Streiks eine Mindestversorgung anordnen. Und in Italien schränkte die Regierung im November 2023 Streiks gegen das Haushaltsgesetz per Anordnung ein und unterband sie dadurch.

In der Bundesrepublik hat die Einbindung der Arbeiterbewegung in Regierungshandeln durch die „Sozialpartnerschaft“ eine starke Tradition. Und auch jetzt setzt die Bundesregierung alles daran, dass sich die Gewerkschaften dem außenpolitischen Kurs unterordnen. Die Debatte um das Streikrecht wird daher subtiler geführt als in anderen europäischen Ländern, aber sie wird geführt. Ein erster Versuch dürfte die „Konzertierte Aktion“ gewesen sein. Sie sollte Streiks auf der Grundlage einer gemeinsamen Vereinbarung verhindern. Funktioniert hat das nicht. Im Gegenteil: Denken wir nur an den „Mega-Streik“ von ver.di und EVG oder aber auch an den Klimastreik.

Nicht ganz zufällig also dürfte die Einmischung von Regierungsvertretern – immer mit der gebotenen Vorsicht versteht sich – in die Tarifauseinandersetzung gewesen sein. So vernahm man in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes aus dem Verteidigungsministerium, dass ein guter Abschluss die Ausstattung der Bundeswehr gefährden würde. Und beim Bahnstreik mahnte Bundesverteidigungsminister Volker Wissing von der FDP, vor dem Hintergrund des Krieges in Europa dürften Streiks nicht zum Sicherheitsrisiko werden.

Dass die Bundestagsfraktion der FDP kurz vor der Sommerpause ein Positionspapier zur Einschränkung des Streikrechts in der kritischen Infrastruktur vorlegte, ist daher auch mehr als eine der üblichen arbeitnehmerfeindlichen Verrücktheiten der Liberalen. Zumal die Absage an Streiks auch längst nicht mehr nur das Geschäft der FDP ist. Der Berliner Abgeordnete im Abgeordnetenhaus Alexander Freier-Winterwerb, der vor wenigen Wochen ver.di und die GEW aufforderte, die Kitastreiks zu beenden, kommt genauso wie Pistorius aus der SPD. Die beiden werden nicht die letzten gewesen sein. Es ist vielmehr zu befürchten, dass die wachsende Bereitschaft der Bundesregierung zum Krieg zwangsläufig auch in Deutschland eine Debatte über die Einschränkung des Streikrechtes nach sich ziehen wird.

Das ist auch deshalb zu erwarten, weil die Zeitenwende die Verteilungskämpfe anschürt und je stärker sich diese zuspitzen, desto autoritärer dürften die Reaktionen darauf sein. Nicht uninteressant ist in diesem Fall, dass bei der juristischen Abwägung des Arbeitsgerichtes Berlin auch das Argument eine Rolle gespielt haben soll, dass dem Land Berlin durch die Warnstreiks ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden entstanden sei, weil bereits über 700 Kinder von den Eltern streikbedingt aus der Betreuung in Kita-Eigenbetrieben abgemeldet wurden. 

Ein entlarvendes Argument vor dem Hintergrund der Frage, an wessen Seite das Arbeitsgericht Berlin sich sieht.  „Wenn der Arbeitgeber gegebenenfalls Kunden verliert, weil ein Streik stattfindet, ist das nicht nur eine normale Begleiterscheinung eines Streiks. Es ist vielmehr ein Element dafür, dass der Streik eben gewissen Druck ausübt,“ merkt Däubler zu diesen Überlegungen an. „Es ist Sache des Arbeitgebers, den Streik irgendwann zu beenden und zu sagen: Es ist besser, ich mache einen Kompromiss mit der Gewerkschaft, als dass ich immer mehr Kunden verliere.“

Wenn die Bundesregierung in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie schreibt, dass die Finanzierung der Zeitenwende zulasten des Sozialstaates gehen muss, dann wird das die aktuellen Verteilungskämpfe weiter zuspitzen. Ob diese Entwicklung durch die Rechtssprechung flankiert wird, bleibt abzuwarten. Dass sich aber eine gesellschaftliche Atmosphäre, die von Sozialabbau und Verzicht geprägt ist, negativ auf das Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit auswirken wird, dürfte klar sein. Denn in einer solchen Atmosphäre werden es nicht die Forderungen der Gewerkschaften sein, die Auftrieb bekommen, sondern die der Arbeitgeber. 

Und gleichzeitig schafft die Verengung des Meinungskorridors, die Abqualifizierung von Kritik als „putinnah“ oder „antisemitisch“, die Verunglimpfung von Greta Thunberg als „gewaltbereit“ oder die Disziplinierung von Hochschullehrern durch das Bundesbildungsministerium mittels politischer Listen einen Rahmen, innerhalb dessen auch Gerichte ihre Entscheidungen treffen. Die Berliner Arbeitsgerichtsurteile könnten bereits heute schon einen Hinweis darauf geben, dass juristische Entscheidungen innerhalb dieser Rahmenbedingungen nicht zwangsläufig im Interesse der abhängig Beschäftigten gefällt werden dürften.

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